Stefan Läer

Glatteis

Es war ihr gleich so komisch vorgekommen. Es war einer dieser herrlichen, warmen und sonnigen Spätsommertage im August, an dem kein einziges Wölkchen den Himmel trübte. Katrin hatte es sich in ihrem Liegestuhl im Garten gemütlich gemacht und reckte ihr Gesicht der Sonne entgegen, deren Helligkeit sie dazu zwang, die Augen zu schließen. Die Wärme auf ihrer Haut tat ihr spürbar gut – wenngleich sie auch nicht ausreichte, um ihre trüben Gedanken zu vertreiben. Nur zwei Wochen zuvor war ihre Zwillingsschwester bei einem schweren Verkehrsunfall ums Leben gekommen und die Trauer saß noch immer tief. Sie war doch erst 34 Jahre alt gewesen und hatte zwei kleine Kinder hinterlassen, die nun ohne Mama dastanden. Gehen Sie viel in die Sonne, nutzen Sie das Licht und die Helligkeit, es wird Sie positiver stimmen, hatte ihr Arzt ihr geraten.

Doch während sie so dasaß und ihren Gedanken nachhing, war es passiert. Von einem auf den anderen Moment nahm sie plötzlich eine Verdunkelung vor ihren geschlossenen Lidern wahr, deren Blutgefäße bislang von der Sonne rot gefärbt worden waren. Verwirrt schlug sie die Augen auf und erschrak. Um sie herum herrschte finstere Nacht und dort, wo eben noch die Mittagssonne vom Himmel gebrannt hatte, schimmerte nun eine schmale Mondsichel, die nicht einmal imstande war, die Äste der Bäume ihres Gartens Schatten werfen zu lassen. Erst dachte sie an einen Traum, dann glaubte sie, verrückt geworden zu sein. Ich bin ein nervliches Wrack, dachte sie, meine Fantasie geht mit mir durch. Wie konnte sich dieser helle Tag so augenblicklich in die finsterste Nacht verwandeln? Doch ehe sie der Sache auf den Grund gehen konnte, war der Spuk vorbei. Nur wenige Sekunden später spürte sie wieder eine Wärme auf ihrem Gesicht und die Mittagssonne ließ die Äste der Bäume Schatten werfen, als sei nichts passiert.

Das war ihr erstes komisches Erlebnis gewesen.

Das zweite Mal war es auf dem Nachhauseweg in ihrem Auto passiert. Katrin hatte gerade ihre Einkäufe erledigt, für die sie gewöhnlich immer in die benachbarte Stadt fuhr. Es war wieder ein Sommertag wie aus dem Bilderbuch. Schon als sie einstieg, freute sie sich auf die Rückfahrt in ihrem schwarzen Cabriolet, ganz besonders auf den Fahrtwind, der ihre langen, strohblonden Haare durch die Luft wirbelte. Dazu drehte sie ihr Radio laut auf, so wie sie es liebte. Das waren die Tage, an denen sie glaubte, für immer jung zu bleiben. Und wie es schien, hatte sie zunächst Glück mit der Musikauswahl ihres Lieblingssenders, der gerade den angesagtesten Sommerhit spielte – einen echten Ohrwurm, den sie lauthals mitsang. Außerhalb der Stadt gab sie Gas, was ihre Laune noch einmal beflügelte. Schon bald verschwanden die letzten Häuser der Vorstadt und machten einer hügeligen Landschaft Platz, an deren Hängen sich bunte Schmetterlingswiesen und Kornfelder abwechselten.

Das Ende des Liedes riss Katrin aus ihrer träumerischen Gedankenlosigkeit. Was folgte, waren die ersten Klänge der „Perfekten Welle“, des Lieblingsliedes ihrer Schwester. Sofort waren alle Bilder wieder da und sie erinnerte sich daran, wie viele hundert Male sie mit ihrer Schwester diese Strecke gefahren war. Während sie sich ihre Gedanken machte, verdunkelte sich schlagartig der Himmel. Dort, wo eben noch die Sonne von einem azurblauen Firmament geschienen hatte, zogen nun dunkle Wolken ihre Kreise. Katrin traute ihren Augen nicht, als plötzlich Schneeflocken auf ihrer Windschutzscheibe landeten. Dann verwandelte sich die trockene Straße in eine spiegelglatte Rutschbahn. Ihr blieb keine Sekunde mehr, um zu reagieren. Mit einem panischen Schrei landete sie im Straßengraben.

Wenige Tage später konnte sie das Krankenhaus wieder verlassen. Dieser Unfall war noch einmal glimpflich ausgegangen. Was jedoch viel schwerer wog als ihre Verstauchungen und Prellungen waren die seelischen Narben, die dieses Erlebnis bei ihr hinterlassen würde. „Die Kontrolle über das Fahrzeug verloren“, hieß es lapidar im Bericht der Lokalpresse. Von einem plötzlichen Wintereinbruch im Hochsommer mit Eisregen und Schnee war keine Rede. Katrin tat gut daran, bei der Unfallvernehmung baldmöglichst diese These fallenzulassen, um nicht zusätzlich in eine Psychiatrie eingewiesen zu werden. Diese Erlebnisse hatten etwas mit ihrer Schwester und ihrer Vergangenheit zu tun. Unzählige verweinte Abende später wusste Katrin, dass sich etwas ändern musste. Sie musste weg, weit weg aus ihrer Heimat, ehe sie dieser Vergangenheitsfluch das Leben kostete.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.11.2017. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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