Klaus-D. Heid

Der Therapidiot

Gruppentherapien haben schon immer einen ganz besonderen Reiz auf mich ausgeübt. Besonders deshalb, weil ich in den unterschiedlichsten Gruppen Dinge erfahren habe, die kaum anderswo zu hören sind. Es ist bestimmt nicht übertrieben, wenn ich sage, dass Teilnehmer von Gruppentherapien irgendwie das Bedürfnis haben müssen, in der Öffentlichkeit zu erzählen, was sie ihren besten intimsten Freunden nicht anvertrauen würden. Geheimnisse! Abgründe tun sich auf, wenn zehn oder zwanzig gierig blickende Mitleidende darauf lauern, in die Seelen ihrer Therapiegenossen grinsen zu können. Trainierte Gesichter, auf denen immer der gleiche mitleidige verständnisvolle Ausdruck zu sehen ist, nicken brav, wenn Martin gequält von seinem Orgasmusproblem berichtet. Wenn Katrin von ihren Freund berichtet, der sie Abend für Abend zum Oralsex nötigt, klatscht die Gruppe solidarisch Beifall. Ebenso wird geklatscht, wenn Astrid ihr Alkoholproblem gesteht oder wenn Kurt sich als schwuler Transvestit outet. Tränen kullern über alle Gesichter, sobald Monika einräumt, wie unglücklich sie darüber ist, dass vor zwanzig Jahren ihr geliebter Wellensittich von der Nachbarskatze gefressen wurde. Begeisterter Applaus ertönt, wenn Hubert vor versammelter Runde schreit, dass er endlich die intime Beziehung zu seiner Urenkelin aufgegeben hat. In heiteren Sprechchören ertönen Anfeuerungsrufe, sobald Christa zugibt, dass sie verdammt stolz auf ihre Körbchengröße 98B ist.

Schicksale. Wohin das Ohr auch hört – es hört immer nur... Schicksale.

Und eben jene Schicksale sind es, die es mir angetan haben. Nur aus diesem einen voyeuristischen Grund nehme ich an allen Gruppentherapien teil, die mir einer meiner Ärzte verschreibt. Nur aus diesem einen Grund bekenne ich mich ebenso zur Vielweiberei wie auch zum zwanghaften Briefmarkenlecken. Ich klage nur lange genug über meine verkorkste Ehe – und schon lande ich in einer Männerberatungsgruppe für unverstandene Ehemänner. Ich muss nur einem anderen Arzt mitteilen, wie wahnsinnig gerne ich es mit dem Schäferhund meines Arbeitskollegen treiben möchte, um mich in der Gruppe ‚der wahre Tierfreund’ wiederzufinden. Oder ich beklage bei wieder einem anderen Arzt, wie unterentwickelt mein Genitalbereich ist; schon empfiehlt er mir die Selbsthilfegruppe der ‚klein aber fein’ – Gesellschaft bedauernswerter Männer e.V.

Natürlich versickern all diese intimen Informationen, die freiwillig an mich herangetragen werden und in meine Ohren dringen, nicht im Vergessen. Es wäre wirklich eine Schande, wenn ich der ganzen Welt vorenthalten würde, was sich so alles in den verqueren Köpfen typischer Normalbürger abspielt. Meine ganz persönliche Überzeugung ist es, dass Geheimnisse keinen Platz in dieser aufgeklärten Zeit haben! Die Wahrheit gehört auf den Tisch! Gnadenlos und unbarmherzig!

Außerdem ist es vollkommen egal, ob irgendwelche kranken Hirne nur zwanzig oder gleich zwanzig Millionen Zuhörer haben. Wen stört das schon? Kommt das nicht aufs Gleiche raus? Ein bisschen Öffentlichkeit hat noch keinem geschadet. Wahrscheinlich tue ich sogar etwas Gutes, wenn ich den kranken Seelen unzähliger Therapiegruppen zu einem völlig neuen Ansehen in der Öffentlichkeit verhelfe!

Nehmen Sie zum Beispiel Hannah. Hannah G. aus B., in der Nähe von F. bei U. besuchte regelmäßig ein Treffen der anonymen Kunstschänder. Die sprach freimütig über ihren Drang, jedes Kunstwerk alter Meister, mit Terpentin überschütten zu müssen. Als sie dann der ähnlich gelagerten Gruppe mitteilte, dass sie nun vorhabe, endlich einen echten Frans Hals zu zerstören, wartete ich, bis sie ihr Vorhaben in die Tat umgesetzt hatte. Anschließend veröffentlichte ich einen Artikel in einer angesehenen Wochenzeitung mit dem Titel: „Mord an der Kunst? Eine Täterin berichtet.“ Der Artikel brachte mir ein stattliches Honorar ein und entlohnte mich fürstlich für die quälenden Stunden angestrengten Zuhörens in der Gruppe.

Nur unbedeutend weniger brachte mir der Artikel über Marlies M. aus B. ein. Marlies M. war bereits seit sieben Jahren regelmäßige Teilnehmerin in der Gruppe ‚Frauen schlagen Männer’. Einmal wöchentlich gestand sie, wieder einmal ihren Mann misshandelt zu haben. Manchmal schlug sie ihn, weil er Gottfried hieß, ein anderes Mal verprügelte sie ihn, weil er den Milchreis anbrennen ließ – und wieder ein anderes Mal brach sie ihm das Nasenbein, weil er nicht rechtzeitig die Fernsehsendung ‚Wahre Liebe’ eingeschaltet hatte. Woche für Woche plauderte sie angeregt über alle möglichen Blessuren, die sie ihrem bedauernswerten Ehemann zugefügt hatte.

Erst, als Marlies M. über ihren drängenden Wunsch sprach, ihrem Mann ein für alle Mal den Garaus zu machen, wurde ich hellhörig. Und tatsächlich! In der vertrauten Runde Gleichgesinnter entlockte ich ihr, was sie vorhatte. Glücklich, endlich darüber reden zu können, gestand mir Marlies M., dass sie nun ausreichend Schlaftabletten gehortet hatte, um ihren Mann umbringen zu können.

Was für eine Schlagzeile!

„Das Böse im schwachen Geschlecht!“

Der Artikel erschien exakt einen Tag nach dem Mord in der örtlichen Tagespresse. Natürlich war ich der Erste, der den vollen Namen von Marlies M. veröffentlichte, noch bevor die Polizei die Arme festgenommen hatte.

Ab und an sind es auch die weniger furiosen Ereignisse, die sich ganz gut vermarkten lassen. Man braucht bloß das richtige Gespür für die Leserschaft – und schon rollt der Rubel!

Eigentlich war es Zufall, dass ich in die Therapiegruppe ‚Nymphomanen und Nymphomaninnen’ rutschte. Geplant war nämlich der Besuch der Selbsthilfegruppe anonymer Windelträger. Da jedoch alle Plätze dieser Gruppe ausgebucht waren, entschied ich mich spontan, mich als Nymphomanen auszugeben, dessen Problem unbedingt von anderen Betroffenen diskutiert werden musste.

So lerne ich bereits in der dritten Woche meiner Gruppenbesuche Linda F. kennen. Linda war eine durchaus ansehnliche vierundvierzigjährige Frau, die das unbändige Verlangen in sich trug, jedem Mann in die Hose fassen zu müssen. Es war ihr vollkommen egal, wie der Mann aussah oder wie alt er war. Für sie zählte nur, dass es sich um einen Mann handeln musste. Manchmal langte sie in der U-Bahn zu, manchmal war es der Postbote, der von ihr begrapscht wurde und manchmal traf es einen Teilnehmer der Selbsthilfegruppe.

Es traf mich!

Da ich in der gemütlichen Gesprächsrunde neben Linda saß, spürte ich plötzlich ihre linke Hand an meinem Hosenschlitz, die ich selbstverständlich sofort und mit bösem Blick, zurückwies. Linda schien sich nicht weiter an meiner ablehnenden Haltung zu stören. Rechts von ihr saß ein fülliger Siebziger, der weniger prüde reagierte als ich.

Im Falle von Linda F. versuchte ich etwas ganz Neues. Mit versteckter Kamera verfolgte ich sie bei all ihren unanständigen Aktivitäten. Ich filmte alle Szenen, in denen sie ihre flinke Hand in die Hosen überraschter Männer schlüpfen ließ. Ich filmte ebenso zornige, wie auch lüsterne Reaktionen. Meine kleine Aktentaschenkamera entlarvte brave Biedermänner, die nach links und rechts sehend, Lindas Hand ungestraft Einlass gewährten. Nach gründlicher Recherche versah ich die Großaufnahmen der gefilmten Männer mit ihren Vor- und Zunamen.

Einen Monat später strahlte ein Privatsender meinen Amateurfilm aus. Jede heimliche Anonymität war seit diesem Tag – zumindest für die Betroffenen – Vergangenheit. Nur aufgrund meines lustigen Beitrags wurden Ehen geschieden, wurden polizeiliche Ermittlungen eingeleitet und zerbrachen langjährige Freundschaften. Ertappte Männer verloren ihre Arbeitsplätze. Einige von ihnen mussten in eine andere Stadt ziehen, weil Nachbarn sie als perverse Lüstlinge beschimpften. Und auch Linda F. bekam ein paar Probleme, da viele meiner Filmstars gegen sie Anzeige erstatteten, um sich in der Öffentlichkeit rechtfertigen zu können.

Linda F. wurde zu vier Jahren ohne Bewährung verurteilt. Mir brachte der Filmbeitrag einen satten Batzen Geld, den ich natürlich ausschließlich in mein voyeuristisches Hobby investierte.

Vielleicht wäre es noch ewig so weitergegangen. Vielleicht würde ich heute noch von Therapiegruppe zu Therapiegruppe hüpfen, um mich an den Schicksalen wildfremder Menschen zu ergötzen. Vielleicht hätte ich noch ein Vermögen damit verdienen können, Perverse bei ihren Offenbarungen zu belauschen.

Vielleicht...

Bedauerlicherweise kam alles anders!

Irgendein humorloser Spinner irgendeiner Therapiegruppe hat mich wegen ‚Verletzung der Intimsphäre in Tateinheit mit Verführung zum Selbstmord’ angezeigt. Wie auch immer; jedenfalls hat ein karrieresüchtiger Reporter von dieser Anzeige Wind bekommen. Er hat die ganze Geschichte so aufgebläht, dass sich der Richter außerstande sah, ein mildes Urteil zu verhängen. Straferschwerend kam hinzu, dass plötzlich weitere Therapiepatienten, denen ich irgendwann einmal begegnet war, Anzeige gegen mich erstatteten. Am Schlimmsten war jedoch, dass der erste Spinner, der mich angezeigt hatte, tatsächlich Selbstmord beging. In seinem Abschiedsbrief an den Staatsanwalt nannte er ausschließlich mich als Schuldigen an seinem Tod. Nun wurde alles von Grund auf aufgerollt! Presse und Fernsehen berichteten über mich. Sensationsgeile Tageszeitungen schrieben Serien über den ‚Voyeur, der kein Gewissen hatte’.

Man verurteilte mich zu einem Jahre Haft und ordnete eine anschließende achtjährige Sicherheitsverwahrung in einer Heilanstalt an.

Eigentlich ist es hier gar nicht so schlimm!

Dreimal in der Woche nehme ich an einer netten Gesprächsrunde teil, in der wir Voyeure uns gegenseitig erzählen, was unser Problem ist. Ich hoffe nur, dass niemand die winzige Kamera und das Diktiergerät bei mir findet. In einem Monat werde ich entlassen.

Raten Sie mal, womit ich dann mein Geld verdiene...

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.11.2001. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Langsam gehe ich auf das sechzigste Lebensjahr zu. Da hinter mir nahezu jede emotionale Erinnerung »verschwindet«, besitze ich keinerlei sichtbare Erinnerung! Vieles von dem, was ich Ihnen aus meinem Leben berichte, beruht auf alten Notizen, Erinnerungen meiner Frau und meiner Mutter oder vielleicht auch auf sogenannten »falschen Erinnerungen«. Ich selbst erinnere mich nicht an meine Kindheit, Jugend, nicht an meine Heirat und auch nicht an andere hochemotionale Ereignisse, die mich zu dem gemacht haben, was ich heute bin.

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