***** Unterernährt? Nicht direkt! *****
Wie schon einmal erwähnt, war`s in der Nachkriegszeit nicht
gerade einfach, sich gesund zu ernähren. Aber unsere Eltern
versuchten ihr Möglichstes. Auch in der Schule war das so. Da
gab`s zum einen die „Schulspeisung“, die von amerikanischen
Soldaten täglich in großen blauen Tonnen angeliefert wurde.
Meistens war das grüne (!), „ganz gesunde“ (sagte man uns)
Erbsensuppe – ohne Würstl, versteht sich. Und zum anderen
sah einmal im Monat eine Frau von der Jugendfürsorge in der
Schule vorbei um zu prüfen, ob in unserer Klasse „magere"
Kinder wären. Denn zur damaligen Zeit gab`s immerhin noch
500 000 (!) unterernährte Kinder in Bayern!
Freilich, unter uns waren schon einige „Dünne“ und nur diese
Kinder bekamen von der Frau kleine braune Blechdosen, mit
einem weißen Strahlenkranz auf dem Deckel, geschenkt.
Gefüllt waren die Dosen mit kleinen, mit dunkler Schokolade
überzogenen, Malzbonbons.
Was man sich eigentlich so alles alles merkt?
Also unterernährt war ich jetzt nicht direkt, aber ich hätte halt
auch gerne so eine kleine Bonbondose gehabt. Da kam mir
plötzlich die Idee: Ich „saugte“ meine Wangen so fest ich nur
konnte nach innen und schon sah mein Gesicht ganz schmal
aus …
Und das dauerte ewig, bis diese Frau endlich auch vor meiner
Bank stand – viel länger hätte ich es eh nicht ausgehalten.
Zuerst sah sie mich irgendwie ungläubig an, dann schüttelte
sie den Kopf und begann plötzlich schallend zu lachen. Sie
lachte, bis ihr die Tränen übers Gesicht kullerten.
»Also auf so eine Idee ist auch noch keiner gekommen! «,
sagte sie.
Dann schenkte sie mir, für diesen „außergewöhnlichen Einfall"
wie sie sagte, tatsächlich auch so eine kleine Blechdose! Ich
war überglücklich.
***** „Speisungs-Küberl“ *****
Für diese bereits erwähnte „Schulspeisung“ brauchte man ja
ein Essgeschirr. Weil meinen Eltern aber das Geld fehlte, so
ein Geschirr zu kaufen, machte es mein Vater einfach selber:.
Er entfernte deshalb von einer Sauerkrautdose (!) das Etikett,
drehte einen vierfachen Kupferdraht zu einer dicken Kordel,
formte daraus einen Henkel und lötete den an die Dose. Zum
Schluss hängte er einen hölzernen Paketgriff ein – und fertig!
Was die anderen Kinder für Essensgeschirr hatten, das weiß
ich nicht mehr, aber meines war (zumindest in meinen Augen)
das hässlichste Teil – ich seh`s direkt noch vor mir. Himmel,
wie ich mich damit schämte! Ich schämte mich damit so sehr,
dass ich nur noch einen Gedanken hatte: Ich musste diesen
blöden Kübel „verlieren“!
Gleich am nächsten Tag, auf dem Heimweg von der Schule,
warf ich das Speisungsküberl ihn in hohem Bogen über den
nächstbesten Schutthaufen. Zu Hause erzählte ich, dass ich
es nur ganz kurz abgestellt hätte – und weg war`s ...
Als ich in Vaters Gesicht sah wurde mir schlagartig klar, dass
er mir nicht glaubte! Wer würde denn auf diese saudumme
Idee kommen und so eine Blechbüchse klauen?
Blöd war jetzt nur, dass mein Vater seinen freien Tag hatte!
Wortlos nahm er mich grob bei der Hand und ich musste mit
ihm den ganzen (!) Schulweg entlang gehen - so lange, bis
ich dieses Küberl gefunden hätte.
Zweimal waren wir jetzt schon bis zum Schulhaus und wieder
retour gegangen! Und zweimal waren wir auch schon an dem
bewussten Schuttberg vorbei gegangen, aber ich war stur ...
Mein Vater aber auch - und er ließ nicht locker. Nach einer
gefühlten Ewigkeit packte mich schließlich der heilige Zorn.
Die Tränen brannten in meinen Augen, als ich schließlich den
Schutthaufen hinauf kletterte. Ganz weit hinten lag er, dieser
vermaledeiten Kübel. Mein Vater grinste ...
Und was hatte ich davon gehabt? N I X.
Weil ich nämlich kein neues Essgeschirr bekommen habe,
denn mein Vater hat dieses Teil einfach nur ausgebeult und
mir dann schmunzelnd wieder in die Hand gedrückt ...
Jetzt hatte ich wirklich einen Grund mich damit zu schämen.
So lernte mir mein Vater die Dinge zu schätzen!
***** Ja so ein Käse *****
Meine Mutter hatte schon ein ganz besonders „Gespür“, mir
gerade dann etwas aufzutragen, wenn es mir so gar nicht in
den Kram passte. Denn auch eine Neunjährige hat nach den
ganzen „Strapazen“ in der Schule das Recht, am Samstag
auszuschlafen!
Doch nix war`s. Weil mich nämlich meine Mutter am frühen
Vormittag, so „dramhappert“ (schlaftrunken) wie ich noch war,
los schickte, um ihr einen besonderen Käse, den sie für was
weiß ich brauchte, zu besorgen. Aber nicht in einem Laden
gleich um`s Eck, nein, bis zum Viktualienmarkt ** würde ich
gehen müssen. Das war jetzt nicht g`rad der nächste Weg,
fast zwei Stunden würde ich da unterwegs sein ... Aber es
half alles nix.
Auf dem Münchner Viktualienmarkt war bereits allerhand los.
Die „Standl-Leit“ (Verkaufsstand-Besitzer) boten lautstark ihre
Waren an. Vor verschiedenen Ständen hatten sich zum Teil
schon lange Schlangen gebildet - auch vor dem Käse-Standl.
Da bemühten sich drei Verkäuferinnen um die Kundschaft.
Ich stellte mich ans Ende der Schlange. Eine „vollschlanke"
Frau mit Trachtenhut reihte sich hinter mir ein und rammte
mir dabei gleich mal einen Ellbogen in die Rippen
»Geh weida Deandl, schlaf net ei. «, sagte sie und schob
mich vorwärts. Eine Hektik war das hier.
Endlich kam ich an die Reihe und kurz darauf legte man
mir auch schon die Tüte mit Käse auf die Theke und ich gab
der Verkäuferin zehn Mark. Bevor ich von der Dicken mit Hut
gänzlich zur Seite geschoben wurde, konnte ich mir gerade
noch meine Käse-Tüte greifen und mein Wechselgeld vom
Tablett nehmen ...
Ich war noch keine fünf Schritte gegangen, da brüllte jemand
hinter mir:
»Halt, stehenbleiben – mein Geld – haltet den Dieb! «
Ich wollte mich gerad umdrehen, da packte mich auch schon
ein großer, kräftiger Mann am Arm!
»Gib mir sofort mein Geld wieder, sonst rufe ich die Polizei! «
Ich verstand nur Bahnhof!
Aber es ist eigentlich schon erstaunlich, wie schnell so ein
Menschenauflauf entsteht ... Eine ältere Frau nahm mich bei
den Schultern und schüttelte mich, dass mir hören und sehen
verging und schrie:
»Schämst dich nicht, andrer Leute Geld zu stehen ... «
Eine andere keifte:
»Wenn das Deine Eltern wüssten ... «
Irgendwer brüllte:
»Eine Tracht Prügel wäre das Richtige für dich... «
Erst als eine Käse-Verkäuferin, die durch das laute Geschrei
aufmerksam geworden war, dazukam, klärte sich alles auf:
Hatte ich doch ganz aus Versehen mein Wechselgeld und das
Geld dieses Herrn, der neben mir stand, eingesteckt.
Anmerkung:
Der Viktualienmarkt ist ein ständiger Markt für Lebensmittel
(veraltet auch Viktualien) in der Altstadt von München. Er
findet seit 1807 täglich, außer Sonn- und Feiertag, statt.
***** Nix gibt`s heut` *****
Mit meinen zwölf Jahren lag ich jetzt schon das dritte Mal im
Krankenhaus. Aber ich hatte es, was das Umfeld betraf, gut
getroffen, denn ich lag mit drei netten Mädels in meinem Alter,
in einem Zimmer. Ja und während sich die drei Mädchen ein
„ausgiebiges“ Frühstück hatten schmecken lassen, gab`s bei
mir nur eine Tasse Tee und drei Zwieback ... Egal, ich war eh
noch so müde und kaputt nach der Operation. Ich legte mich
wieder vorsichtig nieder und war gleich drauf eingeschlafen.
Am späten Vormittag, riss eine Schwester mit Karacho die
Zimmertür auf , dass ich sofort senkrecht in meinem Bett saß.
Sie „stürmte“ auf mich zu
»Heute wird aber mal aufgestanden! «, befahl sie. »Du bist
bereits vor eineinhalb Tagen operiert worden, also raus aus
dem Bett und bewegen, bewegen, bewegen! «
Mit festem Griff nahm sie mich bei den Oberarmen, zog mich
unsanft hoch und stellte mich auf meine zittrigen Beine. Mir
war überhaupt nicht gut, nein, überhaupt nicht, als ich in den
bunt karierten Morgenmantel schlüpfte – auch so ein Teil von
meiner Cousine in Amerika, das ich "auftragen" musste..
Bevor ich mit wackligen Knien und knurrendem Magen aus
dem Zimmer schlich, warf ich dieser Schwester und den frech
grinsenden Bettnachbarinnen einen vernichtenden Blick zu.
Leise maulend „des mag i scho, nix zum Essn kriang, aber
marschiern soi i“, schloss ich die Tür.
Ganz langsam schlurfte ich den ellenlangen Krankenhausflur
entlang. Rechts standen schon die großen grauen Wägen mit
den Mittagessen – und es roch so gut ... Als ich kurz darauf
am Krankenhaus-Kiosk mit den kleinen Tischen (heute heißt
es ja "Cafeteria") vorbei kam, saßen dort doch glatt ein paar
Patienten, die mit allem Drum und Dran Brotzeit machten!
Jetzt entgleisten mir aber die Gesichtszüge – mei Liaba. Mein
Magen rumorte fürchterlich und im Hirn ratterte es: „Ich darf
nix essen – ich darf nix essen!“
Auf einmal sah ich am Ende des Flurs meinen kleinen Bruder
auf mich zu rennen. Während er eine Papiertüte hin und her
schwenkte schrie er:
»Geeeertraaaauuuud, schau mal, was ich Dir mitgebracht
habe – eine Leberkäs-Semmel! «
Ich hätte ihn würgen können!
Dann setzten wir uns auf einen Bank und während mir das
Wasser im Mund zusammenlief sah ich ihm zu, wie er die
Leberkäs-Semmel genüsslich verspeiste ...
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.10.2017.
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