Christiane Mielck-Retzdorff

Zeitlos

 

 

An einem Spätsommertag begegnete Maria der Zeit, die in schier endloser Hitze zerflossen und in der Hoffnung die durstige Erde zu nähren, im Boden versunken war. Nun zeigte sie ihr grinsendes Gesicht und lud, befreit vom Korsett aus Zahlen und Worten, zum Tanz mit Bilder ein, die sich weigerten, einer Ordnung zu folgen. Wie von Blitzen wurden Erinnerungen kurz erhellt, um anschließend wieder in undurchdringliche Dunkelheit zu entfliehen, so als hätten sie Angst vor Entdeckung.

Maria setzte sich auf eine Bank im Park und wartete geduldig, bis sich die Tür zum Verständnis öffnete. Zu viele Jahre hatte die junge Frau darauf gewartet, endlich das Geheimnis, dass in ihr schlummert, sie in ihrem Schlaf quälte und doch unsichtbar blieb, zu entschlüsseln. Vielleicht hatte sie sich als junger Mensch davor gefürchtet, doch nun war sie erwachsen und bereit, die Bilder eines kleinen Mädchens als Teil ihres Lebens zuzulassen.

Plötzlich sah sie das Zimmer, dass sie einst mit ihrer kleinen Schwester, noch ein Baby, teilte. Sie fühlte wie ein Sonnenstrahl, der sich vorwitzig durch das Laub eines Baumes vor dem Fenster gezwängt hatte, auf ihrer Wange kitzelte. Sie kletterte aus ihrem Bett und störte sich dabei an der Windel, die sie beim Mittagsschlaf tragen musste.

Leise, um das Baby nicht zu wecken, schlich sie auf den Flur. Aus dem Schlafzimmer hörte sie ihre Mutter stöhnen. Doch es kam ihr nicht wie ein Geräusch der Qualen vor sondern irgendwie anders. Die Tür des Zimmers war nicht ganz geschlossen, so konnte die Kleine hineinspähen. Die Mutter lag rücklings auf dem Bett. Auf ihr bewegte sich ein Mann. Das Kind erkannte ihn erst, als er den Kopf ein wenig Richtung Tür wendete. Ängstlich duckte sie sich und wurde offensichtlich nicht gesehen. Schnell huschte sie zurück in ihr Bett.

Maria erschrak bei dieser Erinnerung. Es war nicht ihr Vater gewesen, der sich mit der Mutter in den Kissen wälzte sondern dessen Bruder, ihr Onkel. Und nun, als Erwachsene, wusste sie auch, was beide dort getrieben hatten.

Ihre Gedanken überschlugen sich, aber die Zeit war ungnädig, ließ sie nicht aus ihren Fängen. Dunkelheit breitete sich aus. Wieder stand das kleine Mädchen vor der angelehnten Schlafzimmertür. Doch diesmal offenbarte sich ihr kein Liebesspiel. Aus dem Keller drang das Geräusch einer Schleifmaschine herauf. Ungläubig erspähte sie ihre Mutter, die sich auf dem Boden krümmte, wild um sich schlug. Ein Mann hatte etwas um ihren Hals geschlungen, das er unerbittlich zuzog. Dann verstummten plötzlich alle Geräusche.

Ohne sich dessen bewusst zu sein, was sie gesehen hatte, fürchtete sich die Kleine und rannte so leise wie sie konnte zurück in ihr Zimmer. Dort krabbelte sie ins Bett und zog die Decke über sich. Das Baby schlief ruhig. Als die Maschinenlaute aus dem Keller wieder ertönten und sie wie friedliche Musik zärtlich streichelten, verbannte das Kind das Gesehene aus seinem Gedächtnis, wo es bis zu diesem Tage gefangen war.

Auf der Wiese im Park spielte eine Frau mit ihrem Hund. Der Wind ließ die Blätter ein Lied vom beginnenden Herbst singen. Aus der Ferne klang das Lachen herumtobender Kinder. Das war die Wirklichkeit. Die Zeit hatte Maria wieder in die Gegenwart entlassen, doch ihr eine grausame Erkenntnis geschenkt. Ihr Dasein war von einer groben Fehleinschätzung geprägt worden. Nicht, wie die Polizei meinte bewiesen zu haben, ihr Vater hatte die Mutter umgebracht sondern dessen Bruder.

Ein Unschuldiger war verurteilt worden, weil er zur Tatzeit im Hause gewesen war. Als Motiv für den Mord galten vermeintlich Trennungsabsichten der Frau. Als der Vater sich noch in der Untersuchungshaft in seiner Zelle erhängte, wurde dieses als Schuldeingeständnis bewertet. Doch all dieses erfuhr Maria erst viel später.

Sie und ihre Schwester wuchsen bei kinderlosen Pflegeeltern auf, die sie versorgten und behüteten wie ihr eigen Fleisch und Blut. Es war eine liebevolle Umgebung und die Mädchen verloren die Erinnerung an die leiblichen Eltern, was sich auch darin begründete, dass sie bei den schrecklichen Ereignissen noch sehr jung gewesen waren. Schließlich wurden beide von dem fürsorglichen Paar adoptiert.

Die Mädchen fühlten sich früh als Teil einer ganz normalen Familie. Nur in Marias Träumen blitzten hin und wieder die Bilder ihrer Mutter und ihres Vaters auf, ohne dass sie genau wusste, wer diese Personen waren. Dann spürte sie eine unerklärliche Sehnsucht und Traurigkeit. Da ihr Vertrauensverhältnis zu den Adoptiveltern sehr eng war, erzählte Maria eines Tages davon.

Da sie einen klaren Verstand hatte, eine gute Schülerin war und sich auf dem Weg zur Erwachsenen befand, fühlten sich ihre Adoptiveltern verpflichtet, sie vorsichtig über ihre Herkunft aufzuklären. Maria war erschüttert und verzweifelt, weil sie sich nicht erinnern konnte. Auch wenn ihre Adoptiveltern ihr mitfühlend erklärten, dass sie schließlich damals noch sehr klein gewesen war, ärgerte sie sich darüber, dass sie bei dem Versuch der Rückbesinnung nur ein schwarzes Loch vorfand. Doch wenn ihr Fotos von den Verstorbenen gezeigt wurden, fühlte sie kurz einen Schmerz und dann eine Wut, deren Ursache sie nicht begriff.

Natürlich musste Maria auch erfahren, dass ihr Vater die Mutter umgebracht und sich dann selbst gerichtet hatte. Fortan sah sie sich als Tochter eines Mörders. Nur den von Liebe und Vernunft getragenen Gesprächen mit ihren Adoptiveltern war es zu verdanken, dass sie bald in das unbelastete Leben der Wirklichkeit zurückkehren konnte. Die Vergangenheit verschwand in einem Nebel der Bedeutungslosigkeit.

Ihre Schwester, als auch diese von den Ereignissen und ihrer Herkunft erfuhr, weigerte sich strikt, dieses als Teil ihres Lebens anzunehmen. Sie wollte sich nicht mit Vorfällen belasten, auf die sie keinen Einfluss hätte nehmen können. Auch sie war klug und wuchs im Wohlstand auf. So war sie glücklich und zufrieden mit ihrem Dasein.

Dafür hatte Maria Verständnis und wäre wohl auch diesen Weg gegangen, wenn nicht etwas in ihr nach Außen drängte, was ihr Angst machte. In dem schwarzen Loch ihrer Erinnerung brodelte es, aber die Zeit hielt die Tür verschlossen.

Nun wusste sie, dass der Onkel, der Bruder ihres Vaters, ihre Mutter ermordet hatte, während dieser nichts ahnend im Keller seinem Hobby als Heimwerker nachging. Als Unschuldiger war er verhaftet worden und konnte den Verdacht, er hätte seine Frau gemeuchelt wohl nicht verkraften. Maria erinnerte sich daran, dass sie und ihre Schwester von einem vermeintlich Fremden oft mit großzügigen Geschenken zum Geburtstag oder zu Weihnachten bedacht wurden. Dabei war die Freude über die unerwarteten Gaben immer so groß gewesen, dass die Mädchen sie ohne Misstrauen annahmen. Die Adoptiveltern sahen keinen Grund, ihnen diese Freude durch die Offenbarung, sie kämen von ihrem Onkel, der sich aber nie persönlich zeigte, zu schmälern.

Maria fragte sich, was sie mit ihrer zurückgewonnenen Erinnerung anfangen sollte. Ihre Mutter hatte also ein Verhältnis mit dem Onkel gehabt. Vielleicht liebten sie einander sogar. Dann muss es zu einem Zerwürfnis gekommen sein, dass so gravierend gewesen war, dass nur ein Mord den Knoten lösen konnte. Das Schicksal nahm seinen Lauf und der Onkel flüchtet vor seiner Schuld. Er opferte seinen Bruder.

Welch ein Drama, was für eine Tragödie, bei der zwei kleine Mädchen zu Waisen wurden. Maria wusste nicht, ob der Onkel überhaupt noch lebte, denn Geschenke bekamen sie und ihre Schwester schon lange nicht mehr. Wollte sie diesen Mann überhaupt kennenlernen? Sie hatte nur eine trübe Erinnerung an eine freundliche Gestalt, mit der sie als kleines Kind gern gespielt hatte. Und was sollte sie ihn fragen? War es ihre Pflicht, den Justizirrtum aufzuklären und den Mörder seiner gerechten Strafe zuzuführen? Wer glaubt schon den lange verschütteten Erinnerungen eines kleinen Kindes? Nichts würde die Toten zurückbringen.

Seltsamerweise machte sich Erleichterung in Maria breit. Die Tür zu dem dunklen Loch in ihrer Erinnerung war geöffnet. Mit einem milden Lächeln überreichte ihr die Zeit den Schlüssel. Dankbar nahm die junge Frau ihn entgegen und schloss die Tür wieder. Durch das dichte Laub des Baumes, unter dem die Bank stand, auf der sie saß, fiel ein Sonnenstrahl auf ihre Wange und kitzelte sie wie damals. Maria schaute hinauf und lächelte.

Für alles im Leben gibt es die richtige Zeit. Bei ihr war auf das Vergessen die Erinnerung gefolgt. Nun, erwachsen und selbstbewusst, war sie befreit von dem unbegreiflichen Drängen in ihrer Seele. Maria schaute auf die gedeihende Natur und die fröhlichen Menschen im Park. Sie hörte das Lachen ihrer Mutter und das Hämmern ihres Vaters im Keller. Die gütigen Gesichter ihrer Adoptiveltern tauchten vor ihr auf. Dann wirbelte die Zeit Bilder und Töne durcheinander, ließ sie gemeinsam tanzen und schließlich im Grün einer Rasenfläche verschwinden.

 

 

 

 

 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.10.2017. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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