Günter K. Langheld

Die Erzählung meines Großonkels

Mein Großonkel, Monika und ich hatten gemütlich beisammen gesessen und geplaudert. Das prasselnde Feuer im Kamin und der Glühpunsch begannen schon unsere Wangen zu röten und nachdem Klatsch- und Krankheitsgeschichten erschöpft waren, hatten wir uns zunächst über die neuesten politischen Ereignisse unterhalten. Bis meine Schwester plötzlich auf die Idee kam, Großonkel solle uns etwas aus seiner Jugendzeit erzählen.
Der alte Knabe stopfte seine Pfeife und zündete sie an. "Da gibt es eine Angelegenheit, die mich beinahe um den Verstand gebracht hätte", begann er schließlich. "Ich hatte nämlich damals, als junger Mann, ein äußerst seltsames Erlebnis." Er strich sich gedankenverloren über sein weißes Haar, bevor er fortfuhr:

"Gottlieb Herzog, ein guter Bekannter, hatte mich auf seinen Landsitz nach Eckelbach eingeladen. Einen Tag vor meiner Abreise aber schrieb er mir, es sei ihm einen wichtige Arbeit dazwischen gekommen, die keinen Aufschub dulde. Deshalb könne aus unserem gemeinsamen Urlaub nichts werden, ich solle jedoch getrost alleine fahren. In seinem Haus würde mich seine Haushälterin erwarten, die dort tagsüber die Arbeiten verrichtete.
Herzogs Haus, ein Reetdachgebäude, war umgeben von gepflegten Rasenflächen. Seine Haushälterin empfing mich sehr freundlich und auf dem Weg zu meinem Zimmer machte ich Bekanntschaft mit Wolly, Herzogs Terrier, der mich schwanzwedelnd begrüßte.
Nachdem ich meine Reisetaschen ausgepackt hatte, entschloss ich mich zu einem Spaziergang, um die Gegend ein wenig zu erkunden.
Ich wanderte los und nach gut einer Stunde erreichte ich einen Hügel, von dem ich einen vorzüglichen Ausblick auf das Dorf und die Umgebung hatte: Im Osten schlängelte sich ein Bach dahin, dessen Lauf schimmernde Pappeln anzeigten, im Westen entdeckte ich, geblendet von der tiefstehenden Sonne, den Friedhof der Gemeinde. Ich kehrte erst zurück, als es schon zu dämmern begann.

Eben wollte ich es mir bei einem Glas Burgunder bequem machen, als die Hausglocke läutete.
Ich ging ich zur Tür und öffnete.
Der Duft verwelkter Blätter erfüllte die Luft, aus der Heide herüber erklang der heisere Ruf eines Nachtvogels. Ich spähte umher, bemerkte jedoch niemanden, der geläutet haben konnte. Verärgert wollte ich die Tür schließen, als ich plötzlich eine Stimme vernahm. Aus dem Schatten einer Ulme kam ein Mädchen auf mich zu. Es entschuldigte sich für die Störung, nannte mir seinen Namen und fragte, ob Herr Herzog zu sprechen sei. Da im Haus Licht brannte, wollte es die Gelegenheit nutzen, meinem Bekannten einen kurzen Besuch abzustatten.
Ich bat die junge Dame herein. Nachdem ich ihr erklärt hatte, dass Herr Herzog aus geschäftlichen Gründen verhindert sei, bot ich ihr ein Glas Rotwein an, das sie jedoch dankend ablehnte.
Der Terrier, sonst immer lustig und gutmütig, war knurrend in die hinterste Ecke des Raumes zurückgewichen und beobachtete uns misstrauisch.
Wir unterhielten uns eine Weile recht angenehm. Schließlich jedoch erhob sich meine Besucherin, um wieder zu gehen. Ich geleitete sie zur Tür und sah ihr noch so lange nach, bis die Finsternis ihre Konturen verwischte.

Wie eine Erinnerung an die Hitze des letzten Sommers, lag in dieser Nacht eine laue, drückend schwere Luft über der Landschaft. Plötzlich streifte etwas mein Gesicht. Ich blickte erschrocken nach oben und gewahrte einen Schatten, der zirpend über mich hinwegflatterte. Schaudernd ging ich zurück ins Haus.
Da ich von der Strapaze meiner ersten Wanderung und von der frischen Luft müde geworden war, begab ich mich zeitig ins Bett. Auch jetzt noch hörte ich den Terrier leise winseln.

Als ich am nächsten Morgen erwachte, fühlte ich mich ziemlich matt, mein Hals schmerzte und ich erinnerte mich, dass ich einen seltsamen Traum gehabt hatte. Ich träumte, ich machte einen Spaziergang, als auf einmal eine Eingebung mich zwang, meine Richtung zu ändern. Irgendetwas zog mich magisch an, mir war, als müsse ich einer geheimnisvollen Kraft folgen.
Unversehens befand ich mich auf dem Friedhof. Ich hatte das Gefühl, beobachtet zu werden, da bemerkte ich, wie sich hinter einem verwitterten Grabstein etwas bewegte. Augen starrten mich an. Dann spürte ich, wie meine Glieder unbeschreiblich schwer wurden und alle Kräfte meinen Körper verließen. Ich glaubte endlos tief zu versinken. Nun, damit endete der Traum.
Verstört betrachtete ich mich im Spiegel und entdeckte, dass mein Hals an einer Stelle leicht angeschwollen war.

Am nächsten Tag machte ich wieder eine Wanderung durch die Heide. Da ich mich recht zerschlagen fühlte, trank ich nach dem Abendessen etwas mehr Rotwein, als mir wohl gut getan hätte.
Am folgenden Morgen konnte ich mich nicht mehr erinnern, wann ich ins Bett gekommen war. Ich hatte sehr lange geschlafen und war erst gegen Mittag erwacht. Die Luft in meinem Zimmer war warm und stickig, und ich öffnete ein Fenster, um wieder frei atmen zu können.
Plötzlich breitete sich ein flaues Gefühl in meiner Magengrube aus, denn ich erinnerte mich, dass ich auch in dieser Nacht wieder geträumt hatte. Und der Traum glich in allen Einzelheiten dem der letzten Nacht. Wieder war mir, als zöge mich eine unbestimmte Macht zum Friedhof. Nachdenklich ging ich durch das Zimmer und stolperte dabei über meine Schuhe. Meine Kleidung lag zusammengeknüllt auf einem Stuhl. War ich denn gestern so betrunken gewesen? Sonst bemühte ich mich immer, einigermaßen Ordnung zu halten.

Da ich Kopfschmerzen hatte, verbrachte ich den Tag mit Faulenzen und Lesen und verspürte keine Lust, mich körperlich zu betätigen.
Am späten Nachmittag bewölkte sich der Himmel, die Luft begann abzukühlen.
Ich ging gleich nach dem Abendessen in mein Zimmer. Als ich aus dem Fenster sah, bemerkte ich, wie Wolkenfetzen am Mond vorbei jagten. Ich war todmüde und musste wohl im Sessel eingeschlafen sein.

Der Zickzack eines Blitzes riss mich aus dem Schlaf, mich fröstelte, in meinen Ohren rauschte das Blut. Ich war völlig benommen und tastete umher. Bestürzt bemerkte ich, dass ich mich im Freien befand und am Boden lag.
Wieder zerriss ein Blitz die Wolken. In seinem hellen Schein leuchtete gleich neben mir ein Grabstein phosphoreszierend auf.

MARIA HAARMANN

DER TOD KAM MIT SCHWARZEN...

Ich hatte einen Teil der Inschrift gerade noch lesen können, bevor es wieder stockfinster wurde. Und dann , schlagartig, begann es zu regnen, ein regelrechter Platzregen prasselte auf mich nieder.
Die vom Wind geschüttelten Friedhofsbäume schienen mit ihren Ästen und Zweigen nach mir greifen zu wollen.
Ich erhob mich und taumelte heimwärts.

Als ich an diesem Morgen erwachte, war mir so elend zumute, dass ich unfähig war aufzustehen. Die Haushälterin brachte mir mein Frühstück ans Bett, doch ich konnte keinen Bissen essen.
Die Frau bückte sich und hob einige nass tropfende Kleidungsstücke auf, die verstreut auf dem Fußboden umherlagen. Ich musste wohl recht erbärmlich ausgesehen haben, denn bevor die Haushälterin das Zimmer verließ, sagte sie, es wäre wohl besser, wenn sie einen Arzt riefe.
Ich überlegte: Diesmal war es also kein Traum gewesen, meine nassen Kleider bewiesen, dass ich in der Nacht das Haus verlassen hatte.
Der Arzt kam erst am Abend. Er verschrieb mir Medikamente und gab mir eine Spritze. Später hörte ich, wie er sich noch in der Küche, in gedämpftem Ton, mit der Haushälterin unterhielt, konnte jedoch nicht verstehen, was sie sagten.
Da ich mich schon etwas wohler fühlte, wollte ich ein wenig lesen. Das erste Buch, das mir in die Hände geriet, war eine stockfleckige Bibel. Ich schlug sie wahllos auf und versuchte das Gedruckte zu entziffern, aber bald bemerkte ich, dass die Zeilen vor meinen Augen zu verschwimmen begannen. Ich war einfach noch zu erschöpft. Und, obwohl ich gegen meine Müdigkeit ankämpfte, entglitt das Buch meinen Fingern und kurz darauf war ich auch schon eingeschlafen.

Gegen Mitternacht erwachte ich, weil der Terrier sich wie verrückt gebärdete, er tobte und bellte im Nebenzimmer. Ich spürte, wie sich in mir der Wunsch regte aufzustehen und zum Fenster zu gehen. Urplötzlich zeichnete sich dort ein Schatten ab und ich erkannte das Mädchen, das ich am ersten Abend im Hause meines Bekannten kennen gelernt hatte. Sehnsüchtig, mit glühenden Augen, als hätte es schon lange auf mich gewartet, bedeutete es mir, zu ihm zu kommen.
Ich begann, wie in Trance, mich aus dem Bett zu erheben und berührte dabei zufällig die Bibel, die noch immer auf meiner Decke lag. Im selben Augenblick ließ die Anziehungskraft vom Fenster her nach und ich sank zurück auf mein Kissen. Sofort griff ich nach dem Buch, umklammerte es fest und blickte erneut nach draußen.
Teuflischer Hass spiegelte sich nun in den Zügen des Mädchens. Sein Gesicht verzerrte sich und spitze Eckzähne glitten über die Unterlippe.
Ich hob die Bibel höher und streckte sie vor.
Das Gesicht des Mädchens war zu einer dämonischen Grimasse geworden. Auf einmal stieß es einen Schrei aus, schlug - wie geblendet - die Hände vor die Augen, und im nächsten Moment war es verschwunden.
Selbstverständlich konnte ich in dieser Nacht nicht mehr schlafen. Als es Morgen wurde, reiste ich sofort ab, obwohl ich mich noch sehr schwach fühlte. Ich schwor damals, niemandem etwas von meinem Erlebnis zu erzählen; nicht einmal mein Bekannter, Herzog, wusste davon. Ich hatte Angst, er würde mir nicht glauben und sich über mich lustig machen."

Als mein Großonkel seine Erzählung beendet hatte, bemerkte ich einen fahlen, fast gespenstischen Ausdruck in seinem Gesicht. Er zog sein Taschentuch und wischte sich die Stirn. Dann erhob er sich und verließ den Raum.
Weil ich seine Vorliebe für phantastische Erzählungen kannte, glaubte ich ihm das alles natürlich nicht, aber die Geschichte war immerhin amüsant gewesen.
Mein Großonkel kehrte zurück und drückte mir einen vergilbten Zeitungsartikel in die Hand. Er lautete:

GRABSCHÄNDUNG IN ECKELBACH

Ein unglaublicher Fall von Grabschändung wurde am Montagmorgen in dem Heidedorf Eckelbach entdeckt. Noch im Laufe des Tages verhaftete die Polizei zwei Männer, die nach kurzem Verhör zugaben, auf dem Dorffriedhof die Leiche einer gewissen MARIA HAARMANN ausgegraben zu haben, um ihr den Kopf abzutrennen und einen Pflock ins Herz zu schlagen.
Was die Täter zu dieser abscheulichen Tat trieb, konnte noch nicht ermittelt werden. Es ist aber anzunehmen, dass der in dieser Gegend noch tief verwurzelte Aberglaube der Grund dafür war.

Nachdem ich den Artikel gelesen hatte, blickte ich meinen Großonkel an und bemerkte, wie er umständlich begann seinen Hemdkragen zu öffnen.
"Maria Haarmann...ja, so hieß das Mädchen", murmelte er.
Plötzlich ertönte neben mir ein spitzer Schrei und ich sah, dass Monika gebannt auf den Hals des alten Mannes starrte. Mir stockte der Atem, denn nun gewahrte auch ich die bläulich vernarbten Bisswunden an seiner Kehle.

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Günter K. Langheld).
Der Beitrag wurde von Günter K. Langheld auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.12.2017. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Günter K. Langheld als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Meditationen über Gelassenheit von Jürgen Wagner



Der Zugang des Menschen zu seinem Wesen im Anschluss an Martin Heidegger und Meister Eckhart

Meister Eckhart und Martin Heidegger vereinigen auf ihre Weise Frömmigkeit und Denken. Beide bringen ans Licht, dass es in der Gelassenheit noch um mehr geht als um eine nützliche Tugend zur Stressbewältigung. So möchte dieses Buch dazu beitragen, dass wir westliche Menschen im Bewusstsein unserer Tradition u n s e r e n Weg zur Gelassenheit finden und gehen können. Die Begegnung mit anderen Wegen schließt dies nicht aus, sondern ein.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (1)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Unheimliche Geschichten" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Günter K. Langheld

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Der Weggefährte von Günter K. Langheld (Unheimliche Geschichten)
Du böser, böser Junge..., Teil I. von Klaus-D. Heid (Unheimliche Geschichten)
Amanda von Monika Drake (Wahre Geschichten)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen