Olaf Lüken

Ich giere nach Zeit

Dass ich viel Zeit habe, hat mir noch niemand gesagt. Schlafen, essen, fahren, fliegen, denken, waschen. Was der Tag von mir fordert, versuche ich in möglichst wenig Zeit zu stopfen. Damit ich noch mehr Zeit sparen kann, so rät mir ein schlaues Buch, soll ich Tätigkeiten zu Beiläufigkeiten machen: Im Auto telefonieren, die Post aufgeben und auf dem Rückweg Einkäufe abholen, die ich am Vorabend im Internet bestellt habe. Bewaffnet bin ich mit einem Laptop und einem Smartphone. Ich will jederzeit erreichbar, also zeitnah abrufbar sein. Verkaufssendungen führen mir Küchengeräte vor, die gleichzeitig Steaks garen, Kartoffeln kochen und Kekse backen. Neuerdings liebe ich Hörbücher, um nur keine Minute des Tages mit zeitauf- wändigem Lesen zu verbringen. Laufend mache ich mir Gedanken über schöne Dinge, die ich nicht habe. Ich träume von Geld, weil keins vorhanden. Ich giere nach Zeit, weil ich glaube keine Zeit zu haben. Täglich zeigt mir das Ziffernblatt meines Zeitmessers, dass ich in Zeitnot bin. Die Zeit läuft mir stets davon, sie löst sich auf, und zu keiner Zeit kann ich sagen, wie viel Zeit mir noch bleibt. Die Zeit kennt Eile und wenig Rast. Sie setzt sich nicht hin und trinkt ein Bier, sie schläft nicht und friert auch nicht ein. Zeit scheint mir in jungen Jahren eine Mangelware zu sein. Ich treffe Menschen auf der Straße, die bedauern, dass der Tag keine 48 Stunden hat. Andere begrüßen mich mit dem Hinweis: "Mensch, wie die Zeit vergeht." Und bei mir sehe ich die vielen ungelesenen Bücher, die Stapel von Zeitungen, manche aufgeschlagen und drin herum gelesen. Auf dem Schreibtisch: "A anrufen", "bei B melden" oder "Verabredung mit C verschieben" - handwerkliche Trümmer meines misslungenen Managements, vieles in zu wenig Zeit zu schaffen.  Wir sind Smartphonetäter und auch -opfer geworden. Ein Lied aus den 70ern erschallt im Radio: "Zeit macht nur vor dem Teufel halt." Wieso nur vor dem Teufel ? Der griechische  Naturphilosoph Heraklit schrieb vor 2600 Jahren, dass man nicht zweimal in demselben Fluss steigen könne, weil alles ständig im Flusse sei."Alles ist Veränderung.  Was kann ich tun, um aus der Zeit zu brechen ?

Mir fällt spontan Kurt Tucholsky (1890-1935) ein. Er schrieb eines Tages: "Manchmal o glücklicher Augenblick, bist du in ein Buch so vertieft, dass du in ihm versinkst - du bist gar nicht mehr da. Nichts weißt du von der Welt um dich herum, du hörst nichts, du siehst nichts, du liest. Du bist im Banne deines Buches." In unserer atemlosen Lebenswelt schafft Lesen Oasen für die Seele und Orte für unsere Gefühle und Sehnsüchte. Menschen brauchen solche Erfahrungen, nicht als Flucht aus der Welt, sondern um aus den Bücherwelten wieder aufzutauchen in die Welt sogenannter Lebenswirklichkeit - aber  entspannter, gelassener, gestärkt, bereichert und vielleicht auch motivierter. Lesen hat keine Jahreszeit. Und Rituale helfen uns, einen Tag vom anderen zu unterscheiden.

(c) Olaf Lüken (2017)
Erschien im Kölner Stadt-Anzeiger (2005) - Wochenende-Magazin,
und in den: Rheinischen Literatur-Heften Nr. 15 - 2006
Erschien am 10.02.2011 im Online-Magazin "Lebensart" unter "Haben Sie Zeit...?"
Erschien 18./19.4.2011 in der Kölnischen Rundschau unter "Misslungenes Management"

 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Olaf Lüken).
Der Beitrag wurde von Olaf Lüken auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.11.2017. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Olaf Lüken als Lieblingsautor markieren

Buch von Olaf Lüken:

cover

Hunde lärmen nicht, sie bellen nur: Gedichte, Witze, Aphorismen, Glossen, [...] von Olaf Lüken



Trotz aller technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen ist die Sehnsucht vieler Menschen nach einer intensiven Beziehung zu einem Hund ungebrochen. Kinder, die mit Hunden aufwachsen, gewinnen in ihrer körperlichen, emotionalen und sozialen Entwicklung. Herrchen und Frauchen sind glücklicher, gesünder und emotional stabiler. Hunde schützen uns vor Altersdepression und Vereinsamung. Olaf Lüken gibt den Hunden oft menschliche Gestalt und lässt sie als Beutegreifer und Schmusehunde auch mal unflätig erscheinen. Ein Lesegenuss für Leserin und Leser.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (1)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Sonstige" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Olaf Lüken

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Zeit ist Geld - Geld ist Zeit von Olaf Lüken (Sonstige)
Mama ...Lupus...autobiographisch... von Rüdiger Nazar (Sonstige)
Aufsatz über die Gans von Karli von Margit Kvarda (Humor)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen