Ich deponierte jede Karte, welche ich nicht einem Thema oder einer Person zuordnen konnte (Geburtstag, Ostern, Tante Lilly), in einer dunkelbraunen Kiste. Ich nannte sie die «Trauerkiste», weil ich davon ausging, bei einem Todesfall weder Zeit noch Lust zu verspüren, eines dieser schrecklichen Papeterie-Erzeugnisse mit Kreuz, gefalteten Händen und schwarzem Rand zu kaufen. Ein Motiv, mitten aus dem Leben gegriffen, schien mir angebrachter – selbst für meinen Abgang.
Irgendwann war der Holzkasten voll, irgendwann klemmte der Verschluss, irgendwann ging gar nichts mehr. Ich klappte den Deckel auf, schüttete den Inhalt auf den Parkettboden und sichtete die Sammlung.
Die künstlerischen Gestaltungen zeigten Abstraktes, die Fotoaufnahmen Horizonte, Schneelandschaften und Stechplamen. Ich förderte Bilder von tibetischen Gebetsfahnen, Segelschiffen und Kieselsteinen zutage. Bevor ich auf trübe Weiher und weiße Lilien stoßen konnte, war die Suche zu Ende.
Ich zähle die Karten. Ich zählte die Kuverts, zuletzt die Gedichte und Trauertexte. So viele Leute kannte ich gar nicht! So viele Leute würden nicht sterben, in den nächsten Jahren (und wenn, dürfte ich es zu spät erfahren, um ein Beileidsschrieben aufzusetzen). Ich musste für den Kartenberg eine andere Verwendung finden. Ich bündelte ihn säuberlich und trug die milde Gabe ins Büro. Selbst ein Bundesamt musste sparen[1] … In den kommenden Monaten erwiesen sich etliche Versandbeilagen im Grunde ihre Herzens als Kondolenzbekundungen. Etwas zu bedauern gab es fast immer.
[1] Karin Unkrig arbeitete von 2007 bis 2017 bei der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Bundesamt für Straßen ASTRA
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.12.2017.
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