René Oberholzer

Blau mit Wolken

Er durfte sich seiner Frau nur noch bis auf 3 Meter nähern, so hatte es das Gericht entschieden. 1x am Monatsende trafen sie sich an der Talstation einer bekannten Sesselbahn, dann fuhr er alleine den Berg hinauf, auf dem sie sich vor einigen Jahren bei einer Après-Ski-Party kennengelernt hatten. Wenn er an der Bergstation ankam, blieb er sitzen, während zur gleichen Zeit seine Ex-Frau unten in der Talstation den Sessel bestieg. Kurz bevor die beiden in der Mitte der Bahn aufeinandertrafen, feuerte sie aus einer Startpistole einen Schuss ab, der bis zur Talstation zu hören war. Dann stellte man die Bahn unverzüglich ab, so war das mit der Betriebsleitung abgesprochen worden. Diese Szene spielte sich jeweils kurz vor der morgendlichen Eröffnung der Bahn ab.

An einem Februarsonntagmorgen sassen sie sich wieder einmal leicht versetzt auf ihren Sesseln gegenüber bei Temperaturen um den Gefrierpunkt herum. Sie schaute mit eisigen Backen nach oben, er nach unten. "Du schuldest mir noch Geld für unseren Sohn", sagte sie. "Ich weiss", sagte er, "und sonst hast du mir nichts zu sagen?" "Der Himmel ist hier speziell blau", sagte sie. "Das war er beim ersten Mal auch gewesen. Warum ist alles nur so gekommen?", fragte er. "Es ist jetzt, wie es ist, und es ist gut so. Aber bis Ende Monat hast Du die Schulden beglichen, sonst ..." Dann nahm sie die Startpistole wieder hervor und feuerte einen Schuss in den Himmel ab. Die Sessel setzten sich wieder in Bewegung, sie fuhr nach oben, er nach unten. Dann kreuzten sie sich in der Mitte der Bahn noch einige Male, ohne dass sie miteinander gesprochen hätten, bis er an der Talstation ausstieg, zum Auto ging und davonfuhr. Sie stieg an der Bergstation aus, ging auf die Sonnenterrasse, setzte sich in einen Liegestuhl und legte eine warme Wolldecke über ihren Körper. Dieser Himmel ist wirklich so blau wie damals, dachte sie, aber damals hatte er keine Wolken gehabt. Und die hatte sie im Laufe der Jahre lieben gelernt.


© René Oberholzer

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (René Oberholzer).
Der Beitrag wurde von René Oberholzer auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.11.2017. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  René Oberholzer als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Der Schrei der Nachtigall von Anna Elisabeth Hahne



Das Buch handelt von einer einmaligen Liebe, die nicht gelebt werden kann, in der Kinder den ersten Platz einnehmen.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Sonstige" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von René Oberholzer

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Der Schlauch von René Oberholzer (Wie das Leben so spielt)
Smarty von Karl-Heinz Fricke (Sonstige)
Pilgertour XII. von Rüdiger Nazar (Abenteuer)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen