Gertraud Widmann

Das Fräulein Rosa

Sie ist mittlerweile fast fünfzig Jahre alt, sitzt in ihrer Küche,
den Kopf in die Hände gestützt und sinniert. Vor ihr, über der
Lehne des alten Küchenstuhls, hängt ihr Werktagsg`wand
und ganz obenauf liegt ihr lilafarbener BH. Als sie den  so vor
sich sieht, denkt sie daran was so alles geschehen ist, bis sie
ihren ersten Büstenhalter bekommen hatte ...


Sie wurde in einem Dorf in Niederbayern, wo ihre Eltern als

sogenannte "Kleinhäusler" einen Bauernhof bewirtschafteten,
als fünftes von insgesamt zehn Kindern geboren.
Recht armselig ist sie aufgewachsen und musste bereits in
frühester Kindheit Stall- und Feldarbeit verrichten. Sie dachte
an die schlimme Zeit, als ihr die große Schwester das Leben
zur Hölle machte, sie beim Vater anschwärzte und dieser sie
dann auf einem Holzscheit knien ließ.
   Aber wenigstens durfte sie die Volksschule besuchen und
ein- zweimal die  Woche in die Kapelle zum Rosenkranzbeten
gehen. Das war`s aber dann auch schon. Obwohl einmal, so
erinnert sie sich, durfte sie eine Theateraufführung besuchen.
Allerdings musste sie, damit man den kleinen Gemeindesaal
beheizen konnte,  zu den fünf Pfennigen Eintrittsgeld,  noch
ein großes  Holzscheit mitbringen!
   Als sie vierzehn Jahre alt geworden war, „verschacherte"
sie ihr Vater als Dienstmagd an den ortsansässigen Metzger.
Denn zum einen würde sie mit ein paar Mark die Familie
unterstützen können und zum anderen wäre dann daheim ein
Esser weniger!

In dieser Metzgerei hatte sie von Anfang an Schwerstarbeit zu
leisten: musste eimerweise Schlachtabfälle entsorgen, riesige
Futtertröge aus Holz  schrubben, das Schlachthaus und den
Laden putzen und, und, und. Doch als sie eines Tages diesem
ehrenwerten Herrn Metzgermeister auch noch auf andere Art
und Weise
„zu Diensten“ sein sollte, lief sie fort …
    Ihre Eltern interessierte dieser Vorfall aber überhaupt nicht,
sondern ihr Vater brachte sie kurz darauf zu einem Witwer mit
zwei kleinen Buben und zwei großen Jagdhunden.
Dort war sie Dienstmädchen, Putzfrau und Kindermädchen in
einem und nebenbei auch noch für die Hunde zuständig. Die
Arbeitszeit war lang, sehr lang sogar und der Lohn gering.
Aber wenigstens gab es  eine Köchin und ihr Dienstherr war
ein umgänglicher Mensch.
   Doch mit einundzwanzig Jahren, da wollte sie endlich weg
aus ihrer Heimat - hinaus in die große, weite Welt. Und sie
entschloss sich dem „Herrn Otto“ -  in den sie sich verliebt
hatte und dessen Eltern ein Dienstmädchen suchten - zu
folgen. Sie packte ihre Sachen, verabschiedete sich von den
Eltern und Geschwistern und fuhr nach BERLIN ….

Herrn Ottos Eltern waren aber nicht so „Hochherrschaftlich"
wie er immer erzählt hatte und seine Mutter war eine eiskalte,
herzlose Frau. Fräulein Rosa musste in einer Kammer, besser
gesagt in einem „Verschlag“ unterhalb der Treppe, hausen
und durfte diesen nur verlassen, wenn gerade keine Gäste im
Haus waren! Zu arbeiten gab`s viel, zu essen wenig und Lohn
nur auf Nachfrage.
    Ein halbes Jahr hielt sie alle Demütigungen aus. Als sich
aber „Herr Otto“ auch noch eine neue Freundin zulegte, hatte
sie in dem Haus nix mehr verloren - Fräulein Rosa ging.

Bei ihrer nächsten "Herrschaft", einem älteren, freundlichen
Ehepaar, da fühlte sie sich gleich wohl. Gut, zuerst musste
sie dort die hochdeutsche Sprache ordentlich erlernen, dann
bekam sie vornehme Umgangsformen beigebracht und wies
sie in die „preußische“ Kochkunst ein. Außerdem gehörte es
bald zu den Aufgaben der „Perle Rosa“ -  die sich inzwischen
von einer „Landpomeranze“ zu einer feschen jungen Frau
entwickelt hatte - mit der silbergraue Dogge Gassi zu gehen.
Bald schon waren  Fräulein Rosa und die riesige Dogge in
ganz Berlin-Steglitz bekannt - hinterher schon gleich gar!
Denn als sie nämlich eines Tages mit dem Hund ihre Runde
drehte, sprang plötzlich ein kleiner Pinscher kläffend auf
zu. Die Dogge ging daraufhin gaaanz langsam rückwärts ....
und  drückte mit dem Hinterteil die Schaufensterscheibe
einer Konditorei ein. Es klirrte, die Torten rutschten auf den
Gehweg - kurz darauf war auch schon die Polizei da..
Bis Fräulein Rosa mit Hund (und Anzeige!) schließlich nach
Hause kam, wusste die „Gnädigen“ schon Bescheid ...
   Übrigens, diese „Gnädige“ war es auch, die sich um das
äußere Erscheinungsbild von Rosa kümmerte und deshalb
schenkte sie ihr eines Tages einen tollen Büstenhalter!
   Ein paar Tage später folgender Dischkurs:
   »Rosa, tragen sie eigentlich den BH, den ich ihnen
geschenkt habe, überhaupt nicht? «.
   »Doch gnädige Frau, wenn sie mal schauen wollen ...«
   »Aber Fräulein Rosa, den trägt man doch nicht über dem
wollenen Unterhemd, sondern DARUNTER! «

Als diese Herrschaften1937 schließlich nach Schweden
auswanderten, fuhr Fräulein Rosa - M E I N E M U T T E R -
zurück nach Bayern.

 

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