Sven Eisenberger

Verdunstet

Nachdem die Kneipe nicht mehr lief und Hilde ihn verlassen hatte, hat Herbert sich totgesoffen.” “Hätte ich dir gleich sagen können, dass Christa sich mit dem roten Alpha totfahren würde. Hätte mal bei ihrem alten Golf bleiben sollen!” “Kurt, der hat sich mit seinem kleinen Betrieb ehrlich totgearbeitet. Der war ja immer so verdammt stolz, selbständig zu sein. Und totgeraucht hat er sich auch noch.” Sätze, die Sie vielleicht auch von Familienfeiern aus den seligen Zeiten der Bonner Republik noch in Erinnerung haben. Aber haben Sie jemals von einem Fall auch nur in der ferneren Verwandtschaft gehört, in dem sich jemand “totgespielt” hätte? Selbst beim Skat, dem tödlich ernstesten aller Spiele, spricht man bisweilen nur mahnend-ironisch: “Hat sich schon mal einer totgemischt!” Sicher, so manche Runde wird auch noch lange nach dem Ableben vertrauter Mitspieler imaginär fortgesetzt, doch kaum einer würde sich zu der Behauptung versteigen, einer habe sich wahrlich in den Tod gespielt.
Ich blieb immer skeptisch, wenn bei irgendjemandem eine “Spielsucht” diagnostiziert wurde. Von wem eigentlich? Freilich mag es Spielsüchtige geben, obwohl der Suchtdiskurs kategorisch ausklammert, dass wir doch im Grunde alle "süchtig nach dem Glücke" sind und im Laufe eines Lebens weitaus Kostbareres verspielen als unser bisschen Geld und Besitz. Vielleicht ist die Suchtzuschreibung nur die subtilere Spielart eines alten Kulturkampfmodells, denn schließlich wird der Spieler von jeher verfemt, weil er dem bürgerlichen “Ernst des Lebens” Hohn spricht und die größtmögliche Provokation für eine propagierte Arbeits- und Leistungsethik darstellt.
Seltsamerweise stehen im therapeutischen Fokus zumeist die Automatenspieler, obwohl ich im öffentlichen Vergnügungsraum dieser Tage schon recht lange suchen muss, um überhaupt noch einen Spielautomaten zu finden. Und verweist die Illusion, das Glück an einem tristen Spielautomaten zu finden, nicht vielmehr auf einen äußerst glücklosen IQ? Und wieviele Reihen muss eigentlich einer im Lottospiel ankreuzen, um als spielsüchtig zu gelten? Über allem steht letztlich die zentrale Frage: Sucht die Sucht nach der Sucht sich hier nicht lediglich ein weiteres Kolonialgebiet für ihre eroberungshungrigen “helfenden Berufe”, die bereitwillig zwecks eigener Existenzbeglaubigung den Bedarfsplan für ein konstruiertes Notstandsszenario entwickeln?

Nun gut, verlassen wir doch einfach die proletarischen Crack-Höhlen des Glücksspiels und begeben uns in die höheren Kreise der vom Silbertablett schnupfenden Hasardeure. Wie anders ist doch diese alteuropäische Welt des Roulette, die noch den Glanz einer untergegangenen Adelskultur ausstrahlt: Kronleuchter, Kleiderordnung, Kanapees! Selbst der Parvenü gewinnt augenblicklich an kulturellem Format, sintemalen die Gewinnchancen deutlich besser sind als in der “Klassenlotterie”. Jetons statt Kugelschreiber, Vingt-et-un rouge statt Jackpot, und selbst ein Zero kann Glück verheißend sein (für die Bank allemal). Hier ist das Spielen in eine gesellschaftliche Form eingebettet, deren Etikette allein jeden Gedanken an Spielsucht unerhört erscheinen lässt. Wer hier alles auf eine, seine Zahl setzt, hat sich bewusst für eine stilvolle Variante des längst beschlossenen Suizids entschieden. Sollte er oder sie wider Erwarten doch gewinnen, so gerät entweder die Verzweiflungspose zur göttlichen Offenbarung, in der der Auserwähltheitsgedanke eine grandiose und die Rückkehr ins Leben ermöglichende Bestätigung findet, oder die erhoffte Erlösung wird in einem Finale furioso eines erneuten Alles oder Nichts gesucht. Doch diese Fälle waren und sind wohl vergleichsweise selten, denn von einem kollektiven Hand-an-sich-Legen von Baden-Baden bis Bad Zwischenahn wusste die Presse bislang nicht zu berichten. Schon mal darüber nachgedacht, warum Spielbanken zumeist in deutschen Kurorten zu finden sind? Offizielle Antwort: Usprünglich waren sie als gehobener Zeitvertreib für gelangweilte Kurgäste in den goldenen Zeiten der wohlfahrtsstaatlichen Gesundheitsversorgung gedacht. Inoffizielle Antwort: Hier konnte man einem ungewollten "Kurschatten" kurzzeitig entfliehen. Spekulative Amtwort: Möglicherweise war das Glücksspiel einst sogar einmal fester Bestandteil eines ganzheitlichen Gesundheitskonzepts. Das wäre ja zu schön, um wahr...

Doch sollte hier nicht eigentlich eine Geschichte erzählt werden? Ja, indes sie ist enttäuschend kurz und nicht stringent erzählt, weil der Erzähler seinen Reflexionsdrang partout nicht bändigen kann. Der Autor hatte auch seine Bedenken, nur versuchen Sie mal, einem eigensinnigen Erzähler in die Wortparade zu fahren!

Die Ortschronik datiert die Eröffnung der Spielbank in Bad Pyrmont auf das Jahr 1975, obwohl der im beschaulichen Weserbergland gelegene Kurort da bereits auf eine fast 200 jährige Tradition des Glücksspiels zurückblicken konnte. “Spielbank” - ein interessanter Term, dessen Differential die Abgrenzung zum seriösen Bankwesen betont und gleichzeitig galant die skandalträchtige Ironie verhüllt, dass doch der Kern des Bankgeschäfts seit den frühesten Tagen des Finanzkapitalismus in nichts anderem bestand als... genau, dem Spiel, Inbegriff des Eingehens von Risiken. Entlarvender Weise hat der politische Diskurs seit etwa 10 Jahren zudem den Begriff des “Casino-Kapitalismus” wiederentdeckt. Apropos: Ökonomisch ist gegen das Glücksspiel übrigens weit weniger einzuwenden als in moralischer Hinsicht, verdient doch der Staat bis auf den heutigen Tag nicht schlecht an der Spiellust seiner Bürger. Und höchstwahrscheinlich war die Schließung sämtlicher Casinos im Jahr 1872, im protestantisch dominierten Kaiserreich, ökonomisch ein schwerer Fehler, denn durch die Reparationszahlungen aus Frankreich war zu viel Geld im Umlauf, das man besser verspielt hätte, als es in Spekulationsblasen einschießen zu lassen. Ein Jahr später gab es dann den großen Knall und massenhaft daseinsflüchtige Bankrotteure.
Doch zurück nach Bad Pyrmont. So mancher, der im Casino an einem Abend Haus und Hof oder seine Fabrik verspielte, stieg danach hoch zur sogenannten “Dunsthöhle”, die sich dem Betrachter erstaunlich dunstfrei präsentiert, hüllte sich ein in eine natürlich entströmende Kohlendioxid-Wolke und entschlief sanft nach wenigen Augenblicken. Wo das vermeintliche Lebensglück und Zukunftsentwürfe innerhalb von Minuten verdunstet waren, um einem quintessentiellen “Rien Ne Va Plus” zu weichen, bot der Kurort eine in jeder Hinsicht komfortable Abschiedsstätte. Wer nicht rechtzeitig aufgefunden wurde, hatte seinem Leben auf recht freiluftige Art erfolgreich ein Ende gesetzt. Eine vulkanische Laune der Natur schuf hier einst diese unwiderstehliche Gelegenheit einer anästhetischen Selbstbehandlung. Aus humaner wie humanistischer Sicht konnte nur dies allein die alles entscheidende Kondition für eine Konzessionierung des Glücksspiels in der Bäderprovinz sein. “Nimm wahr des Ortes Gunst, sei erlöst im dichten Dunst!” Immer wieder erstaunlich, auf welch vielfältige Weise Gott menschliches Leben auf einen Schlag ruinieren kann – und das, obwohl er gar nicht existiert. Das ist schon eine beachtliche Leistung! So hat es jedenfalls der als Komiker getarnte irische Philosoph Sean Hughes einmal auf den Punkt gebracht.
Damals hatte der “Eu Thanatos” an diesem Ort noch ein natürliches Zuhause, das ihm allenfalls Morphinisten streitig machen konnten. Doch offenbar nahm die Zahl der auf diese Weise ermöglichten Suizidereignisse in den 1970er Jahren in einem solchen Maße zu, dass die Stadtväter einen massiven Imageschaden befürchteten und beschlossen, diese seit dem Jahre 1720 auch von Geistesgrößen wie Goethe gern besuchte (und heiteren Fußes wieder verlassene) Mysterienstätte sicherheitshalber von einer Pilgerstation für suizidale Bankrotteure in eine Art Naturkundemuseum zu verwandeln. Ach je, da hat der Mensch einmal die Möglichkeit, freien Eingang in die Unterwelt, oder in christlicher Diktion: die Hölle zu finden, und schon wird im Sinne des “öffentlichen Wohls” alles mit einem Betonsockel und dickem Sicherheitsglas versiegelt! Heutige Suizidanten haben in Bad Pyrmont nur noch die wenig ersprießliche Wahl, entweder in eine übergroße Stechpalme zu springen oder gratis eine Überdosis reinsten Quellwassers (empfehle die stark salzhaltige Wolfgangquelle!) zu bechern.
Der freie Wille hatte es noch nie leicht in diesem Land, denn er muss ja beständig vor sich selbst geschützt werden. In trügerischer Freiheit streift ein Autor durch die Wälder, umgetrieben von der einzigen Sorge, wie er einem schrecklichen Verdacht entgehen kann:  Hat womöglich bereits die Schreibsucht Besitz von ihm ergriffen?

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.11.2017. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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