MONTAG, 19. 7. 82, VON ERGSTE BIS NACH MEINERZHAGEN,
UNGEFAHR 80 KM
Um 12 Uhr 40 fahre ich in Ergste ab. Die Sonne scheint ein wenig, aber
manchmal fallen ein paar Regentropfen. Bis Hagen verläuft die Reise
ziemlich ereignislos. Dort muss ich erst den Weg nach Breckerfeld suchen.
Am Freilichtmuseum für Technik vorbei radle ich bis Breckerfeld,
hundsgemeine lang gezogene Steigung und Gegenwind, recht viele
stinkende und knatternde Autos, überhaupt kaum Ruhe, auf den Feldern
Traktoren und Mähdrescher. Es ist anstrengend mit viel Gepäck zu fahren.
So als säße jemand hinten auf dem Gepäckträger. Ich schwitze gewaltig.
ln Halver erwerbe ich ein Fahrradschloss, eine halbe Wassermelone für 6 DM
und 1 Liter Buttermilch für 1,09 DM. An einem schönen Rastplatz, den ich
fotografiere, verzehre ich Melone samt Milch, ist aber etwas viel. Die ganze
Melone wiegt sechs Pfund. Anschließend schlafe ich ein wenig im Gras und
danach lese ich den "Spiegel".
Darin wird vor Landkäufen Deutscher in Paraguay gewarntt. Diese
Grundstücksgeschäfte lohnen sich angeblich nicht. Ich hatte gelegentlich in
der "Frankfurter Allgemeinen" paraguayische Landangebote zu Hektarpreisen
im Pfennigbereich bemerkt. In Halver kaufe ich ein Messer zum Melone-
schneiden für 10 DM. Das Geschäft, in dem ich es besorge, passt ins
Sauerland. Chefin ist eine aufgetakelte Mittdreißigerin auf dem absteigenden
Ast. Sie sagt zu einem Jungen: "Wenn du mit den Sportbällen spielen willst,
musst du sie bezahlen. Vorher geht das nicht." Mir will sie für 46 DM ein
Schweizer Offiziersmesser andrehen. Ich aber lasse mir von sehr netter,
äußerst hübscher, blauäugiger Jungverkäuferin nur ein herkunftsloses
Unteroffiziersmesser aushändigen.
Um halb Sieben am Abend komme ich in der Meinerzhagener
Jugendherberge an. Alles ist dort straff geordnet und wohl geregelt. Als erstes
wird mir folgende Rechnung vorgelegt: 8,00 DM für die Übernachtung, 3,00
DM für die Leihe des Schlafsacks und 2,20 für das Frühstück. Ein eigener
Schlafsack darf nicht benutzt werden, da es angeblich unhygienisch
ist, ihn in einem Jugendherbergsbett zu benutzen, wenn man darin vorher im
Freien geschlafen hat.
Ich bin durch hügelige Wälder- und Wiesenlandschaft gefahren. Zwischen
Halver und Meinerzhagen ist eine Talsperre zu sehen. Die Zersiedelung
verursacht einige Schäden an der Landschaft. Häuser wachsen überall
sauber und propper in die Landschaft, die sie allmählich auffressen.
Ich übernachte in einem Zimmer mit drei Radlern aus Münster und wasche
meine Unterhose und meine Socken, die echt nach Käse stanken. ln der
Jugendherberge finde ich zwar strenge Ordnung, aber keine Dusche, so dass
ich mich zwecks besserer Eigenwäsche kurz in den Waschtrog lege.
DIENSTAG, 20.7.82, VON MEINERZHAGEN BIS MONTABAUR, START 9
UHR 30, ANKUNFT 20 UHR 30
Eine sehr schöne Strecke führt von Meinerzhagen bis Derschlag, ziemlich
hohe Berge und wenig Autoverkehr, ideal zum Fahrradfahren. Ein großer Teil
der Strecke läuft an der Aggertalsperre vorbei, die in einige Täler ausgreift
und am Ufer steil abfällt. Sie ist nicht ganz gefüllt. Deswegen sind die
Uferabhänge gut zu erkennen. Den ganzen Tag scheint die Sonne bei 25-30
Grad. Es gibt viel weniger Wind als am Montag.
Bis Derschlag komme ich sehr bequem voran, immer bergab, und sehe viele
schöne, frisch renovierte Fachwerkhäuser mit Blumenkästen. Danach fahre
ich über die Bundesstraße 256 am Wiehetal-Stausee vorbei. Unmittelbar
hinter Derschlag herrscht reger Autoverkehr. Die Straße liegt aber immer
neben einem breiten Bach bzw. kleinen Flüsschen, das sehr klares Wasser,
einige Wildwasserbereiche und Wasserfälle besitzt und irgendwann in die
Sieg mündet.
Ein sehr einsamer Weg bringt mich nach Morsbach, zuerst auf einer
längeren Steigung, die mir bei brütender Hitze sehr viel abverlangt. Dann folgt
eine Abfahrt, bei der ich aufpassen muss, nicht aus verschiedenen Kurven zu
fliegen. Das ganze Gebiet ist sehr wasserreich. lmmer wieder gibt es Bäche
und etwas größere Fließgewässer.
Morsbach ist ein angenehmer, sehr ruhiger Luftkurort mit vielen
Übernachtungsgelegenheiten. Dort kann man in einer Flussbadeanstalt
schwimmen. ln Morsbach schließen die Geschäfte mittags schon um 12 Uhr
30, so dass ich mir nichts zu essen und zu trinken kaufen kann, äußerst
blöde.
Doch bei der Weiterfahrt nach Wissen finde ich am Wegesrand einige
klitzekleine Himbeeren. Auch von Morsbach nach Wissen gluckert ein kleiner
Fluss neben dem Weg. Wissen verschönert ein Kirchplatz rings um die große
katholische Kirche, der Mosaikboden und Bäume aufweist. Leider prangt
mitten auf dem Platz ein großer Reklamekasten.
ln Wissen kaufe ich Kirschen, eine kleine Melone, ein paar Pfirsiche und
Buttermilch, wieder etwas viel. Aber während einiger Pausen gelingt es mir
alles zu verdrücken.
Die erste Rast gönne ich mir kurz hinter Wissen am Ufer eines Baches. Nach
der einstündigen Pause geht es weiter nach Gebhardshain. Ich muss das
Flusstal verlassen und eine ewig dauernde Steigung nehmen, die ich fast mit
dem Tempo eines schwer beladenen Lastwagens erklimme, der mich nur
äußerst mühsam überholt. Dann erreiche ich nach ständigem Auf und Ab
Hachenburg. Eine verteufelte Umleitung führt über einen steilen, aber
schönen Berg, der überall Ausblicke auf sanfte, sommerliche Hügellandschaft
mit Feldern bietet. Hafer, Weizen und Mais stehen schon hoch. Mancherorts
werden noch Kirschen gepflückt. lch bemerke viele renovierte und um
Anbauten erweiterte Häuser, die sehr gut in Schuss sind.
In Hachenburg tanke ich nochmals Buttermilch. Dann wird die Gegend bis
Montabaur flacher und Wälder kommen seltener vor. Ich fahre bergab in die
Dörfer hinein und bergauf wieder hinaus. In dieser Gegend höre ich erstmals
Grillen. Die Kirchen sind nicht mehr wie oft im Sauerland weiß gestrichen,
sondern ihre Fassaden bilden graue Steine.
Kurz vor Montabaur bemerke ich viele Tongruben und Töpferwerkstätten.
MITTWOCH, 21.7.82, VON MONTABAUR NACH LORCH AM RHEIN
Heute lege ich die bisher allerschönste meiner Fahrtstrecken zurück . Bis um
12 Uhr verschaffe ich mir ein Bild von Montabaur, indem ich den sehr
schönen Höhenweg beschreite, der längs der ganzen Stadt bis zum Freibad
führt. Von da aus fällt der Blick immer wieder auf das gelb gestrichene alte
Schloss der Erzbischöfe von Trier, eine Kirche mit Zwillingstürmen und einen
Turm aus grauen Steinen.
Das Schloss diente zunächst als Festung gegen die Grafen von Nassau,
wurde ihnen später überlassen, fungierte dann als Jagdschloss, im 19.
Jahrhundert als Lehrerseminar. Danach übernahm es die Bezirksregierung.
Gegenwärtig gehört es der Genossenschaftsbank, die in dem Schloss eine
Bankenschule untergebracht hat.
Ansonsten bietet Montabaur, - der Name stammt aus dem Lateinischen:
"Mons Tabor"= "Berg Tabor", ein 588 Meter hoher Berg in Israel, den die
alten lsraeliten als Kultstätte benutzten, auf dem Jesus "verklärt" wurde und
wo er den elf Jüngern nach seiner Auferstehung erschienen sein soll - noch
einiges beschaulich-romantisches Fachwerk.
Kurz nach Mittag befahre ich dann das idyllische Gelbachtal. "idyllisch"
scheint mir nicht übertrieben ausgedrückt. Ich glaube stellenweise im
Paradies gelandet zu sein. Eine richtig heile Welt lacht mich an: Hohe,
bewaldete Berge, durch die der Gelbach immer einen Weg findet, kaum
Autos, eine überwältigende Stille, eine gut ausgebaute Straße, die manchmal
durch Wald verläuft und immer von Bäumen beschattet wird.
Sie sind sehr hilfreich, denn Hitze glühte erbarmungslos. Ich lege mein
Oberhemd ab.
lsselbach und Bladenheim heißen zwei Dörfer am Weg, die Häuser in voller
Blumenpracht, kleine Brunnen und Plätze zeigen. Das Bachtal ist mal eng,
mal etwas weiter, aber immer sehr reizvoll. Rechts und links der Straße
wachsen blaue, rote, gelbe und weiße Blumen, Himbeeren, die duften, wie
sie schmecken, und andere rote Beeren. Nebenan immer der Bach, der mal
von Steinen, Pflanzen oder Holz gestaut wird, mal flach durch die Gegend
plätschert. Dann, kurz vor Nassau, der erste Weinberg in dem Ort Weinähr,
der über Weinkeller und Probierstuben verfügt. In Nassau fließt der
Gelbach in die Lahn. Hier, am Zusammenfluss, klettert Efeu über graue Reste
irgendeiner Burg und hoch auf dem Berg sehe ich eine weiß-rote Kirche.
Nassau verfügt über Campingplatz, Badeanstalt und viele Fachwerkhäuser,
die von Renovierungsbegeisterung zeugen.
Hinter Nassau in Richtung Wiesbaden-Singerhofen beginnt eine Tour der
Leiden. Ein Riesenberg, der kein Ende nimmt, treibt mir die letzten Tropfen
Buttermilch aus dem Leib. Dann erreiche ich eine sanft gewelllte Hochebene,
die Weizenfelder aufweist, welche teilweise schon abgeerntet sind, aber auch
einige Kiesgruben.
Die Bauernhäuser sind ganz anders errichtet worden als bei uns, alles eng
zusammen gebaut. Es folgen die ersten Wegweiser nach Lorch, ein
ständiges Auf und Ab, dazu die ersten Regentropfen, anschließend eine
herrliche Fahrt durch das Wispertal. Die Wisper mündet bei Lorch in den
Rhein. Ein klarer Bach, die Niester, ein großer Betrieb der Forellenzucht an
seinem Ufer, neben dem Kleingewässer eine gut ausgebaute, einsame
Straße führen durch ein tief eingeschnittenes, herrliches Tal.
Lorch umgeben Weinberge, mehrere Burgruinen und ein alter Gefängnisturm.
Die Jugendherberge scheint mir sehr empfehlenswert: Sie liegt über der
Stadt, besitzt Tische und Stühle im Freien, so dass man draußen essen und
trinken kann, wenn man will, und eine lässige Hausordnung, die gestattet, so
lange auszubleiben, wie man wünscht.
Meinerzhagen und Montabaur sind Jugendherbergen im "altdeutschen Stil":
Hausordnungen im Beamtendeutsch abgefasst, alles sauber, alles
reglementiert, um zehn Uhr abends Bettruhe. ln der Lorcher Herberge weht
sachter und charmanter ein demokratischeres Lüftchen.
Das Tagebuch schreibe ich gerade auf einer Bank am Rheinufer, in der
Umgebung überall Weinberge. Mein Lieblingsfluss nach der heimatlichen
Ruhr, der "alte Vater Rhein", wirkt samt seiner Uferlandschaft wunderbar
beruhigend und fließt gelassen dahin, eine Schlagader des alten Roms und
Europas, wenn nur der Auto- und Zugverkehr nicht so lärmen würden.
DONNERSTAG, 22.7.82, VON LORCH NACH HOCHSPEYER IN DER PFALZ , 10 KM VON KAISERSLAUTERN ENTFERNT
Um 9 Uhr 30 radle ich in Lorch los. Dort wird übrigens von der
Landwirtschaftsgenossenschaft jeweils für jede Rebenplage, irgendwelche
Milben oder Insekten, das passende chemische Gift zum Spritzen empfohlen.
Na dann, Prost!
Der erste Streckenabschnitt führt von Lorch bis nach Rüdesheim immer am
Rhein entlang. lch komme bei kühlem, bedecktem, aber glücklicher Weise
regenfreiem Wetter mit starkem Rückenwind sehr rasch voran.
Rechts und links thront auf fast jedem Weinberg ein altes Burggemäuer.
Um 10 Uhr 20 bin ich an der Rheinfähre in Rüdesheim, mit der ich nach
Bingen übersetze. Auf der Fähre weht ein kalter Wind. Sie bringt außer mir
viele Holländer über den Strom. Von Bingen aus sieht man am anderen Ufer
das wenig geschmackvolle Niederwalddenkmal, einen gigantischen Koloss
nationalistisch-monarchistischen Kaiserkitsches.
Hält man mit dem Naturphilosophen und Romantiker Friedrich Wilhelm Josef
Schelling Architektur für geronnene Musik, dann fällt einem zum
Niederwalddenkmal automatisch nur eine gewaltig disharmonische
Kakophonie Zahn und Gehör erweichender Katzenmusik ein.
Bis Kreuznach bewege ich mich über Straßen, unter denen die Landschaft
verschwindet und an lndustriegebäuden vorbei. Danach legt die Landschaft
Sonntagskleidung an.
Bald erreiche ich Rockenhausen, eine sehr ansehnliche Stadt mit hübschem
Rathaus und Plätscherbrunnen davor. Der Blick vom Rathaus zur Kirche
gefällt mir. Leider hat ein anscheinend autobesessener Stadtplaner eiskalt
zugeschlagen und die Kleinstadtidylle mit den breiten Schneisen eines
monströsen Straßenringes verunstaltet, der die Innenstadt vom
Durchgangsverkehr befreien soll. Chikago lässt grüßen! Der Verkehr lärmt
trotzdem munter weiter mitten durch die Stadt.
Ich fahre an den Flüssen Nahe und Alz vorbei, zunächst durch Weinberge,
dann über weitgehend ebenes Gelände. Ich achte nicht mehr so genau auf
meine Umgebung, da besseres Wetter für Hitze, Schweiß und die Sehnsucht
nach der nächsten Rast sorgen.
In Rockenhausen nehme ich eine ziemlich ungesunde Nahrungsmittel-
mischung zu mir: Leberknödel, Buttermilch und Süßigkeiten. Diese
Energiespender sorgen für genügend Kraft bis zur Ankunft in Hochspeyer.
Unterwegs sehe ich viele Fahrzeuge der US-Armee. Durch Hochspeyer
dröhnen einige us-amerikanische Panzer mit meist schwarzen Soldaten. Die
Jugendherberge liegt auf einem Berg. lch erreiche sie gegen 19 Uhr. Beim
Duschen reinige ich meine Hose und die Socken gleich mit.
Anschließend fahre ich ins Zentrum der Stadt Hochspeyer und jetzt sitze ich
gerade schreibend und essend in einem Pfälzer Spezialitätenrestaurant. Dort
esse ich eine Pfälzer Platte, Bratwurst, eine Scheibe Saumagen,
Leberknödel, Kraut, Brot und als exotisches Einsprengsel einen italienischen
Salat. Dazu trinke ich zusätzlich einen Kalbstaedter Kobner lieblich, der sehr
kühl auf den Tisch kommt.
Neben dem Pfälzer Spezialitätenrestaurant gibt es in Hochspeyer noch 4400
Einwohner, drei Pizzerias und ein griechisches Restaurant.
FREITAG, 23.7.82, VON HOCHSPEYER NACH STRASSBURG, 9 UHR GESTARTET, 19 UHR 30 ANGEKOMMEN, EINE STUNDE PAUSE IN FISCHBACH
Heute nehme ich ein gutes Frühstück mit einer Scheibe Käse zu mir. Mein
Magen ist am vorigen Abend mächtig strapaziert worden: Nach dem
reichhaltigen Abendmahl in Hochspeyer verfolgte mich hartnäckig eine
Jungkatze. Sie miaute hungrig. Vielleicht nahm sie den Geruch verspeister
Leckereien wahr, der noch an mir haftete.
Aus Deutschland führt eine für den Fahrradtouristen ideale, einmalig schöne
Strecke bis kurz vor Wörth in Frankreich. Rechts und links begrenzen Nadel-
und Mischwälder mit vielen Buchen die Straße. Ich sichte jede Menge
Waldbeerpflanzen. Leider fehlen ihnen die wohlschmeckenden blauen
Beeren. Statt ihrer pflücke ich von einem Baum am Straßenrand sehr leckere
tiefschwarze Kirschen. Ich esse eine nicht unerhebliche Menge mit dem
größten Vergnügen. Über Johanniskreuz, Glashütte und Fischbach bei Dahn
gelange ich nach Frankreich. ln Fischbach trinke ich einen Becher Joghurt
und etwas Buttermilch.
In der Nähe laden rechts des Weges viele kleine Teiche zum Baden ein. Das
Tretlager macht sich durch ein ungesundes Knacken unliebsam bemerkbar.
Auf der deutschen Seite des heutigen Streckenabschnitts gibt es viel Auf und
Ab. Wenn auch das "Auf" manchmal recht mühsam zu bewältigen ist, so
macht das "Ab" anschließend umso mehr Spaß.
Am Straßenrand wachsen sehr viele wunderbare bunte Blumen. Auch die
Zier- und Gemüsegärten prangen in voller Sommerpracht: Rote und weiße
Blüten an den Stangenbohnen, Astern in allen denkbaren Farben,
vonıviegend blaue Glockenblumen. Reife Tomaten runden sich gelegentlich
üppig.
Von Wörth bis Straßburg enttäuscht mich das Elsass landschaftlich
einigermaßen. Außerhalb der Städte breitet sich flaches Bauernland aus, das
oft fürchterlich nach Gülle stinkt. Auf den Feldern wachsen Mais, Gerste und
weniger häufig Kartoffeln.
Nur in einigen Dörfern erfreut mich bäuerliche Fachwerkarchitektur, in der
Bauernhöfe errichtet worden waren, deren Gebäude lnnenhöfe wie kleine
Festungsringe umgeben.
Wenn es mir hier, im französischen Elsass, weiterhin nicht so besonders gut
gefällt, werde ich über die Grenze wieder nach Deutschland wechseln und
versuchen, so nach Basel zu gelangen. In einer Kneipe erhalte ich für 200
DM 500 Francs, ein schlechtes Geschäft, wie ich später fest stelle, als ich die
offiziellen Bankkurse mit dem "Kneipenkurs" vergleiche.
Haguenau erweist sich als eine laute, verkehrsreiche Stadt. Nach der
Durchfahrt regnet es kurze Zeit ein wenig. lm jetzt französischen, einst
deutschen Wörth steht noch ein deutsches Kriegerdenkmal. Sein in Stein
gemeißelter Text drückt Trauer um die toten "Heldensöhne" Bayerns aus, die
einst im deutsch-französischen Krieg der Jahre 1870/71 getötet wurden.
Mehrere solcher deutscher Denkmäler haben die Franzosen in der Gegend
stehen lassen. Warum?
Kurz vor Straßburg ragt eine Ölraffinerie auf. Überhaupt führt der
französische Teil meiner Tagesetappe durch ziemlich viel lndustriereviere.
Am Abend lässt wie auf den vorausgegangenen Reiseabschnitten das
Interesse an der Landschaft nach und der Wunsch endlich anzukommen
wächst.
Am Einlass der Straßburger Jugendherberge kommt ein etwas chaotischer
Franzose mit seiner Kasse nicht mehr ganz klar, da ihn der Massenandrang
vor allem deutscher Jungtouristen etwas durcheinander bringt. Ich dusche
zwecks Entspannung und Säuberung erst einmal und fahre dann mit dem
Fahrrad in die Stadt.
Dort gabe es viele interessante Ecken, Winkel und Plätze.
Die Komödie, der Platz Kleber und das Straßburger Münster beeindrucken mich sehr. Das
Münster zeigt eine ornamentreiche Frontseite und eine eher wuchtige
Seitenlinie. Auf dem Platz Kleber entfaltet sich vielgestaltiges Leben.
Überhaupt ist Straßburg mit zahlreichen einladenden Plätzen versehen. Ich
komme außerdem an einem sehr poetischen Flussarm vorbei, den
Trauerweiden malerisch schmücken. Ich gönne mir vor dem Abendessen
zwei schmackhafte Portionen Eis.
Jetzt warte ich in einer Balkankneipe schon so lange, wie ich über diesen Tag
schreibe, auf mein Essen. Eine fette Alte will mich an einem Katzentisch
unterbringen, der nahe am WC liegt. Sie hätte mir eigentlich längst Cevapcici
servieren sollen. Immerhin hat sie mir schon ein Getränk gebracht, allerdings
Orangensaft statt Schweppes.
Ich werde, glaube ich, das Trinkgeld sparen. Vielleicht schreibe ich ein
Bisschen oft vom Essen und Trinken, aber erstens halten sie zwei wichtige
menschliche Bestandteile zusammen, zweitens stellen sie die wenigen
regelmäßigen Lebensgenüsse leider nur ziemlich weniger Menschen dar und
drittens sind sie wichtige Treibstoffe auf längeren Fahrradausflügen.
Wie fast überall in den deutschen Städten gibt es auch im ehemals
deutschen, jetzt französischen und übrigens vor allem europäischen
Straßburg jede Menge Pizzerias und Schnellrestaurants.
Hätte ich doch lieber französisches Essen zu mir genommen, aber ich
hatte nun mal Balkanhunger.
Der war unter Umständen für mein abendliches Missgeschick verantwortlich, das mich nach der unglückseligen Jugomahlzeit ereilte.
Mein Fahrrad war gestohlen worden. lch hatte es ab-, aber
leider nicht angeschlossen an eine gut beleuchtete Stelle, zudem noch vor
eine Kirche, gestellt.
Nach dem Essen suchte ich noch bis ein Uhr in
der Nacht das Fahrrad, aber umsonst. Ich lernte bei meiner Detektivarbeit
Straßburg besser kennen: Schöne alte Plätze und Fachwerkhäuser, Cafes
und Lokale mit gut besetzten Außenbereichen. Die ganze Stadt war am
Freitagabend bis ein Uhr nachts noch voller Leute, sicher auch dank einer
warmen Sommernacht.
SAMSTAG, 24.7.82, ERFOLGLOSE JAGD AUF EINEN FAHRRADDIEB IN STRASSBURG
Am heutigen Schlechtwetter- und Unglückssamstag ist von der Wärme nichts
mehr zu spüren. Den ganzen Tag über schlechtes Wetter! Nachmittags
beginnt es dann fürchterlich zu gießen.
Ich muss mich entscheiden, wie meine Radtour
fortzusetzen ist: Entweder mit der Eisenbahn oder mit dem Rad nach Hause
oder vielleicht mit dem Rad weiter nach Süden fahren. Die Bahn schließe ich
als Alternative aus, da ich mich auf einer Radtour und nicht auf einem
Zugausflug befinde.
Das Wetter lockt gerade nicht zum Weiterfahren und so beschließe ich denn
zunächst, mit dem Rad nach Ergste zurück zu kehren. Aber zu diesem Zweck
muss ich mir ein neues Rad besorgen.
Ich sehe mir also zunächst einige Drahtesel an und kaufe schließlich einen
für 575 DM. Vorher habe ich für 200 DM französische Francs eingetauscht
und von meinen ursprünglich 2000 DM sind so noch 325 übrig geblieben.
Das Rad der englischen Marke Raleigh ist sehr gut und besitzt 12 Gänge,
zwei Kettenblätter am Tretlager und sechs Ritzel am Hinterrad. Am besten
gefällt mir die kleine englische Flagge ein kleines Bisschen oberhalb des
Tretlagers auf dem Sitzrohr.
Wenn mir jetzt noch irgendetwas geklaut wird, ist Schluss mit der Tour.
Ansonsten besuche ich heute die St. Nicolai - Kirche, in der Albert Schweitzer
oft Orgel gespielt und die Tradition der großen Bachkonzerte eröffnet hat. Am
kommenden Mittwoch findet wieder eins statt und die Organistin übt gerade
auf der frisch renovierten Silbermann-Orgel, die erstens ganz toll aussieht
und zweitens auch so klingt. Vor allem, wenn die Organistin voll in die Tasten
greift, ertönen mitreißende Klänge. Wenn ich bedenke, dass Albert
Schweitzer an dieser Orgel auch schon spielte, wir mir ganz anders. Nicht
allein Schweitzer hat übrigens auf dem mächtigen Instrument Musik gemacht,
sondern auch Mozart.
Deswegen hat man auch die alte Tastatur in einem Seitenschiff der Kirche
aufgestellt und die Versuchung ist groß, mit meinen Händen einmal kurz
über die Tastatur zu streichen, um eine körperliche Verbindung zu einem
meiner Lieblingsmenschenfreunde und -musiker gleichzeitig aufzunehmen.
Es gibt keine bessere Philosophie als die Schweitzerische der Ehrfurcht vor
dem Leben und auch keine schönere klassische Musik als die Mozarts, die
scheinbar heiter über Abgründen tanzt.
Die Orgelempore ist leider wegen der übenden Organistin gesperrt. Am
Orgelaufgang hängt in einem leider etwas abgelegenen Winkel ein in Stein
gehauenes Porträt Albert Schweitzers. Ich musste ein wenig auf
Entdeckungsreise gehen, um diesen schönen Kopf zu finden.
Wenn Schweitzer auf der Orgel spielen wollte, sagte er immer: "Jetzt will ich
mal zu minger Orgel." So erzählt das jedenfalls der alte Mann, der im
Vorraum der Kirche Bilder und Orgelprospekte verkauft und Schweitzer noch
persönlich kennen gelernt hat. Der Alte zeigt mir auch , wo Schweitzer
im Predigerseminar gewohnt hat. Die Wohnung liegt sehr romantisch gleich
um die Ecke an einem der vielen Wasserläufe Straßburgs.
ln regelmäßigen Abständen suche ich immer wieder die Kirche auf, vor der
mein Fahrrad gestohlen worden war, aber den verdammten Dieb kann ich
leider nicht dingfest machen.
Ich kaufe mir ein Exemplar der "Stuttgarter Zeitung" und lese darin einen
Artikel über Karl Popper, während ich auf den Stufen einer reformierten
Kirche sitze, die man Ende des vergangenen Jahrhunderts als
Garnisonskirche für deutsche Soldaten errichtet hat.
Ansonsten rase ich in der Stadt herum und suche den Dieb. Hätte ich den
erwischt, das wäre ein Freudenfest geworden. Zuerst will ich mein frisch
erworbenes Rad als Köder an den Tatort stellen und aus der Ferne
beobachten, um so den Dieb zu fassen. Diese Jagdmethode ist mir aber doch
zu riskant. Dass ich keine Gerechtigkeit erlangen kann, ärgert mich mächtig.
lch hätte, bei aller Ehrfurcht vor dem Leben, dem Halunken gerne den Hals
umgedreht. Der Mann, bei dem ich mein neues Fahrrad kaufe, stirbt fast vor
Freude über das gute Geschäft.
Neben der erfolglosen Jagd auf den Täter unternehme ich noch eine
Besichtigungstour zu einigen repräsentativen Gebäuden, die ich zum Teil
auch fotografiere: Universitätsbibliothek, Konservatorium, Justizpalast, alle
am gleichen Ort gelegen und in herrschaftlichem Baustil zu einschüch-
ternden, mächtigen Kolossen aufgetürmt. Aber alles haben die Planer genau
auf den richtigen Platz gestellt.
Afrikanische Händler bieten an vielen Plätzen Lederhüte, Taschen und
anderen Kram an, werden bisweilen von der französischen Polizei verfolgt
und reißen meist blitzschnell aus.
Vor der Straßburger Synagoge steht ein Polizist. Wahrscheinlich soll er sie
gegen die Anschlägen terroristischer Palästinenser und anderer Antisemiten
sichern. Ausreichende gesellschaftliche Toleranz fehlt, wo Bewaffnete
Einrichtungen ethnischer oder religiöser Minderheiten vor Fanatikerattacken
schützen müssen. Es gibt nichts Schlimmeres als militaristisch-nationalisti-
schen und religiösen, also abergläubischen Fanatismus.
SONNTAG, 25.7.82, VON STRASSBURG NACH MÜHLHAUSEN
Ich breche um 9 Uhr auf und will mit dem neuen Fahrrad zunächst direkt nach
Basel fahren, entscheide mich aber dann anders und nehme den Weg nach
Mulhouse, früher Mühlhausen. Ich dachte, die Stadt wäre so schön wie
Straßburg, ist sie aber nicht.
Ich rolle über Seitenstraßen, die fast ausschließlich durch Orte führen, die in
ihrem Namen am Ende die Silbe "Heim" enthalten: Fessenheim, Blodesheim,
Saasenheim usw., immer parallel zum Rhein, der ca. 6 km weiter östlich
verläuft, den ich aber nicht sehen kann.
Die Landschaft ist durchgehend flach und sehr fruchtbar, allerdings etwas
langweilig. Es herrscht eine fast überirdische Ruhe. Autos begegnen mit
höchst selten. Mir fallen viele schöne Fachwerkhäuser mit überreichem
Blumenschmuck auf.
Das Wetter zeigt sich durchgehend mies. Ich gleite durch graues Dämmer-
licht und bekomme auch einige Regenstipsel ab, bin aber gut in Form und
schaffe auf einer Strecke von 50 Kilometern einen Durchschnitt von 25 km/h.
Das neue Rad läuft ausgezeichnet, völlig geräuschlos und wie von allein.
Sein Geburtsort ist das englische Nottingham
Ich kreuze immer wieder Kanäle, unter anderen den Rhein-Rhone-Kanal. Auf
den umliegenden Feldern wächst meist Mais. Aber auch Tabak und Soja
pflanzen die Bauern. Die Maiskolben werden zum Trocknen in langen
überdachten Fachwerkgerippen gelagert, die auf vielen landwirtschaftlichen
Flächen zu sehen sind.
Als ich Fessenheim durchquere und ein besonders schönes altes Haus
fotografiere, kommt eine freundliche Oma angewackelt und freut sich, dass
ich ihr Haus so ansehnlich finde. Sie erzählt mir auf Deutsch, dass die
Dörfer im Elsass fast alle an Blumenschmuck-Wettbewerben teilnehmen.
Außerdem lobt sie die jungen Leute aus dem Dorf, die ganz allein und ohne
Bezahlung eine alte Steinmauer restauriert hätten.
Fast alle Bewohner des Elsass sprechen noch Deutsch, vor allem die älteren.
Doch leider, so scheint es mir, lassen die Deutschkenntnisse bei den
jüngeren Elsässern allmählich nach.
Muhlhouse ist eine moderne Stadt ohne besondere Eigenarten. Sie könnte
überall auf der Welt liegen. lm Stadtkern jedoch liegt ein beachtlicher
Wolkenkratzer mit auffällig gebogenen Wänden, der architektonisch etwas
hermacht.
Auf einem sehr großen Platz ist gerade Kirmes mit dem üblichen, etwas
langweiligen Angebot: Autcscooter, Geisterbahn, Los- und Wurstbuden,
Eisstände und kleine Benzinautos, die auf einer Holzbahn Runde um Runde
zurück legen.
Doch gibt es immerhin zusätzlich ein antikes kunstvoll bemaltes
Pferdekarussel und einen großen Kirmeswagen, dessen Einrichtung ein
aufregendes Spiel ermöglicht, das ich noch nicht kannte.
Weil ich in diesem Spiel zwei Mal gut abschneide, liegen meine heutigen
handschriftlichen Aufzeichnungen in sehr deutlicher Form vor. Warum genau,
das wird der Leser gleich erfahren.
Für zwanzig Francs erwerbe ich vier Jetons. Der Spieler muss jeweils einen in
einen Schlitz werfen und automatisch springt eine Art Tennisball aus einer
Öffnung. Mit dem Ball zielt man auf ungefähr zwei Armlängen entfernte
Löcher, von denen mehrere in einer schräg geneigten Spielfläche
liegen. Zwölf dieser abschüssigen Spielebenen sind nebeneinander über die
ganze Wagenfläche verteilt, so dass im Höchstfall zwölf Spieler an dem
Wettbewerb teilnehmen können. Über den Spielflächen erstreckt sich längs
des Kirmeswagens eine Miniaturgalopprennbahn mit zwölf Spuren und den
zugehörigen Plastikpferdchen, die mit den durchlöcherten Spielfeldern
elektronisch oder mechanisch gekoppelt sind. Trifft der Ball ins Ziel, also in
irgendein Loch, so galoppiert das zugehörige Pferdchen nach vorn. Die
Strecke, welche es in einem Zug zurücklegt, hängt von den Punktzahlen ab. Es gibt Löcher mit hoher und niedriger Punktzahl und in der Folge lange und kurze Galoppstrecken für das betroffene Kunststoffross.
Ich habe dem Spiel vorher lange Zeit zugeschaut. Auch bei fünf Spielen
hintereinander hat nicht einmal der gleiche Spieler zwei Mal gewonnen.
Natürlich platzierten sich bei gleich bleibender Besetzung einige Spieler
häufiger im Vorderfeld.
Wie mir scheint, muss man den Ball sehr gefühlvoll über das Spielfeld rollen,
damit er möglichst bei jedem Versuch eins der Löcher trifft. Doch mein
Beobachterblick eröffnet mir nicht die ganze Wahrheit über die erfolgreichste
Spielmethode, wie mich später die Erfahrung lehrt. Es genügt nicht, gefühlvoll
vorzugehen, um zu gewinnen.
Meine zwanzig Francs finanzieren vier unterschiedlich erfolgreiche Renn-
teilnahmen.
Während ich versuche, meinen Ball möglichst rasch und oft in einem Loch zu
versenken, wird mir klar: "Es ist zwar nicht verkehrt, den Ball vorsichtig zu
bewegen, aber man muss zusätzlich die Mitte des Spielfeldes ins Visier
nehmen, denn dort liegen die Ziele mit den meisten Punkten."
Bevor ich das bemerke, liege ich im ersten Spiel auf dem letzten Platz und
im zweiten auf dem zehnten, also drittletzten. Den dritten Durchgang gewinne
ich. lm Vierten erringe ich immerhin den zweiten Platz.
Ich erhalte ein Gewinnlos, für das ich mir einen echt kirmesgoldenen Füller
und einen ebensolchen Kugelschreiber aussuche. Mit dem Füller
vervollständige ich die Tagebucheintragungen für gestern zu einem überaus
deutlichen handschriftlichen Ganzen und auch die über diesen Tag schreibe
ich sehr sauber auf.
Auf meinem heutigen Reiseabschnitt teste ich die berühmte französische
Küche in ihrer elsässischen Variante. Um 12 Uhr esse ich im "Restaurant du
Pêcheur", "Restaurant zum Fischer", an der “Rue Clemenceau",
"Clemenceaustraße" in Marckolsheim, und zwar "Choucrute Alsacienne",
"Elsässer Sauerkraut". Dazu trinke ich ein Viertel guten Weißwein und eine
Flasche Mineralwasser. Das ganze Mahl besteht aus einem schmackhaften
Sauerkrautberg, zwei sehr großen Scheiben Fleisch und einer Wurst. Der
Wein schmeckt lieblich, aber nicht zu süß, insgesamt hervorragend. Auch
das Sauerkraut finde ich vorzüglich, aber, da einfach zu viel, nehme ich
nicht alles zu mir.
Das Fleisch ist leider vollkommen versalzen. Aber auch in Deutschland
kommt es oft überwürzt auf die Gasthaustische. Das in Frankreich übliche
Baguette gehört gleichfalls zum Essen, wirkt aber nicht ganz frisch. Die
Pfälzer Kost in Hochspeyer mundete mir besser. Die Rechnung beim
"Pêcheur" beträgt 62,15 Francs, ca. 28 DM, nicht gerade nichts.
Ich trage eine kurze Hose, für Radler ein praktisches sommerliches
Kleidungsstück, und werde vielleicht deshalb von einer strammen, durchaus
ansehnlichen Dorfschönheit im hochgeschlossenen kleinen Blauen mit
raffiniertem Seitenschlitz etwas hochnäsig empfangen.
Sie dirigiert mich an einen abgelegenen Tisch, obwohl auch andere Gäste
keineswegs Pariser Mode zur Schau stellen. Dann fragt sie mich auf Deutsch
nach meinen Wünschen.
Wie überall während des bisherigen Frankreichaufenthalts brauche ich meine
bruchstückhaften Französischkenntnisse nicht zu strapazieren, um mich zu
verständigen. Ich ärgere mich nicht über die Platzierung am Katzentisch für
kurz behoste Alleinreisende und lese in einer Elsässer Zeitung einen Artikel
auf Französisch. Er handelt über das traurige Bild, das die deutsche
Fußballnationalmannschaft im spanischen Sevilla beim WM-Halbfinale am 8.
Juli bot, als der deutsche Torhüter den französischen Stürmer Battiston so
übel niederstreckte, dass der einige Vorderzähne verlor.
Mein Fahrrad habe ich, aus Schaden klug geworden, mit einer
verschließbaren schweren Stahlkette an einer Bank fest gebunden. Ich
schlinge das Metallschloss jetzt immer äußerst gründlich um mein neues
Raleigh, damit auch das Vorderrrad oder andere leicht zu demontierende
Einzelteile nicht gestohlen werden können. Auf materiellem Eigentum ruht
eben der Fluch der Verlustmöglichkeit.
ln der Jugendherberge lerne ich zwei nette junge Männer kennen. Einer von
ihnen klagt über das schlechte Wetter, Dauerregen, und findet Soloausflüge
auf dem Fahrrad nicht gut.
Mir hat bisher an vier von sieben Tagen die Sonne gelacht, an den übrigen
hat mich Petrus im Regen fahren lassen.
MONTAG, 26.7.1982, VON MÜHLHAUSEN BIS BASEL
Um 9 Uhr starte ich bei starkem Regen in Mühlhausen. Ich setze mir Altkirch
als Ziel. Leider verirre ich mich. Um 10 Uhr entdecke ich aber den richtigen
Weg. Bei strömendem Regen stoppt mich kurz vor Altkirch eine Reifenpanne.
Ein freundlicher Bauer bietet mir seine Remise als Reparaturwerkstatt an. Ich
nehme sehr gern sein großherziges Angebot an. Mitten im Regen hätte ich
nie einen Flicken auf den Schlauch bekommen.
Der Bauer, ein noch überaus rüstiger und pfiffiger Neunundsiebzig-
jähriger erzählt: "lch bin sozusagen Umsiedler. Mein erster Hof lag etwa 15
Kilometer entfernt, wurde jedoch im zweiten Weltkrieg von den Franzosen
zerstört.
lch bekam dafür eine Entschädigungszahlung und kaufte mit dem Geld
meinen jetzigen 50 ha-Betrieb. Ich besitze drei Trecker, halte die EG für gut,
auch die Mindestpreise für landwirtschaftliche Produkte, aber die Maschinen-
kosten steigen und steigen."
Jeden Sonntag fährt er mit dem Fahrrad zur Kirche und lockert so seine Knie
Früher besaß er ein Fahrrad mit Hilfsmotor, aber seitdem er dafür einen
Sturzhelm braucht, fährt er lieber mit einem normalen Fahrrad.
Das kann ich gut verstehen, denn auch ich finde Fahrradhelme ätzend. Krieg
hält der greise Landwirt für ein großes Unglück und auf seinem Hof baut er
vorzugsweise Mais an. Unter dem breiten Scheunendach hängen einige
Maiskolben zum Trocknen. "Hier trocknen sie besser", meint er, als ich ihm
von den alten Holzgerüsten zum Maistrocknen berichte, die ich am Vortag
weiter im Norden auf vielen Feldern sah. Von 1910 bis 1918 ist der Bauer zur
Schule gegangen. Soldat war er auch, aber nicht gern. Er klagt: "Alles hat
sich so verändert."
Nachdem ich den defekten Fahrradschlauch aufgepumpt in seinen Brunnen
getaucht habe, um die beschädigte Stelle zu finden, erklärt er mir wie man
richtig einen Platten flickt: “Erst die Stelle um das Loch herum ganz trocken
reiben, dann mit Sandpapier aufrauen und schließlich mit wenig
Gummilösung bestreichen. Danach warten, bis sie hart geworden ist und
einfach den Flicken auf die Stelle drücken."
Ich höre aufmerksam zu und verhalte mich so wie jemand, der noch nie
einen Fahrradschlauch geflickt hat, obwohl ich meine Schlauchreparaturen
schon gar nicht mehr zählen kann. Aber trotzdem ereignet sich Seltsames.
Ich habe wohl zu viel Gummilösung aufgelegt und prompt haftet der Schlauch
nicht. Danach verrichte ich die Flickarbeit exakt so, wie der Bauer
vorgeschlagen hat und wie ich sie selbst zigfach erfolgreich durchgeführt
habe und siehe da, alles klappt vorzüglich.
Der vorausgehende Fehlschlag und der anschließende Erfolg erfreuen den
Alten ganz besonders. Nachdem wir schon zuvor den Reifen gemeinsam
abgezogen hatten, befestigen wir ihn nun wieder zusammen auf der Felge.
Er will wissen: "Gibt es die Fahrradmarke 'Brennabor' noch?" Ich antworte:
"Weiß ich nicht genau. Den Namen habe ich noch nie gehört. Ich kenne aber
die Marken 'Vaterland' und 'Miele'." Die sind ihm ebenfalls bekannt, auch die
Marke "Raleigh" meines jetzigen Fahrrades.
Ein schwarzes "Vaterland"-Damenrad mit Schutznetz für Röcke und Kleider
am Hinterrad hatte ich mir anfangs der fünfziger Jahre zusammen mit meinen
beiden Schwestern Hanne und Doris, sowie meinem Bruder Klaus bei der
Kartoffelernte verdient. Mein ältester Bruder Wilhelm besaß bereits einen
Drahtesel. Pro Nachmittag zahlten die Landwirte drei DM. Dazu gab es
Kaffee und Kuchen auf dem Feld. Das Rad hatte ungefähr 80 DM gekostet.
Ein ähnliches und gleichfarbiges "Miele"-Rad benutzte meine Mutter zum
Einkaufen für unsere damals siebenköpfige Familie, Oma, Mutter und fünf
Kinder. Sie fuhr damit jahrelang jeden Mittwoch die vier Kilometer zum
Schwerter Markt und wieder zurück. Schwer bepackt und mit hochrotem Kopf
kam sie dann in Ergste an. Irgendwann fing das rechte Pedal an zu eiern und
erschwerte so die mittwöchlichen Schwertransporte.
Der alte Elsässer kommt auf die Tour de France zu sprechen: "Bernard
Hinault ist ein sehr guter Radrennfahrer und hat sie zu Recht gewonnen.
Deutsche Fahrer haben wohl nicht teil genommen."
Den Radrennfahrer Dietrich Thurau kennt er nicht, wohl aber dessen
bekannte deutsche Kollegen Rudi Altig, Hennes Junkermann und Rolf
Wolfshohl. Mein Gastgeber fragt mich, ob deutsche Fahrradschläuche noch
die alten Ventile mit Gummi hätten oder schon so moderne Rückschlagventile
wie mein nagelneues "Raleigh".
Ich zeige ihm stolz, wie schnell man dank Schnellspannern die Laufräder
meines Fahrrades ein- und ausbauen kann. Das gefällt ihm. Danach poltert
mir mein Werkzeug auf die Erde. lch sammle es mühsam wieder ein und
schüttle meinem Gesprächspartner die Hand zum Abschied. Bei strömendem
Regen breche ich in Richtung Altkirch-Fenette auf, weil ich Biel in der
Schweiz erreichen will, um von dort über Montreux am Genfer See weiter ins
italienische Aostatal zu reisen.
lch habe das Hinterrad falsch eingespannt. Es schleift. lch muss es mehrfach
nachstellen. Jetzt funktioniert aber die Schaltung nicht mehr. Die Kette kracht
und die Gänge wechseln, obwohl ich den Schalthebel gar nicht berühre. All
das geschieht natürlich im richtigen Moment. Inzwischen bin ich trotz
Regenschutz nass bis auf die Haut. ln den Schuhen steht Wasser. Durch
meine Brille sehe ich nichts als Regentropfen. Langsam wird meine Radtour
ungemütlich, zumal ich trotz springender Kette einige saftige Hügel hinauf zu
klettern habe. Es ist zum Verzweifeln. Dauernd muss ich das Fahrrad mitsamt
dem Gepäck herumdrehen, um nach dem Fehler in der Schaltung zu suchen,
was aber nicht zum Erfolg führt.
lch beschließe von den ltalienplänen Abstand zu nehmen und nach Basel zu
fahren. Dahin sind noch 30 Kilometer zurück zu legen. Ich durchquere
landschaftlich sehr reizvolles Hügelland. Aber, was nützt das alles, wenn der
Regen rinnt?
Am Straßenrand sehe ich häufig Walnuss- und Esskastanienbäume. lch bin
mir aber bei den Baumarten nicht ganz sicher. Das Kettengeknatter stört mich
und ich halte bei einem Fahrradmechaniker. Der meint, die Ketten neuer
Fahrräder müssten erst eingefahren werden. Ich halte seine Ansicht für wenig
hilfreich und außerdem für falsch.
Mein letztes französisches Geld habe ich in Saint Louis gegen Schweizer
Franken umgetauscht. Endlich wieder eine solide Währung!
Schließlich Basel! In der Jugendherberge, groß, sauber und praktisch gebaut,
lege ich mich trocken, so gut es geht, und zwar unter einem Heißluftgerät,
das eigentlich für nasse Hände bestimmt ist. ln der direkt am Rhein
errichteten Jugendherberge kostet eine Übernachtung 8,50 Franken.
Fast mein ganzes Gepäck hat Regenwasser abbekommen. Ich verteile die
Kleidungsstücke zweckmäßig im Raum, damit es besser abläuft und
verdunstet. Ich ziehe mich um, repariere gemäß Raleigh-Bedienungs-
anleitung die Schaltung, esse ein Tafel Schokolade für 1,40 Franken und mit
Schokolade überzogene Nüsse. Dann schlafe ich ein wenig.
lnzwischen hat es aufgehört zu regnen. Um 20 Uhr wandere ich am Rhein
entlang und über den Münsterplatz zur mittleren Rheinbrücke, um Basel ein
Bisschen kennen zu lernen.
Mir fallen die vielen schönen Brunnen aus weißem Stein auf, vielleicht
Marmor, eventuell Kalkstein, die teilweise aus dem 18. Jahrhundert stammen.
Das Münster besitzt einen eindrucksvollen Kreuzgang und eine Statue des
Reformators Ökolampad, der eine steinerne Bibel in der Hand hält, ziert es
zusätzlich. Die protestantischen Frommen gingen mit den katholischen
"Glaubensbrüdern" und ihren kirchlichen Einrichtungen in der ersten Zeit
nach der Reformation anscheinend wenig brüderlich um. So wurden die
Kunstwerke der prächtigen katholischen Predigerkirche, der ersten
vorreformatorischen Predigtkirche Basels, zunächst fast vollständig von
protestantischen Bilderstürmern zerschlagen. Später nutzte sie die
französische reformierte Gemeinde für ihre Gottesdienste. Anschließend
fungierte sie als Salzlager. Heute dient sie wieder Katholiken als
Andachtsraum beim Ausüben ihrer abergläubischen Rituale.
Auch die alte Baseler Universität prunkt mit einem imponierenden
Hauptgebäude. Sie wurde im fünfzehnten Jahrhundert von Papst Pius ll.
gegründet.
Zur Zeit der Renaissance war, man glaubt es kaum, sogar ein Papst
fortschrittlich. Die Wiedergeburt der Wissenschaften und Künste auf der
Basis des Griechischen, Lateinischen, Hebräischen und des Wissens der
antiken griechischen Naturphilosophen Thales von Milets, Anaximanders,
Euklids, Pythagoras' und vieler anderer führte im vierzehnten, fünfzehnten und
sechzehnten nachchristlichen Jahrhundert außerdem zur Wiederbelebung
der Naturwissenschaften, Physik, Biologie, Chemie, Astronomie, der Medizin
und der Mathematik.
Ausgehend von Florenz, Neapel, Rom, Urbino, Rimini, Ferrara, Padua,Venedig, Mantua, Mailand und anderen blühenden italienischen Städten traten die Renaissance und ihre wieder entdeckten griechischen und römischen Autoren in neu gegründeten Schulen, Kollegs und Akademien, mittels neuer Lern- und Lehrmethoden sowie neuer Bücher,
die Erfindung des Buchdrucks machte es möglich, ihren Siegeszug durch
ganz Europa an. Traditionelle Universitäten wie die Pariser Sorbonne, Oxford
oder Bologna stagnierten in dieser Zeit didaktisch, intellektuell und
wissenschaftlich.
Nachdem ich über die mittlere Rheinbrücke auf rechtsrheinisches Stadtgebiet
gewandert war, fand ich neue Stadtviertel im weltweit uniformen
Großstadtgewand. Ich esse einen Salat Frutti di Mare, Meeresfrüchtesalat, in
einem Café an der mittleren Rheinbrücke, das gerade eine italienische
Woche veranstaltet. Hier streiten sich eine Kellnerin und eine
vornehm gekleidete ältere, etwa siebzigjährige Dame um Geld, genau um drei
Franken. Die Kellnerin behauptet, die Frau habe schon oft zu wenig Geld bei
sich gehabt. Ihre Gegnerin dagegen antwortet: "Nein, ich zahle immer alles
und brauche mir keine Unterstellungen bieten lassen." Die menschliche
Umwelt lauscht höchst interessiert. Es wird empfindlich kalt. Der Rhein führt
gelbes Hochwasser mit abgerissenen Zweigen und Ästen. Basel bei Nacht
wirkt recht romantisch. Licht bestrahlt mittlere Rheinbrücke und
Münsterplatz, der mit Plätscherbrunnen und Bäumen besonders anheimelnd
wirkt. Auch der Brunnen mit Figur vor dem Kunstmuseum beruhigt.
Basel ist übrigens eine der wenigen europäischen Großstädte, die man
durchqueren kann, ohne jeden Schritt zu bedenken, damit man nicht mit den
Füßen in Hundescheiße tritt. Hohe Steuern könnten vielleicht das Hundescheißeproblem in europäischen Großstädten lösen. Aber Köter sind
nun mal die heiligen Kühe der Europäer. Ich höre jetzt, um 23 Uhr 50, auf zu schreiben. Bis 1 Uhr will ich noch einen Jerry Cotton lesen, ja, wahrhaftig.
Neben mir unterhalten sich zwei Leute über das teure Schweizer Offiziersmesser. In der "Basler Zeitung" steht heute etwas über das zunehmende Sektenunwesen und über Hochwasser in Basel und Umgebung.
Die Baseler Jugendherberge finanzieren übrigens Hoffmann-La Roche und
Ciba-Geigy, zwei große Schweizer Pharmakonzerne, die Baseler Sparkasse
und eine Gesellschaft zur Förderung des Guten und Schönen. Was das wohl
für eine Organisation sein mag?
DIENSTAG, 27.7.82, VON BASEL NACH BIEL , 10 UHR 30 bis 17 UHR, ZWISCHENDURCH EINE STUNDE PAUSE
Es ist zwar bewölkt, aber Regen fällt nicht. Später scheint sogar die Sonne.
Angenehm kühles Wetter bringt ideale Radtourbedingungen. Schwierig war
es, aus Basel hinauszufinden. Die Strecke durch den Schweizer Jura gefällt
mir. Ich sehe viele kleine Wasserfälle und jede Menge weißes Gestein. Es
ähnelt dem Material, aus dem zahlreiche Baseler und Bieler Brunnen
bestehen. Ansonsten plätschert überall sehr klares, grünliches Wasser. An
den Vortagen hatte es heftig geregnet.Unterwegs brauche ich nur eine etwas
schwierigere Steigung zu meistern, die über ca. 800 Meter Höhe führt. In
den Supermärkten finde ich keine Buttermilch. Während einer Pause, die
eine Stunde dauert, lese ich den "Spiegel", esse ein paar Kirschen und trinke
dazu Traubensaft.
Die letzten 20 Kilometer bis Biel führen nur bergab. Sehr erfreulich! Heute hat
das Fahren wieder Spaß gemacht und weil so gutes Wetter war, habe ich von
dem Plan Abstand genommen, nachhause umzukehren.
Biel erscheint mir wie eine gesichtslose moderne Großstadt, die überall auf
der Welt liegen könnte und wenig charakteristisch für die Schweiz.
Abends sehe ich mir bei unangenehm tiefen Temperaturen die Stadt an, finde aber
nichts Großartiges außer der Lage in der Gebirgs- und Seenlandschaft.
Die Ansiedlung liegt an einer hohen Felswand neben dem Bieler See, der mir
relativ groß vorkommt. Es werden an jedem Tag außer montags Drei-Seen-
Schiffsfahrten über Bieler, Murtener und Neuchateler See veranstaltet. Die
Binnenkreuzfahrt kostet 18 Franken und dauert von 10 bis 18 Uhr.
Ich beende den Abend in einer der vielen Bieler Pizzerias mit einem
Meeresfrüchtesalat.
In der Jugendherberge unterhalten sich einige Holländer mit einem
Marokkaner auf Französisch und Englisch. lch lese in einer 1981er Ausgabe
der Zeitschrift "Schweizer Beobachter". Sie ist unterhaltsam, kritisch und
satirisch. Ein Schriftsteller gewährt Einblicke in seine Arbeitsweise. Das
Engagement der Kommunebewegung "Longo Mai" in Südamerika erfährt
Kritik. "Longo Mai" stammt aus der provenzalischen Sprache und bedeutet:
"Es möge lange dauern!". 1973 zogen ideologisch beeinflusst von der
1968er Studentenbewegung Lehrlinge, Schüler und Studenten nach
Südfrankreich auf einen verlassenen Hügel und gründeten dort eine
landwirtschaftliche Kommune, die basisdemokratisches, umweltfreundliches,
naturverbundenes, solidarisches und selbstbestimmtes Zusammenleben
ermöglichen sollte. Bald gab es zahlreiche Ableger der Urkommune in vielen
Ländern.
Die Bieler Jugendherberge bietet eine ziemlich enge Unterkunft. Alle Gäste
schlafen in Reihen nebeneinander. Für 1,5 Minuten Duschen
sind zwanzig Rappen zu entrichten. Übernachtung und Frühstück kosten 8,50 Franken
MITTWOCH, 28.7.82, VON BIEL NACH MONTREUX AM GENFER SEE
Um 9 Uhr verlasse ich Biel und begebe mich zunächst über Bühl nach
Aarberg. Bei wenig Verkehr plagt mich eine saftige Steigung. In Deutschland
gab es aber vorher schon Gewaltigeres.
Zum ersten Mal sehe ich rechts und links der Straße typische Schweizer
Häuser mit geschwungenen Holzgiebeln, umlaufenden Holzveranden,
Brunnen aus weißem Stein und daneben ordentlich aufgeschichtete
Misthaufen.
Nach dem ersten schmerzhaften Stich bergauf, ist es dann aber schon wieder
vorbei mit den Bergstrecken im Gebirgsland Schweiz. Bis Aarberg durchquere
ich eine weite fruchtbare Ebene, die durchaus norddeutsche Züge aufweist.
Immer wieder säumen die stattliche Schweizer Häuser den Straßenrand. Sie
enthalten auch Ställe und Scheunen für unterschiedliche Zwecke.
Die Gebäude zeugen gut gepflegt, rosen- oder weinumrankt und mit üppigem
Blumenschmuck ausgestattet, oft von hart erarbeitetem Wohlstand und gut
organisiertem Alltagsleben. Riesige Holzstapel unter den überkragenden
Dächern und gut gefüllte überdachte Holzspeicher belegen die Fähigkeit,
sogar kältesten Schnee- und Frostwintern gut durchwärmt zu widerstehen.
Dieser Landstrich der Schweiz wirkt im Gegensatz zum Gebiet zwischen
Basel und Biel, wo hin und wieder Industrieanlagen und -gebäude von Metall-
und Eisenwerken Fremdkörper in der Natur bilden, wesentlich reicher.
Am Anfang der Tagesetappe zeigt der Himmel ein wolkiges Gesicht. ln der
Kleinstadt Moudon aber scheint die Sonne sehr warm vom Himmel. Moudon
könnte man als Gebirgssiedlung bezeichnen. Es liegt nämlich zwischen
Bergen, die allerdings kaum alpinen Charakter zeigen.
Ich kaufe Pflaumen. Die Hälfte davon ist angeschimmelt, wie ich leider zu
spät bemerke. Außerdem besorge ich noch Milch und ein großes Stück
Wassermelone. Ihr Fleisch leuchtet sehr rot und enthält jede Menge Saft.
Alles ist hier verglichen mit Deutschland recht teuer. ln Moudon ruhe ich mich
von 13-15 Uhr auf einem sehr schönen, blumen- und brunnenreichen Platz
aus. Ich verlasse die sehr verkehrsreiche Straße nach Lausanne und biege
auf die Nebenstrecke nach Oron ab.
Hinter Moudon wartet die zweite Steigung des Tages. Sie ist steiler als die
Erste. Die Zwölfgangschaltung meines neuen Raleigh-Rades bewährt sich
glänzend. Es beginnt eine ziemlich gebirgige Landschaft. An den Berghängen
weiden kräftige Schweizer Kühe. Sie tragen große Kuhglocken, deren Töne
aus allen Richtungen zu vernehmen sind.
Die Berge erscheinen mir schon etwas gewaltiger als die im Sauerland, aber
immer noch mittelgebirgig. Oft durchquere ich ansehnliche, reiche Dörfer mit
Heile-Welt-Charakter. Auf der Straße jedoch liegen Fliegen umschwirrte tote
Katzen. Von Autos zerquetschte Vögel und Igel zähle ich schon gar nicht
mehr.
Um vier Uhr erreiche ich die Abfahrt zum Genfer See, den Dunst einhüllt.
Trotzdem glitzert das Wasser in der Sonne. Gut zu erkennen sind die breiten
Verkehrsschneisen, die nach Vevey und Montreux führen. Auf Serpentinen
geht es durch Weinberge abwärts. Bei Montreux umrahmen den Genfer See
graue, steil empor schießende Felsen, auf denen zum Teil Bäume wachsen.
Zur Zeit aber wabert Wolkennebel um die Bergspitzen. Das große Gewässer
trägt südlichen Charakter. Am Ufer rascheln einige Palmen.
Von weitem sehe ich eine Autobahn. Sie läuft architektonisch imponierend
auf gewaltigen Betonstelzen an einer Bergwand entlang und zerhackt die
Landschaft.
Die Jugendherberge Montreux' liegt unter einer Brücke der Bahnlinie
Montreux-Lausanne. In der Nacht donnern einige Züge mit Iautem Krachen
vorbei. Montreux macht einen pompösen Eindruck, ganz Feudalbad mit
protzigen Hotels, die mit Stuckverzierungen und riesigen Kronleuchtern
prunken. Die Promenade am Genfer See entlang gefällt mir allerdings sehr:
Alte Bäume, Trauerweiden, Platanen, die schon erwähnten Palmen, jede
Menge Blumen und Brunnen. Einige etwas verschlampte Hippies passen
nicht ins Bild. Sie schlafen und essen in einem alten Musikpavillon.
lm klaren Seewasser schwimmen kleine Fische, auf ihm Enten und
Schwäne. Viele Spaziergänger bevölkern die Promenade. Am Abend
wandere ich mit jemand am Seeufer entlang, der eine Alpentour mit dem
Fahrrad unternimmt. Heute kam er aus Zermatt. Bisher musste er noch bei
keinem Berg absteigen. Kälte, Nebel, Schnee und Nässe erschweren die
Passüberquerungen. Auch die vielen Tunnel stellen nicht zu unterschätzende
Gefahrenpunkte und Hindernisse dar. ln ihnen Iärmt jeder Kleinwagen mit der
Lautstärke eines Panzers.
Auf einer Bank an der Promenade strecke ich mich ein wenig zum Schlafen
aus. Anschließend lese ich die Frankfurter Allgemeine, weil es keine andere
deutsche Zeitung gibt. Abends gönne ich mir in einer Pizzeria ein großes Bier
samt Steak mit Fritten für 13 Franken. Die Übernachtung in der
Jugendherberge kostet einschließlich Frühstück 11 Franken.
Es besteht aus 3 Scheiben Brot, einem Kännchen Milch, Kakao oder Kaffee,
je einem Würfelchen Butter und Käse und einem Näpfchen Marmelade. In
den Schweizer Jugendherbergen ist alles gut organisiert wie in den
deutschen. Es geht nicht so locker zu wie in Frankreich, wo nicht jede
Scheibe Brot abgezählt wird.
DONNERSTAG, 29.7.82, MONTREUX, WANDERUNG IN DER UMGEBUNG
Ich bleibe noch einen Tag in Montreux, weil so schönes Wetter ist und
beschließe an Schloss Chillon vorbei, über Villeneuve zur Rhone und
Bouveret zu wandern.
Vorher aber kaufe ich mir den "Stern", die "Süddeutsche Zeitung" und die
"Frankfurter Allgemeine". Die Zeitungen lese ich später auf einer Bank in
Villeneuve.
Die "FAZ" stänkert gegen die "Grünen", denen sie antiparlamentarisches und
gegen die Marktwirtschaft gerichtetes Verhalten sowie selbstverständlich, oh
Graus, Sozialismus vorwirft.
"FAZ" und "Süddeutsche" berichten ausführlich über den Libanon, der "Stern"
über das beliebte Thema "Sexualverbrechen und -verbrecher", wobei
natürlich wie immer das gute alte "Böse-Onkel-Klischee" hervor gekramt wird.
Hinter jedem Baum steht ein Kindermörder bzw. ein "Böser-Onkel".
Während ich mich auf der Bank an einem sehr schönen Brunnenplatz
Villeneuves von 9-13 Uhr sonne und in den Zeitungen informiere, verdüstert
sich auf einmal der Himmel. Von den Bergen steigt Nebel herab und es sieht
nach Regen aus.
Ich breche auf. Hinter Villeneuve durchquere ich ein morastiges
Naturschutzgebiet. Dann schreite ich auf einer Brücke über einen schmalen
Kanal und passiere mehrere Teiche, Mais- und Möhrenfelder. Der Mais
wächst so hoch, dass man sich darin gut verstecken kann. Die Möhrenernte
ist in vollem Gange. Das Gebiet zwischen Villeneuve und Bouveret ist Sumpf-
und Ackerlandschaft, die ein wenig der Umgebung des Zwischenahner
Meeres bei Oldenburg in Niedersachsen ähnelt.
Mir fallen viele Campingplätze auf, an denen einige Schilder die Aufschrift
"complet", "voll" tragen. Alle Wanderwege sind hervorragend ausgeschildert.
Kurz vor Erreichen der Rhone erfreut meine Ohren noch ein längeres
Kuhglocken-Konzert. Sie ist hier ein recht breiter Fluss mit starker Strömung
und charakteristischem bläulich-weißen Wasser. Es gibt viele Jachthäfen.
ln Bouveret kaufe ich teures Obst. Um 16 Uhr trete ich den Rückweg an. Um
18 Uhr bin ich wieder in Villeneuve. Inzwischen scheint die Sonne wieder und
die Berge sind gut erkennbar. lch habe einen ganzen Film voll geknipst. Vor
mir steht sehr weit im Seewasser ein Baum. lch werde mich noch ein
Bisschen sonnen und ein wenig lesen.
Bei meinem Spaziergang habe ich überlegt, wie man unser Haus umbauen
könnte und eine gute Lösung gefunden.
FREITAG, 30.7.82, VON MONTREUX BIS FRIBOURG
Um 8.30 Uhr verlasse ich Montreux und fahre durch das Rhonetal in Richtung
Aigle. Das Wetter ist bei starkem Gegenwind durchwachsen. Bis Aigle
bewege ich mich auf einer flachen Strecke. Die Straße umgeben Weinberge,
die am Fuße schroff aufragender Bergriesen liegen. Bei Aigle, einer
lebendigen Kleinstadt, findet ein Weinfest statt. Es gibt in der Nähe auch ein
Schloss.
Ab Aigle fahre ich ungefähr 30 km zum Pass des Col des Mosses in ca. 1450
Meter Höhe empor. Eine serpentinenreiche Straße bietet eindrucksvolle
alpine Ausblicke, obwohl sie lediglich durch die Waadtländer Voralpen führt
und nur moderate Höchststeigungswerte von ca. 8% aufweist. Die
Passstraße wurde in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts angelegt und
früher einmal regelmäßig von Postkutschen befahren.
Ich meistere den Alpinkurs recht gut im kleinsten meiner zwölf Gänge. Die
Sonne beginnt zu scheinen und ich fange an zu schwitzen. Die Straße ist
sehr schmal und bietet nur wenig Ausweichmöglichkeiten. Autobusse fahren
sehr dicht an mir vorbei.
Ich ziehe mein Hemd aus und komme nur schwer wieder aufs Rad, denn die
Spurthaken an den Pedalen behindern mich beim Aufsteígen. An den Seiten
weist mein Weg steile Felswände und tiefe Abbrüche auf. lm Tal schäumt ein
Fluss. Ich fotografiere die aufregende Landschaft. Gegenüber quält sich eine
kleine Bergbahn nach oben.
lch genieße wunderbare Ausblicke auf grüne Wiesen und hinab donnernde
Wasserfälle. Der Berg zieht sich neben zahlreichen Wassersprudeln sehr in
die Länge. Unter mir und über mir verlaufen unzählige Serpentinen.
Betondächer und dicke Mauern schützen die Straße an einigen Stellen vor
Steinschlag.
Ich trinke am Bergrestaurant eine kleine Flasche Mineralwasser zum Preis
von zwei Franken. Es geht immer weiter aufwärts und mir wird immer heißer.
Einige Radfahrer ohne Gepäck überholen mich. Wer mich kennt, weiß, wie
wenig mich das begeistert.
Um 11 Uhr 30 schiebe ich eine Pause an einem Bergcafé ein. Für zwei
Gläser Milch und eine Flasche Mineralwasser knöpft man mir mehr als fünf
Franken ab. Es ist sehr heiß. Die Tour strengt mich allmählich an. Ich merke
die dünne Höhenluft. Um 12 Uhr 30 beende ich meine Rast. Um 13 Uhr
komme ich auf den 1450 m der Passhöhe an. Hier knipse ich mein Fahrrad
unter dem Schild mit dem Passnamen und der Höhenangabe, um meine
weltmeisterliche Leistung zu dokumentieren. Die Strecke war zwar
beschwerlich, aber doch leichter, als ich vorher gedacht hatte.
Schon am Berghang und schließlich vom Gipfel blicke ich in eine Welt, die
aus einem Heidifilm zu stammen schien. Reiche Bürger setzen die alten
Schweizer Häuser wieder in Stand. Zum Teil entstehen Nachbauten. Höfe
und grasende Kühe über schrecklichen Abgründen beunruhigen mich als
Flachländer ein wenig.
Dann geht es bis Bulle bei starkem Gegenwind über eine teilweise in den Fels
gefräste Passstraße dreißig Kilometer nur bergab. Ich trinke äußerst
schmackhaftes kühles Wasser aus den vielen Brunnen am Straßenrand und
komme an vielen Teichen, kleinen Seen und Flüsschen vorbei.
Um 15 Uhr 30 erreiche ich Bulle, eine geschäftige Mittelstadt mit
wuchtiger Burg, die dicke Mauern umgeben. An der Burg pausiere ich und
nehme Pfirsiche und Joghurt zu mir. Leider umschwirren mich widerwärtige
kleine Fliegen, die schon bei der Langsamfahrt zum Col de Mosses lästig an
mir klebten.
Hinter Bulle bin ich von der Hauptstraße rechts in die Richtung Riaz/Fribourg
abgebogen. Ein See kommt schnell in Sicht. Ansonsten bildet die Straße bei
stetigem Auf und Ab eine Kette mit kleinen Heile-Welt-Dörfern.
Es regnet ein Bisschen, aber ich entkomme der Regenfront und versuche
Magermilch zu trinken, die scheußlich nach Pappe schmeckt. Ich schütte die
Brühe schließlich weg und gleite irgendwann über die Hochbrücke der Sarine.
Um 16 Uhr 30 erreiche ich Fribourg. Die dortige Jugendherberge ist ein
Bunker.
Die Übernachtung kostet nur 6,50 Franken. Es gibt aber kein Frühstück und
keinen Stempel für den Jugendherbergsausweis. lch lese "Nette Leute" von
Otto Jägersberger und Zeitungen in einem Restaurant. Außerdem trinke ich
ein Mineralwasser zu einem gemischten Salat, Preis zusammen 8,20
Franken.
Dann besichtige ich die Altstadt, die in einem Felsenkessel an der Sarine
liegt. Dort findet man wunderschöne uralte Brunnen aus dem 16. Jahrhundert
mit Figuren von Hans Giehn und die St. Nikolaus Kathedrale, deren Bau im
13. Jahrhundert begonnen und durch einige Folgejahrhunderte fortgesetzt
wurde.
Überall sieht man winklige Gassen, Treppen, Bogengänge und Bäume. Am
Plätzli schimmert ein Wasserbecken. Die Berner Brücke, eine
Holzkonstruktion, ist überdacht. Vor dem Maison de la Ville, dem Rathaus, hat
man Tische und Bänke aufgebaut. Fleischbrater bieten ihre Ware an. lch
erwerbe ein Würstchen mit Brot für 3 Franken und verspeise es behaglich.
Eine Kapelle spielt. ln einer Seitengasse tritt ein Straßentheater auf. Ich fühle
mich ein wenig ins Mittelalter zurück versetzt. Am Museum für Kunst und
Geschichte und der Universitätsbibliothek vorbei kehre ich in die
Jugendherberge zurück.
Die Universität mit ihren funktionalen modernen Gebäuden empfinde ich als
relativ klein. Auf ihrem Gelände habe ich keinen Brunnen bemerkt, schon
etwas merkwürdig in dieser Stadt der Brunnen.
Obwohl z. B. Nürnberg eine durchaus ansehnliche Altstadt besitzt, halte ich
die Fribourger für schöner.
SAMSTAG, 31.7.82, VON FRIBOURG NACH BASEL
Ich stehe um 8 Uhr 30 auf. Es regnet. Ich besorge mir ein Frühstück: Äpfel,
Pfirsiche, Milch und Joghurt. Während ich esse, lese ich von Alfred Andersch:
"Piazza San Gaetano", ein Büchlein über Neapel. Es erschien bereits in den
50er Jahren und beschreibt die soziale, wirtschaftliche
und gesellschaftliche Misere dieser Stadt im politisch und wirtschaftlich
herunter gekommenen, unterentwickelten und von der Mafia drangsalierten
italienischen Mezzogiorno. Bis heute hat sich an den beinahe unerträglichen
Zuständen in Neapel nichts Entscheidendes geändert.
Andersch versucht, die Verhältnisse zu verstehen. Seine Darstellung kommt
ohne den pädagogischen Zeigefinger aus und wird ihrem Gegenstand
gerecht.
Es regnet immer noch und deswegen vervollständige ich vorerst mein
Reisetagebuch. Ich beende meine Arbeit, aber am Wetter hat sich nichts geändert.
Mittlerweile ist es 10 Uhr 15.
Ich will weiter und schwinge mich bei Regen um halb elf in den Sattel.
Zunächst fisselt es ein wenig und bis Bern rolle ich leicht bergab.
lm Außenbezirk der Stadt nehme ich einige Mietskasernen wahr, aber auch
die bemerkenswerte Kuppel der Universität.
Kurz nach Bern kreuzt bei Zollikon die Eisenbahn die Straße nach Solothurn.
Der Regen tropft dichter.
Ich fahre die Schienen vorsichtig an, aber nicht geschickt genug.
Der Hinterreifen rutscht unter dem Gewicht des Gepäcks seitlich weg.
Ich stürze.
Hinter mir wartet eine ziemlich lange Autoschlange.
Ich rapple mich rasch auf, ziehe das Fahrrad von der Straße, lehne es an den
nächsten Baum und registriere die Unfallschäden:
Der Lenker ist verdreht, das rechte Lenkerband zerrissen, die linke
Bremsgriffhalterung verbogen.
Ein gelbes Glasplättchen hat sich von der linken Pedale gelöst.
Einen Kratzer an der rechten Hand und eine Beule am linken Schienbein
trage ich selbst davon.
Ich rücke Lenker und Bremshalterung wieder gerade und befestige das
Glasplättchen erneut an der Pedale. Das Lenkerband kann ich nicht reparieren,
da mir Ersatz fehlt. lch zupfe es, soweit möglich, an seinen alten Platz.
Bei immer stärkerem Regen mache ich mich auf den Weg nach Solothurn.
Noch mehrmals kreuzt die Bahnlinie die Straße. lch
überquere die Schienen nur noch im rechten Winkel und äußerst behutsam.
Hügelige, liebliche Landschaft, Dorf an Dorf, sehr hübsche Schweizerhäuser
säumen den Weg. Von oben stürzen Regenfluten hinab: Regen, Regen,
Regen. Wasser schmatzt in meinen Schuhen obszöne Rülpser. Meine Zehen
und Finger plagt Kälte. Der kleine Finger der linken Hand stirbt ab. Hinter
Solothurn wächst der kalte Wasserfall um mich herum noch an. Meine leichte
rote Regenjacke und alle anderen Kleidungsstücke, die ich trage, sind längst
komplett durchnässt, ekelhaft. Nur das Hinterteil meiner Hose und die
Oberfläche des Sattels weisen noch halbwegs trockene Zonen auf.
lch will heute Liestal erreichen und biege deswegen kurz nach Solothurn in
Richtung Balsthal ab. Ein Bus überholt mich mit Minimalabstand. Seine
Räder wirbeln einen Wasserschwall auf. So dusche ich zwar kalt und
kostenlos, werde allerdings keineswegs sauberer. Zu allem Überfluss muss
ich mich bis Langenbruch auch noch eine lang gezogene Steigung herauf
quälen.
Inzwischen ist es vier Uhr geworden und ich bin hungrig. Bei Langenbruch
kehre ich feucht und kalt in einer Gastwirtschaft ein. Es handelt sich um ein
typisches Schweizer Gasthaus mit charakteristischen Schweizer Gastbauern,
die nur alle zehn Minuten ein paar kostbare Worte fallen lassen.
Es gibt leider keine warmen Speisen. lch trinke zwei Cremecafés. Dazu
bestelle ich einen Salamiteller, der sieben Franken kostet, und aus vier
Brotstückchen und einigen Wurstscheiben besteht.
lch verlasse meinen Aufenthaltsort samt seinen Schweigebauern um 16 Uhr
30 und stelle fest, dass mein Fahrrad nicht abgeschlossen war. Vor lauter
Hunger hatte ich ganz vergessen, es zu sichern. Ich musste aber unbedingt
etwas essen, denn die Körpermaschine fing an zu rebellieren.
Soweit durch die Regentropfen auf meinen Brillengläsern sichtbar wies die
vorüber ziehende Landschaft zwischen Solothurn und Langbruch graue,
Wolken verhangene Felsen, zahlreiche rauschende und sprudelnde Bäche
nebst vielen schäumenden Kleinwasserfällen auf.
Nachdem ich das letzte Stück der Steigung bewältigt habe, beginnt eine
lange Abfahrt. Der eisige Fahrtwind verwandelt meine Oberfläche in eine
Gänsehaut. Aber, oh Wunder, den finsteren Nachmit1agshlmmel erhellt
ein weißes Wolkenfeld, das hier und da Sonnenstrahlen durchqueren.
Die Luft wird wärmer. Der teuer erworbene Treibstoff der Salamiplatte setzt
neue Bewegungsenergie frei. Kalte Muskeln und Kniebeschwerden spielen
keine Rolle mehr. Die letzten Kilometer bis Liestal spule ich im Renntempo
ab. Die Wind- und Regenjacke knattert. Hose, Hemd und Schuhe trocknen
allmählich. Die Füße allerdings kleben noch länger feucht, aber nicht mehr
kalt am Leder.
Um 17 Uhr 15 erreiche ich die lebendige Kleinstadt Liestal.
Gegenüber der Kantonalbank sollte nach meinen Informationen die
Jugendherberge sein, war sie aber nicht.
Mir bleibt nichts anderes übrig, als weitere 25 Kilometer nach Basel unter die
Räder zu nehmen. Ich bin echt sauer, aber trotz der fortgeschrittenen Zeit in
Bestform und halbwegs trocken. Das Wetter bessert sich außerdem. So
donnere ich auch den letzte Streckenabschnitt hinunter und erreiche um 18
Uhr 30 die Jugendherberge in Basel.
lch dusche und ziehe mich um. Nachdem ich mich mit Milch und Joghurt
gestärkt habe, treffe ich Leute, die mir schon in der Straßburger
Jugendherberge begegnet waren.
Anschließend begebe ich mich in die Stadt und spaziere zuerst am
Mühlgraben auf dem linken Rheinufer entlang.
Ich passiere eine alte, aber renovierte Burg und - das gibt es hier wahrhaftig
noch – eine Flussbadeanstalt.
Das Rheinwasser strömt hier anders als in Köln oder Düsseldorf weißlich-
blau und scheint mir recht klar zu sein, so dass die Flussbadeanstalt
durchaus Schwimmvergnügen bereiten mag.
Der Farbton beruht wahrscheinlich auf dem Schnee- und Gletscherwasser,
das dem Rhein im Oberlauf zufließt.
Auch die Rhone in der Nähe des Genfer Sees ist ähnlich gefärbt wie der
Rhein in Basel.
Ich wechsle auf die andere Rheinseite und bewege mich zurück zur mittleren
Baseler Rheinbrücke. Auf der einladenden, sehr ansehnlichen Baum
bestandenen Rheinpromenade findet ein Fest des Baseler Fischerklubs statt.
Die Festbesucher essen besondere Baseler Bratwürste.
Ein Spielmannszug produziert knattrige Knüppelmusik und der Karateclub
Basel zeigt seine Künste.
Außerdem bringen besonders begabte Mitglieder den begeisterten
Zuschauern bei, wie man brutale Vergewaltiger und Attacken mehrerer
Personen elegant und erfolgreich mit Schlägen abwehren kann, die absolut
tödlich sind, wenn man sie "richtig" anwendet und nicht nur simuliert.
Ein mikrophonbewehrter Sprecher legt auf diese Tatsache den größten Wert
und verkündet sie mehrfach, damit sie auch der letzte Zuhörer würdigen
kann, wenn er will.
Spanische Musiker singen Lieder zur Gitarre.
Ein Pantomime verwickelt vor einem Uferrestaurant Passanten in lustige
Spielchen, mich auch.
Ich soll in einem Passantenorchester ohne lnstrumente die Bassgeige
spielen, was mir trotz mangelnder Noten- und Geigenkenntnisse ganz
hervorragend gelingt und mir ein dickes Lob des Gestenkünstlers einträgt.
Mir gefallen das lebendige Treiben auf der Uferpromenade und die warme
Abendluft sehr.
Basel hat mir schon bei meinem ersten Aufenthalt zugesagt, jetzt aber wächst
mir diese Stadt ans Herz. Am anderen Ufer versammeln sich Jugendliche rund um die Barfüßerkirche.
Die Franziskaner haben sie im 13. Jahrhundert erbauen lassen.
Protestantische Reformatoren wandelten sie im 15. in ein Salzlager um. lm
19. diente sie als Kaufhaus und heute beherbergt sie ein Museum. Am
Rathausplatz spielen rund um das fantastisch bemalte rote Rathaus
Jugendliche Frisbee und vor der Börse plätschert Wasser melodiös in einem
prächtigen Brunnen.
Heute und morgen finden in Basel übrigens die Schweizer
Wasserskimeisterschaften statt.
So endet also ein Sturz- und Regentag an einem wunderbaren
Sommerabend in einer ebensolchen, vitalen, architektonisch, kulturell und
landschaftlich äußerst bemerkenswerten Stadt.
Wie schön und wie schrecklich, dass nichts bleibt, wie es ist!
SONNTAG, 1.8.82, VON BASEL NACH FREIBURG
Um halb zehn morgens nehme ich ein wenig traurig Abschied von Basel. Ich
hoffe, bald wieder einmal dorthin zu kommen. Aber wer weiß schon, wohin
sein Fahrrad künftig rollt? Es sollte bis zum Oktober 2012 dauern, 30 Jahre,
bis ich als alter Mann von 68 Jahren Basel wieder sah, aber nur flüchtig aus
dem Busfenster auf einer Busreise nach Sizilien.
Über Weil am Rhein, das mir eher uninteressant erscheint,
fahre ich ohne jegliche Passkontrolle in die Bundesrepublik ein.
Dann bewege ich mich über Kandern und Badenweiler
ins Herz des Schwarzwalds. Ich hatte eigentlich geplant, über Tübingen nach
Dinkelsbühl weiter zu fahren, nehme aber von diesem Plan Abstand, weil ich
auch den Schwarzwald noch nicht kenne.
Nachdem ich aus der reichen, wohl organisierten Schweiz in mein Heimatland
zurück gekehrt bin, erscheint mir das deutsche Staatsgebiet ein wenig
schäbig. Wen beeindrucken schon die viel gepriesenen Schwarzwaldhäuser,
wenn er gerade die weit prächtigeren Schweizer Wohnstätten gesehen hat?
Der Schwarzwald bei Badenweiler und Neuenwege ähnelt ein Bisschen dem
Sauerland, zeigt aber bei größerer Höhe doch etwas mehr Gebirgscharakter,
doch auch wie das Sauerland viel langweiligen Tannenbewuchs.
lm Schwarzwald hat man sich sehr auf Touristen eingerichtet und bietet
überall Bienenhonig als Universalmedizin an, obwohl diese süße Substanz
den Zähnen schadet. Viel Autoverkehr belastet die Idylle. Na ja, es ist
schließlich Sonntag und Wochenende. Hinter Badenweiler-Schweighof plagt
mich bei allerbestem Sommerwetter, das den ganzen Tag anhält, eine
fürchterliche Bergstrapaze, die mir unendliche Schweißströme abpresst. Über
zahllose Serpentinen krieche ich auf einen 1050 Meter hohen Parkplatz in der
Nähe des Großen Belchen. Auf dem Weg erschweren mir einige lästige
Begleiter das Leben: Ekelhafte Fliegen, noch schlimmer: stinkende,
knatternde Autos und Busse. Von oben aber genieße ich teilweise
berückende Ausblicke, die jedoch verglichen mit denen auf meiner Schweizer
Alpenetappe von Aigle zum Col de Mosses etwas abfallen, obwohl mir die
heutige Bergstrecke schwieriger vorkommt. In den Ausflugslokalen findet man
kaum freie Tische. Viele Menschen suchen Brombeeren oder gehen einfach
spazieren. Die meisten Autos tragen Freiburger Nummernschilder. Auf der
Abfahrt ins Münstertal Richtung Stauffen friere ich im Fahrtwind. Deswegen
ziehe ich mein Hemd wieder an, obwohl die Sonne immer noch am Himmel
lacht.
Auf der Abfahrt fasse ich den Entschluss, über Freiburg und Heidelberg
meine Heimreise nach Ergste anzutreten, da mich die Bergtour demotiviert
hat. Ich lenke meinen Drahtesel vorsichtig zu Tal, da die Bremsgummis
bereits recht abgenutzt sind und ich mir morgen neue besorgen muss.
lm Münstertal angekommen begebe ich mich bei herrlichem Sonnenschein in
den Biergarten der Wirtschaft "Neumühle". Dort nehme ich eine
Zwiebelsuppe, 2,50 DM, zu mir und einen saftigen und schmackhaften
Waldbeerpfannkuchen, 7,50 DM. Außerdem trinke ich Milch und weißen
Traubensaft. Mich bedient eine appetitliche Kellnerin. Neben mir sitzen Leute
mit großen Kötern. Ich glaube deutsche Hundefreunde leben nach der
Devise: "Wer hat den Größten?"
lch döse ein wenig in der warmen Sonne und verstehe sehr gut jeden faulen,
dicken Kater, der sich ebenso verhält. Auf dem Weg nach Stauffen gluckert
ein klarer Fluss neben mir. ln Stauffen tummeln sich viele Leute auf einem
Weinfest, wegen dem der Stadtkern für Autos gesperrt ist.
lm Osten sehe ich den Schwarzwald, während ich längs der B 3 über eine
fruchtbare Ebene gleite, auf der Mais und Tabak wachsen. Auf vielen Hügeln
baut man Wein an. Aus vielen malerischen Dörfern grüßen die Zwiebeltürme
der Kirchen.
Um halb sieben komme ich in der Freiburger Jugendherberge an, deren
Gebäude ein Beispiel für sehr unpraktische moderne Eckenarchitektur
darstellt und zeigt, wie einfallslose Pseudomodernität aussieht. Trotzdem
wurde sie 1978 vom Bundespräsidenten Walter Scheel, immerhin einem
FDP- Ex-Nazi, eingeweiht.
Der Architekt hat wohl noch nie in einer Jugendherberge übernachtet, sonst
würde sich in jedem Zimmer nicht nur ein einziges Waschbecken befinden,
das für die ganze Zimmerbelegschaft ausreichen soll.
Monopolistische Getränkeautomaten, ausschließlich mit Cocacola bestückt,
vervollständigen die JH-Einrichtung. lch glaube: "Von Organisation und
Gebäude der Baseler Jugendherberge zu lernen, heißt, Jugendherbergen
praktisch und ästhetisch zu bauen und kundenfreundlich zu managen."
Kurz vor Freiburg stößt das Hinterrad einen Hilfeschrei aus: "Knaaacks!" und
eiert fortan in einer bedenklichen Acht zwischen Hinterbau- und
Sattelstreben. lch lenke von jetzt an mit großer Mühe. Wahrscheinlich habe
ich mit Spätfolgen des gestrigen Sturzes zu kämpfen. Die Teile einer
gebrochenen Speiche baumeln zwischen Felge und Nabe. Der Reifen weist
zwei ziemlich große Löcher auf. Morgen muss das repariert werden.
Ab acht Uhr abends sehe ich mir Freiburg an. Das Freiburger Münster aus
dem 16 Jahrhundert ähnelt dem Straßburger. Am Münsterplatz gibt es jede
Menge Restaurants, Kneipen und Eisdielen, auf deren Terrassen und Höfen
viele Gäste entspannt den Sommerabend genießen.
Zahlreiche Brunnen verschönern das Stadtbild, aber die in Basel und
Fribourg in der Schweiz haben mir noch ein Bisschen besser gefallen.
Freiburgs ganze Innenstadt begluckern längs der Straßenränder kleine,
offene Wasserläufe in schmalen gepflasterten Betten.
Ein traditionelles Gebäude mit Turm belegt MacDonaIds.
ln der näheren Umgebung fliegen überall MacDonalds-Verpackungsreste aus
Papier und Plastik herum.
Man müsste diese Fast-Food-Kette für die Beseitigung ihres Mülls haften
lassen.
Da ich eben aus der sauberen Schweiz gekommen bin, fällt mir sofort die viel
größere Schmutzquantität in Freiburg auf.
Mitten in der Stadt findet vor dem Parkhotel ein Weinfest statt.
Es gibt eine große Universität.
Dort "unweste" Martin Heidegger, Existenzialist und Autor von "Sein und
Zeit", 1933 als erster nationalsozialistischer Unirektor Deutschlands.
Vorher verleugnete er auf schäbige Art und Weise seinen jüdischen Lehrer,
"Freund" und philosophischen Kollegen Edmund Husserl.
Noch 1927 hatte ihm Heidegger "Sein und Zeit" gewidmet, das auf der
phänomenologischen Methode Husserls beruht, sich mit der Frage befasst,
was das "Sein" für einen Sinn besitzt, einen geschraubten, beinahe
unverständlichen Sprachstil aufweist und maßgebliche Existenzialisten des
20. Jahrhunderts, z.B. Jean Paul Sartre, stark beeinflusste.
Für seine nationalsozialistischen Untaten erhielt Heidegger nach dem zweiten
Weltkrieg eine milde Strafe, lediglich sechs Jahre Lehrverbot.
Ansonsten schätzte man ihn in der jungen Bundesrepublik bald wieder wie im Dritten
Reich als einen geistigen Leuchtturm, der in der Bundesrepublik "Das
Problem der Metaphysik bei Kant" und "Was heißt Denken?" veröffentlichte.
Heidegger ist nur eins der traurigen Beispiel für die moralische
Verkommenheit angesehener Stützen der Gesellschaft und dafür, wie
oberflächlich Entnazifizierung und Vergangenheitsbewältigung in der
Bundesrepublik bis heute durchgeführt wurden.
Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft waren noch viele Jahre
nach dem Ende des Naziterrors fest in der Hand alter Nazis und ihrer
Seilschaften, die in den seltensten Fällen aus öffentlichen Ämtern entfernt
oder gar angemessen bestraft wurden. Die Bundespräsidenten Lübke, CDU,
und Scheel, FDP, der Bundeskanzler Kiesinger, CDU, der Bundesminister
Oberländer, CDU, der Ministerpräsident Schleswig-Holsteins Lemke, CDU, der
Bankier Abs, der Großindustrielle Flick und viele, viele andere, alles schlimme
Ex-Nazis, lassen grüßen. Vor 1970 bestand die FDP-Bundestagsfraktion
zeitweise zu über 50% aus Ex-Nazis.
Die Freiburger Universität als einstige akademische Heimat des Mittäters
Heidegger wäre meiner Ansicht nach gut beraten, an irgendeiner Stelle
unübersehbar auf ihren unsäglichen Ex-Rektor hinzuweisen, sei es durch
eine Rieseninformationstafel oder eine auffällige Skulptur.
Man vergrößert gerade die Unibibliothek beträchtlich. Gegenüber liegt das
Jugendstilgebäude des Theaters. Ich durchquere Altstadtgässchen mit
Pizzalokalen, chinesischen Restaurants und Weinstuben. Teilweise finde ich
in den Untergeschossen eleganter Stadthäuser recht mondäne
Antiquitätenläden und mehr oder wenige edle Boutiquen. Das erzbischöfliche
Ordinariat residiert in einem klotzigen Gebäude, das protzig
Herrschaftsarchitektur zur Schau stellt.
Eine sehr schöne Flusspromenade führt mitten durch die Stadt. ln der Nähe
der Jugendherberge gibt es große Sportanlagen.
Am Bahnhof kaufe ich eine"Frankfurter Rundschau" und
ein Exemplar der reaktionären "FrankfurterAllgemeinen".
Entlang des Flusses Dreisam kehre ich zur Jugendherberge zurück.
Inzwischen ist es 22 Uhr geworden. Ich unterhalte mich mit einem Musiker
aus Hannover, der mit einem Vespa-Motorroller unterwegs ist. Er will morgen
einen Freiburger Musikspezialisten besuchen.
MONTAG, 2.8.82, VON FREIBURG BIS BADEN-BADEN
Um acht Uhr stehe ich auf. Anschließend fahre ich auf der B 3 weiter in
Richtung Offenburg. Die Landschaft, plattes Bauernland, besteht
überwiegend aus Mais- und anderen Getreidefeldern. Das Wetter könnte
besser nicht sein. Leider gibt es keine Reparaturmöglichkeit für mein
Hinterrad, das widerspenstig ächzt.
lch sehe mehrere Fahrradwerkstätten an Tanken.
Aber Fahrradläden, die mit Tankstellen und Autowerkstätten gekoppelt sind,
erregen mein Misstrauen. Ans Autoland, Autohäuser aller möglichen Marken
und Benzinsäulen der großen Ölkonzerne, schwappen die klebrigen Wellen
hässlichen Siedlungsbreis.
lch benutze eine autobahnähnliche Bundesstraße, weil keine Verbotsschilder
für Fahrräder zu sehen sind.
Selbst ernannte Polizisten am Steuerrad hupen wie wild. Bei Sexau verlasse
ich endlich die Hauptstraße und gelange auf ruhigeren Pfaden bis
Emmendingen. Dann geht es auf der B 3 ungemütlich weiter. Stinkende,
knatternde Blechkisten schwängern die Luft mit Benzingestank.
Über dem Tankstellenelend rascheln bunte Wimpel an Schnurgirlanden
traurig im Wind. Ein Fiat-Großlager bestückt die Gegend. Rechts zieht immer
noch der Schwarzwald mit sanften dunklen Bergkämmen vorbei. Links streift
der Blick wie schon bisher über ebene landwirtschaftliche Nutzfläche.
Beiderseits der Straße verlaufen breite Asphaltbänder, die man sehr gut
als Radwege nutzen kann, Zuwegungen für große Landmaschinen.
Um 11 Uhr halte ich beim ersten Fahrradmechaniker, der die zerbrochene
Speiche aus dem Hinterrad schraubt, aber unfähig ist, den Zahnkranz zu
lösen und die alte Speiche zu ersetzen. Der Mann gibt schnell auf, nimmt
aber kein Geld für seinen missglückten Reparaturversuch. Um 12 Uhr
verabschiede ich mich und um halb eins finde ich einen anderen
Fahrradsachverständigen.
Er will die neue Speiche zwar einsetzen, aber ich müsste bis 5 Uhr warten, da
wegen der Urlaubszeit nur wenig Personal in der Werkstatt arbeite. Ich
möchte nicht so lange warten und befrage ihn nach anderen
Reparaturmöglichkeiten. Der überlastete Mechaniker verweist mich an ein
Fahrradgeschäft der Friedrichstraße in der Lahrer Innenstadt. Der dortige
Speichenkundige beginnt zwar sofort mit der Arbeit, erklärt aber: "Sie können
ihr Fahrrad frühestens um drei Uhr abholen. Denn vorher ist unsere Kasse
nicht besetzt und wir können Ihnen nicht eher eine Rechnung schreiben."
lch lasse mein Fahrrad zurück und kaufe eine Wassermelone, Buttermilch,
Joghurt und sechs Pfirsiche. Danach begebe ich mich in den Lahrer
Stadtpark, wo 1,50 DM Eintrittsgeld fällig wird.
Die Stadt Lahr weist entlang der Hauptstraße nur wenig Bemerkenswertes
auf. Es gibt dort viele kanadische Soldaten. lch lese und esse, "Frankfurter
Rundschau" und "Frankfurter Allgemeine" von Samstag, Melone, Joghurt und
Pfirsiche von heute.
Dann will ich mich zwecks kleiner Siesta eben auf den Rasen betten, da
kommen auch schon zwei Damen mit abscheulich laut donnernden und
stinkenden Rasenmähern angefahren und verhelfen mir zu
einer besonders beschaulichen Mittagsruhe im Lahrer Stadtpark.
Um halb vier ist mein Fahrrad fertig. lch fahre von Lahr nach Baden-Baden
durch einen Früchtegarten. Rechts und links der Straße grünen Obstfelder:
Brombeeren, Himbeeren, Johannisbeeren Äpfel und Pflaumen. Sie sind
noch nicht reif, zwar schon blau und saftig, aber noch sehr sauer. Getreide-,
Tabakfelder und Weinberge säumen über weite Strecken meinen Weg.
Offenburg, das mir wenig attraktiv erscheint, umfahre ich.
Fast aber hätte mich eine unübersehbare, monströse Bausünde des Offenburger Paten
Burda erschlagen, ein unglaublich trampeliges Kastenhochhaus mit blauen
Burdainitialen am Dach. Dort also wird die trübe Burdasuppe gekocht, in
einem Gebäude, das auf Architekturästheten ebenso deprimierend wirkt wie
der Inhalt Burdascher Druckerzeugnisse auf Intellektuelle.
Um zeitig nach Baden-Baden zu kommen, rolle ich auf dem breiten Asphalt-
band neben der B 3 zügig nach Norden. Das Hinterrad eiert nicht mehr, die
Schaltung funktioniert wunderbar, aber der neue Hinterreifen ist zu breit und
verhindert ein höheres Tempo.
Trotzdem erreiche ich um 19 Uhr die nagelneue Jugendherberge von Baden-
Baden.
Ich melde mich an, dusche und führe eine kleine Wäsche durch, an der außer
mir noch eine Unterhose, zwei Socken, ein Hemd und ein Taschentuch
teilnehmen. Dann begebe ich mich auf einen kurzen Spaziergang.
Eine sehenswerte, russisch-orthodox wirkende Kirche mit großer Kuppel
fällt mir auf. Sie liegt wie die Jugendherberge im Westteil der Stadt.
Für das Zentrum und weitere Stadtviertel habe ich heute keine Zeit, aber für
ein Wienerwald-Restaurant, wo ich ein Steak, einen Salat und ein Bier für
18 DM verzehre, als Nachtisch ein Eis mit Sahne für 1,90 DM.
Ich glaube, die "Wienerwald-Restaurantkette" ging nicht ohne Grund Pleite.
Das Bier ist gut, das Steak so lala, der Salat mäßig.
Allem, besonders dem lauwarmen Fleisch, fehlt der letzte Schliff. "Lauwarm",
dieses Wort beschreibt präzise die ganze Wienerwald-Fehlleistung, die ich
allerdings an einem sehr einladenden Platz, einer Terrasse unter großen
Bäumen, in Anspruch nehme. Um 22 Uhr kehre ich in die Jugendherberge
zurück und treffe dort auf den Musiker, den ich in Freiburg kennen lernte. Er
singt gerade zur Gitarre.
Er hat Kolmar und die Vogesen besucht und schon vor mir im Wienerwald
gegessen, von dessen Mahlzeiten er ebenso wenig begeistert ist wie ich. Ich
trinke ein Mineralwasser und kicke eine Runde mit dem Musiker am
Kickerautomaten, die ich hoch gewinne, obwohl ich Tischfußball nicht
besonders gut beherrsche. .
Von 22 Uhr 30 bis 23 Uhr 45 schreibe ich am Tagebuch. Danach gehe ich
ins Bett. Der Aufenthalt in der Baden-Badener Jugendherberge kostet 14 DM.
DIENSTAG, 3.8.82, VON BADEN-BADEN NACH WALDMICHELBACH
Um 9 Uhr verlasse ich meine Unterkunft und begebe mich auf einen
Kurzausflug durch Baden-Baden.
Das berühmte Casino zeigt weiße Säulen. Der Kurpark strahlt Melancholie
aus und erinnert an Dostojewski und Turgenjew, die am Roulettetisch
beträchtliche Summen verspielten.
Dostojewski beschrieb seine Zockerzeit in Baden-Baden danach in dem
berühmten Roman: "Der Spieler". Bei W.S. Maugham lese ich später in
einem Buch über die größten Dichter der Welt, Dostojewski habe im Casino
Geld des russischen Schriftstellerverbandes verspielt, das eigentlich für ein
Buchprojekt bestimmt war, und sei auch sonst mitnichten ein moralischer
oder gar frommer Mensch gewesen. Liest man allerdings ohne Kenntnisse
über Dostojewskis Leben seine Bücher, erwecken sie den Eindruck der
Phantasie und intellektuellen Kreativität eines überzeugten ldealisten
entsprungen zu sein.
Ansonsten stehen in Baden-Baden viele pompöse Hotels und zahlreiche
prächtige Villen herum, die ich auf Nebenstraßen mit wenig Verkehr über
Baden-Baden-Oos verlasse. Weinberge und Obstbäume leuchten in der
warmen Sonne eines herrlichen Sommertages. Ich entblöße meinen
Oberkörper und frage einen Rentner, wie ich am besten nach Emmendingen
komme. "lmmer geradeaus!", teilt er mir mit.
Über Emmendingen erreiche ich Bruchsal, wo ich im Park des
repräsentativen Barockschlosses ein wenig pausiere, eine leckere, sehr rote,
saftige und süße Melone verspeise, und der äußerst bekömmlichen Frucht
anschließend Joghurt und Buttermilch hinzufüge.
Inzwischen regnet es. Ich aber sitze unter den riesigen Kastanien der
Schlossallee gemütlich im Trockenen. Das Schloss ließ der Fürstbischof Graf
Schönborn von Speyer im achtzehnten Jahrhundert errichten. In der
Schlosskirche gibt es einen Kreuzweg des Gegenwartskünstlers HAP
Grieshaber. Die Kastanienallee verzieren zwei Figurengruppen aus je vier
Statuen. Am Ende der Baumreihe besprudeln Wasserfontänen wunderbare
Springbrunnen. Der Eintritt für den Schlossbesuch beträgt eine DM. Den
Fremdenführer verstehe ich akustisch nicht, weswegen ich mich allein auf die
Schlosstour begebe.
Das badische Landesmuseum zeigt gerade eine Ausstellung mit prächtigen
Einzelstücken: Sekretäre, Kleiderschränke und Holzkästchen, leider auch
Waffen, Degen und Gewehre. Phantastische Deckengemälde strahlen
teilweise renoviert äußerst farbenfroh. Überall schmücken Marmorsäulen die
vollendete Symmetrie der Anlage. Keineswegs residiert im Seitenflügel des
Schlosses zumindest ein Oberlandes-, sondern nur ein Amtsgericht.
Ich verlasse den beeindruckenden Adelssitz und rolle weiter durch das
Neckartal, wo ich den Ausflugsdampfer überhole, der von Heidelberg nach
Neckarsteinach und zurück fährt.
Mit diesem Dampfer bin ich vor achtzehn Jahren selbst einmal gefahren, an
einem Tag unseres einwöchigen letzten Schulausflugs von Schwerte nach
Heidelberg unter Leitung meines Latein- und Klassenlehrers Theo Windhövel
im Sommer 1963 vor dem Abitur. Der Pädagoge wohnt in meinem Herzen
und war ein Segen für seine Schüler.
Damals schien die ganze Woche die Sonne heiß vom Himmel. Ich war
neunzehn und tanzte am Abend mit der sechzehnjährigen Realschülerin
Monika Jurzick, oder so ähnlich, aus Kappeln an der Schlei in einem
Gartencafe nahe der Heidelberger Jugendherberge.
Die Dame, war klein und handlich, trug eine lachsfarbene hinten geknöpfte
Bluse, einen kurzen blauen Faltenrock und an den Beinen nahtlose
Seidenstrümpfe.
lhr blondes, kurzes Haar schmückten die damals üblichen Haarwinkerchen,
die sie sorgfältig vor ihre kleinen Ohren gekämmt hatte.
Taubenblaue Augen streichelten mich sacht, sanftes Fleisch wärmte mich
und roch nach Jugend.
Die Finger meiner rechten Hand hatte ich an den Blusenknöpfen und an der
Seide vorbei auf den Hautsamt ihres biegsamen Rückens gelegt. Die Musiker
spielten leise.
Das Mädchen und ich unterhielten uns nur wenig, aber träumerisches Glück
und selige Lebensfreude schwebten über uns, um uns und in uns.
Unsere jeweils einwöchigen Schulausflüge vom Schwerter Friedrich Bährens-
Jungengymnasium in die Welt hinaus waren eben unvergesslich und
unübertrefflich.
Am Rande der Neckarebene erheben sich dorf- und burgbewehrte Hügel. Ich
meine, in Neckarsteinach alte Burgmauern wieder zu erkennen.
Dort biege ich in ein Sträßchen nach Waldmichelbach ein.
Ein ständiges Auf und Ab schließt einige Kräfte raubende Anstiege, aber
dafür auch diese und jene rauschende Abfahrt ein.
Die Landschaft erinnert ein Bisschen an das Sauerland. Nur ganz wenige
Autos behelligen mich auf dieser Strecke durch den Odenwald.
Gegen 18 Uhr 30 erreiche ich die Jugendherberge in Waldmichelbach, wo
außer mir nur noch ein einziger Gast, ein Gärtner aus Wittlich, logiert.
Die Betten sind in einer Schlafbaracke untergebracht.
Ich dusche und esse danach eine Pizza. Außerdem gönne ich mir ein Bier
und einen Salat. Später vertilge ich noch ein Eis mit Schokoladenüberzug,
äußerst schmackhaft. Es regnet ein wenig.
Ich telefoniere mit meiner lieben Mama Luise und binde ihr einen kleinen
Bären auf: "lch reise Morgen aus Palermo ab. Das gefällt mir hier nicht so
gut, zu viele Mafiosi und eine Hitze, ich kann Dir sagen!" "Ja mein Junge,
pass bloß gut auf und iss und trink immer genug. Du weißt doch,..." "Ja, klar,
essen und trinken hält Leib und Seele zusammen."
Mutter und Großmutter, Tanten und Onkel, irgendwann einmal werden sie mir
sehr, sehr fehlen. Um zehn Uhr kehre ich in die Jugendherberge zurück. Ich
begebe mich zum Schlafen in die einsame Baracke, die mir ziemlich
unheimlich erscheint. Meine Fahrradpumpe nehme ich sicherheitshalber als
Schlagwaffe mit, obwohl im Odenwald anders als in Palermo sicherlich nicht
hinter jeder Ecke und unter allen Barackenbetten Mafiosi lauern.
Glücklicherweise kommt die Pumpe mangels mordlustiger Bösewichter nicht
zum Einsatz. Lediglich der Gärtner aus Wittlich rumpelt etwas spät in der
Nacht an.
MITTWOCH, 4.8.82, VON WALDMICHELBACH NACH WETZLAR
Um neun Uhr dreißig besteige ich mein Fahrrad und gleite durch ähnliche
Landschaft wie gestern: Fruchtbare Felder, viel Auf und Ab, leider häufig
neue, gesichtslose Häuser, praktisch, rechteckig, Kiste fertig, ohne Treppen,
Nischen, Vorsprünge und Erker. Weder ärgert mich Regen noch erfreut mich
Sonne. Bis Groß-Zimmern komme ich gleichmäßig voran.
Dann ein bekanntes Leiden, das dem Schienenunfall in Bern geschuldet ist:
Eine Speiche an der Zahnkranzseite des Hinterrades bricht. lch suche das
nächste Fahrradgeschäft auf.
Es gehört Herrn Bernhard, den ich um halb zwölf treffe. Er verkauft gerade
einer Kundin ein Hollandrad. Ich lasse meinen Raleighrenner bei ihm. Er
verspricht mir um zwölf Uhr zwanzig spätestens mit der Reparatur fertig zu
sein. Ich kaufe inzwischen meine bewährten Standardlebensmittel ein,
Joghurt, Buttermilch, Melone, und koordiniere eine Pause mit den
Instandsetzungsarbeiten.
Ich suche lange Zeit vergeblich eine Sitzgelegenheit. Dafür finde ich alle fünf
Meter Hundescheiße auf dem Bürgersteig. Auch sonst entdecke ich nichts
Schönes in Groß-Zimmern. Schließlich lasse ich mich auf dem Steinsockel
nieder, der eine Sparkasse umgibt. Dort lese ich in der "Frankfurter Neuen
Presse" und in der "Frankfurter Rundschau". Zum Essen und Trinken komme
ich nicht, da ich mein Messer in den Packtaschen am Rad vergessen habe.
Um 12 Uhr 20 ist mein Rad wie versprochen repariert.
Herr Bernhard erklärt mir: "lch verstehe zwar auch nicht mehr vom Zentrieren
eines Speichenrades als ein Fachmann zu verstehen hat, aber ich habe nicht
alle Speichen so knallhart angezogen wie mein Reparaturvorgänger." lch
halte seine Ausführungen für interessant und vertraue darauf, dass
Bernhards Reparaturergebnis Langlebigkeit auszeichnet.
Nachdem ich zehn Mark bezahlt habe, ohne eine Quittung zu bekommen,
reise ich von dannen.
Kaum bin ich eine halbe Stunde in Richtung Frankfurt unterwegs, da knackt
es, kurz darauf noch ein Mal.
Zwei Speichen des Hinterrades sind hin. Auf diesen Schreck will ich mich in
einer Seitengasse durch den Verzehr der Melone trösten, aber die ist so
unreif, dass ich sie weg werfe. ln Zukunft werde ich nur noch Melonenhälften
oder -viertel besorgen, denn da sieht man ob das lnnere rot und reif ist oder
nicht. Die Strecke über Dietzenbach, Offenbach bis Bad Vilbel führt durch
zermanschte Landschaftsreste und dreckige Industrieanlagen.
In der Albtraumumgebung kümmern vereinzelt Siedlungshäuser und
Wohnblocks vor sich hin. Die Luft stinkt nach Benzin und lndustrieabgasen.
Ich bekomme Kopfschmerzen. Hässlicheres als den Weg von Offenbach
nach Frankfurt habe ich kaum gesehen. Die Grenze zwischen beiden Städten
bildet eine Mainbrücke. Bis Bad Vilbel rauscht ungehemmter Autoverkehr. Ich
wende mich über Friedberg in Richtung Butzbach und Gießen. Um halb drei
erreiche ich Friedberg, das ein altes Stadttor und US-Kasernen besitzt.
Ich durchquere ab Friedberg friedliche, weite, leicht gewellte Landschaft mit teilweise
abgeernteten Getreidefeldern und begebe mich über Butzbach weiter nach
Wetzlar.
Auf der Straße und an ihrem Rand fallen mir viele tierische Opfer des
Autoverkehrs auf: Platt gefahrene Katzen, Vögel, Igel und Hasen. An jedem
Tag zähle ich einige dieser Unglücksviecher. Ich fahre recht schnell, vor allem
die Abfahrten im ständigen Auf und Ab. Butzbach besitzt eine alte
Stadtmauer und viel Fachwerk im Zentrum, eine schöne Stadt.
Rücksichtslos preschen Autofahrer an mir vorbei und schreien pädagogische
Anweisungen, die Aggressionen und böse Sprüche in mir auslösen: "Fick,
deine Alte!" samt Stinkefinger, lassen so manche Kinnlade herunter fallen
und bringen die eine oder andere Nobelkarosse leicht ins Schleudern.
Ansonsten folgt eine Tankstelle der anderen.
Die Reihe wird häufig durch Autohäuser unterbrochen. Die Umgebung
erinnert mich an jene us-amerikanischer Highways, über deren schnurgerade
Asphaltpisten mich im letzten Jahr große, schnelle Greyhound-Busse
getragen haben.
Um 18 Uhr 30 bin ich am Tagesziel in Wetzlar. Ich dusche und breche zu
einem Spaziergang durch die Stadt auf.
Die hübsche Altstadt schmücken Fachwerkhäuser. Die Uferanlagen der Lahn
laden zum Wandern ein. Eine alte Steinbrücke führt zur Lahninsel.
Der Dom besteht aus zwei unterschiedlichen Steinarten, die farblich, grau
und rot, nicht gut zusammen passen. Über seinem Eingangsportal windet sich
unter der Jungfrau Maria ein Jude in den Klauen des Teufels. Naja, der Jude
ist eben immer an allem schuld.
Dieser christliche Antisemitismus rief den nationalsozialistischen hervor, war
zumindest eine seiner Hauptursachen. lm bergigen Stadtgebiet ermöglichen
viele idyllische Treppen notwendige Auf- und Abstiege.
Überall werben Pizzerias um Kunden. Aber dieses Mal kehre ich in keine ein,
sondern betrete zum Abendessen ein sehr gutes alternatives Speiselokal, wo
ich mein heutiges Fahrtenbuch schreibe. Der Kirmeskuli aus Mühlhausen gibt
seinen Geist auf und deswegen leiht mir die nette Kellnerin ein
funktionsfähiges Schreibgerät.
Ich nehme drei Bier zu mir, da ich sehr durstig bin und verspeise eine
serbische Bohnensuppe, Gurkensalat mit Schafskäse und ein großes Käse-
Schinken-Baguette. Für das Abendmahl zahle ich 18,50 DM. In dem
Restaurant sitzen ausschließlich junge Leute. Zwei von ihnen unterhalten sich
über einen Friedensgottesdienst, der kürzlich statt gefunden hat.
Um 10 vor 10 gehe ich zurück zur Jugendherberge. Hoffentlich komme ich
noch rein. lch meine trotz des maroden Hinterrades morgen unbeschadet die
letzte Etappe meiner Tour bis nach Ergste zurücklegen zu können.
DONNESTAG, 5.8.82, LETZTE ETAPPE VON WETZLAR NACH EGSTE
Um 9 Uhr mache ich mich über Herborn und Dillenburg zunächst nach
Siegen auf.
Den Himmel bedecken Wolken, aber es regnet nicht. Ich genieße einen
eindrucksvollen Blick auf den Wetzlarer Dom über die alte Lahnbrücke
hinweg. Der Fluss schlängelt sich um grünen Bewuchs. Schwäne schwimmen
weiß auf dem Wasser. Dann fahre ich an einem Hochofen samt Stahlwerk
vorbei aus der Stadt Goethes und der Leica-Fotoapparate hinaus.
Bei Herborn und Dillenburg verwandelt sich die gemütliche Bundesstraße, die
den sanften Hügeln, den Feldern und Wäldern der Landschaft angepasst ist,
in eine klotzige Asphaltschneise, auf der sich ein Fahrradfahrer nicht wohl
fühlen kann. Unter der Last der Betonpfeiler und der Breitspur-Rollbahn
ersticken die kleinen Städtchen und mutieren zu Anhängseln von
Asphaltknoten und -bändern. Ab Haiger führt die B 54 durch anmutige Wald-
und Hügellandschaft. Autos behindern mich kaum. Leider sehe ich nur
schlecht, da inzwischen Nebel und Dunkelheit wie im November die
Landschaft verdüstern.
Die Bundesstraße ist gut ausgebaut und breit genug. Sie fragmentiert nicht
wie der Dillenburg/Herbornsche Beton- und Asphaltgigant mit brutaler Gewalt
Stadt und Land, Wald und Flur. Um 12 Uhr strömen Regenmassen auf mein
unschuldiges Haupt herab, aber trotzdem komme ich ansonsten unbeschadet
in Siegen an.
Ich fahre fast blind durch die Gegend, da die Regentropfen die Sicht durch
meine Brille stark einschränken. Von Kreuztal bis Krombach passiere ich eine
unattraktive Stadtlandschaft. Jede Menge Autos, besonders Lastwagen,
stören meinen Vorwärtsdrang. Ab Krombach gleite ich hügelab und -auf
durch eine reizvolle Waldlandschaft. Die Steigungen fordern mich nicht
besonders.
Vor Olpe setze ich die Brille ab, damit ich auch in der Wasserhölle nicht den
Überblick verliere, denn es gießt wie aus Eimern. Nach Olpe fahre ich bis
Attendorn fast ausschließlich am Biggesee entlang und genieße teils weite
Ausblicke, soweit die durch Regenschwaden und Nebelfetzen getrübte Sicht
es zulässt.
Der Radweg, auf dem ich entlang holpere, gleicht wegen seiner zahllosen
Asphaltaufbrüche einer Rüttelpiste und verwandelt meinen Fahrradausflug in
ein Reiterlebnis.
Ich drehe am Eingang der Attahöhle vorbei eine Regenrunde durch
Attendorn, bevor ich die Weggabelung nach Plettenberg finde, auf welche die
erste ernst zu nehmende Steigung folgt, die mich durch ein Waldgelände bis
Windhausen empor führt. Dann muss ich wegen einer Baustelle über eine
verampelte Schotterstrecke fahren.
Unter dem Gewicht meiner Gepäckträgerlast, zweier seitlich rechts und links
befestigter, prall gefüllter großer Seitenkoffer und einer ebenfalls bis zum
Rand voll gestopften quer hinter dem Sattel liegenden umfangreichen
Tasche, zerbrechen auf dem Steingeröll zwei weitere Speichen des
Hinterrads. Es eiert und ächzt gewaltig. lch muss enorme Hand- und
Armkräfte aufwenden, um ohne Schlingerbewegungen geradeaus zu fahren.
Ich hoffe, das stark beschädigte Hinterrad klappt nicht irgendwann
zusammen. Von Windhausen brause ich mit meinem Fahrradwrack gefährlich
schwankend ins Lennetal hinab.
ln Plettenberg lege ich um 15 Uhr eine 45-Minuten Pause ein, während der
ich Buttermilch trinke, Joghurt, Äpfel, Pfirsiche und Weintrauben verspeise.
Anschließend sehe ich immer weniger. Beinahe vollständige Finsternis
verdunkelt die Umgebung. Nebel verdeckt Wälder und Berge. Wolken
schweben um Häuser. Autos fahren mit Licht. Von Plettenberg bewege ich
mich in Richtung Altena. lch folge immer der Lenne, auf der graue Dämpfe
brodeln.
Am Ufer liegen viele mittelständische Betriebe der Draht-, Stahl- und Eisen-
industrie. Auch ein klotziges Stromkraftwerk der Elektromark mit Beton-
kühlturm fällt mir auf. Dann erblicke ich die Zinnen der Burg Altena, die
groteske Nebelfiguren umtanzen. Ich nähere mich allmählich dem Ende
meiner Reise. Bis Letmathe regnet es ununterbrochen.
Am Fuße des letzten Berges vor meinem Heimatdorf Ergste, des Letmather
Schälks, hört es um halb sechs am frühen Abend endlich auf zu regnen.
Ich erklimme die kurvige Steigung der B 236 und rolle durch
Grürmannsheider und Ergster Wälder mit hohem Tempo, schleifendem,
quietschendem und wackelndem Hinterrad meinem Elternhaus im Ergster
Lührmannsweg 9 entgegen. ln der Einfahrt versagt eine weitere Speiche. Ich
bin wirklich froh, die Regenorgie überstanden zu haben und zu Hause
angekommen zu sein.
Eine wichtige Erkenntnis lagert seit dem Ende dieser Reise in
meinem Kopfspeicher: "Nie wieder ein angeknackstes Hinterrad reparieren!
Es hilft nur ein komplett Neues."
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Der Beitrag wurde von Hartmut Wagner auf e-Stories.de eingesendet.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.11.2017.
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