Matthias Neumann

Verkannt


 

Zum Jahresende wurde es wieder sehr früh dunkel. Dadurch erschienen die Abende länger, als sie wirklich waren. Trotzdem war es viel zu spät, als es gegen 19 Uhr an der Tür läutete.

Johanna war verunsichert, als sie sich dem Eingang näherte, hatte nicht die geringste Vermutung, wer es sein könnte. Es kamen ihr keine unheilvollen Gedanken, aber trotzdem hatte sie ein beunruhigendes Gefühl.

Zaghaft öffnete sie die Tür. Der Paketbote bot zwar, durch seine Kleidung, einen vertrauten Anblick, da er aber zu so später Zeit auftauchte, wirkte er erst recht deplatziert und ließ die Situation unwirklich erscheinen. In den Händen hielt er einen Karton.

Johanna hatte zwar eine Bestellung erwartet, ihre Sinne blieben dennoch geschärft. Etwas am Zusteller befeuerte ihr Misstrauen. Als dieser anfing zu sprechen, wurde es offenbar. Nicht nur gab er sich äußerst unhöflich in seinem rauen Ton, er war zudem auch noch sichtlich angetrunken.

Fast schon ängstlich brachte Johanna den Vorgang der Paketannahme hinter sich. Als sie die Tür endlich wieder schloss, umfing sie Erleichterung. Wer wusste schon, wozu solche Menschen fähig sind. Eigentlich müsste sie sich über ihn beschweren. So ein Verhalten war unverantwortlich.

Die Sicherheit der eigenen Wohnung gab ihr sogar den Mut zur Empörung. Diese erhielt sich Johanna bis zum nächsten Tag, als sie allen, mit denen sie ins Gespräch kam, von ihrem Erlebnis erzählte. Dabei gab es oft Zustimmung in der Bewertung der Situation. Alle waren sich einig, in der verurteilenden Meinung über den Fahrer.

 

Auf dem Weg zum Lieferwagen schaute Wolfgang hektisch auf die Armbanduhr. Dort angekommen öffnete er die Seitentür. Beim Anblick der noch vorhandenen Pakete, merkte er, dass er es wieder nicht schaffen würde.

Wie war das bloß möglich? Er hatte doch früher immer alles rechtzeitig zum Feierabend ausgeliefert, und sich dabei noch nicht einmal beeilt. An der Menge konnte es nicht liegen, sie hatte sich nicht erhöht. Das hatte er überprüft. Wo auf dem Weg die Zeit abhanden kam, konnte er sich nicht erklären.

Wolfgang stieg ein und ging nach vorn, um auf dem Fahrersitz Platz zu nehmen, fuhr aber noch nicht los. Stattdessen starrte er nach vorne ins Leere. Es würde nichts bringen, sich jetzt noch zu beeilen. Damit würde er sich nur selbst unnötig Druck machen. Er würde jetzt sowieso wieder länger arbeiten müssen. Da die zusätzliche Zeit aber nicht angerechnet wurde, lag es in seinem Ermessen, wie sehr er sich verausgabte. Er ließ es lieber langsam angehen, um sich hinterher nicht wieder so ausgelaugt zu fühlen, wie es in den letzten Wochen so häufig geschah. Es war leichter, sich ins Schicksal zu fügen, die Widrigkeiten einfach zu ertragen. Gleichzeitig führte diese Haltung aber auch zu einer Art Lethargie. Er fühlte sich kraftlos, gebremst, als würde er sich durch Wasser bewegen. Doch nur so war es zu ertragen, jedes Aufbäumen, jedes Ankämpfen gegen die missliche Lage, führte hinterher nur zu noch größeren Rückschlägen.

Wolfgang geriet ins Grübeln, durchdachte die Entwicklung der verfahrenen Situation, in der er sich befand. Zuerst, als die ersten Schwierigkeiten auftraten, hatte er noch die übrig gebliebene Pakete wieder zurück ins Lager gebracht. Dort hatten sie sich jedoch nur angehäuft, jeden Tag kamen ein paar mehr hinzu. Als das auffiel, hatte ihn der Standortleiter zu einem Gespräch ins Büro geholt. Bei geschlossener Tür. Damit hatte er gleichzeitig allen anderen Mitarbeitern signalisiert, worum es ging, Wolfgang somit zusätzlich bloßgestellt.

Es gab keine Begründung, keine Entschuldigung, für den Rückstand. Wolfgangs Vorgesetzter schloss mit einer einzigen Forderung: alles musste bis zum Ende des Tages ausgeliefert werden. Sollte etwas übrig bleiben, brauchte er sich gar nicht mehr hierher zurück trauen.

Wolfgang fügte sich. Es gab schließlich keinen erkennbaren Grund und alle anderen schafften es doch auch problemlos. Es konnte also nur an ihm liegen. Persönliches Leid war keine Entschuldigung.

Somit fing er an, seinen Wagen täglich zu leeren, egal wie lange es dauerte. Es war ihm noch nicht einmal schade um die verlorene Freizeit. Als er abends in seine Wohnung kam, jede Woche etwas später, konnte er zu seinem Bedauern nichts vorweisen, das er stattdessen lieber getan hätte. Er tat nämlich gar nichts, wartete vielmehr, bis es Zeit zum Schlafengehen war. Er verlor dadurch nichts, denn er hatte bereits vorher alles verloren.

Entmutigt startete Wolfgang den Wagen. Im Moment befand er sich in einer abgelegenen Gegend, an einem Waldrand, wo nur noch Häuser auf großen Grundstücken standen. Das verlängerte die Fahrwege erheblich. Außerdem gab es so weit draußen auch nur wenig auszuliefern, was das Ganze noch mehr in die Länge zog.

Vor der gesuchten Adresse hielt er an. Gemächlich schritt er auf das Tor zu. Es war zwar schon Nachmittag, aber noch befand er sich in der regulären Arbeitszeit. Jedoch hatte er schon aufgegeben, es gab keine Notwendigkeit sich zu beeilen.

Er klingelte. Wartete. Wartete, wie so oft in jüngster Vergangenheit, als ob dabei irgendwann alles Schlechte vorbeiziehen würde. Niemand öffnete. Verzweifelt sah er sich um. In so einer Wohngegend ist es immer kompliziert, einen Nachbarn um Abnahme zu bitten. Trotzdem versuchte er es. Vergeblich, wie sich nach mehreren Versuchen und einem langen Weg zu Fuß zeigte.

Wie sollte er nun weiter machen? In so einem Fall ist die übliche Vorgehensweise, das Paket wieder zurück ins Lager zu bringen, für einen zweiten Zustellversuch am nächsten Tag. Normalerweise gab es gar keine andere Möglichkeit. Nur nicht für Wolfgang. Er konnte sich nicht dazu durchringen. Zu groß war die Angst dabei bemerkt zu werden. Niemand würde ihm glauben, wenn er wieder ein Paket zurückbrachte. Was wäre, wenn er wieder ins Büro gehen müsste? Selbst wenn er sich im Recht befand und seine Erklärung akzeptiert werden würde, bliebe doch ein schlechter Eindruck zurück. Auch wenn am Ende die Situation ohne Konsequenzen ausginge, am Ende bliebe doch bei allen die Erinnerung an einen weiteren Vorfall.

Wolfgang war ratlos. Er ging zurück zum Lieferwagen, um erst einmal die Tour zu beenden.

 

Alles weitere lief ohne Vorkommnisse, er wurde alle Pakete los. Doch es war spät geworden. Offensichtlich nicht spät genug. Noch einmal machte er sich auf den Weg zum letzten verbliebenen Haus. An der Lage hatte sich nichts geändert, wieder war niemand anzutreffen.

In diesem Moment stand Wolfgang kurz vor den Tränen. Träge wühlten sich Überlegungen durch seinen vernebelten Geist. Ins Lager fahren war unmöglich. Vielleicht könnte er das Paket vor die Haustür legen. Doch was wäre, wenn sich die Empfängerin hinterher beschwerte, schon allein wegen des unbefugten Betretens des Grundstücks. Das war zwar unwahrscheinlich, trotzdem wollte Wolfgang das Risiko nicht eingehen.

Sollte er es einfach mit zu sich nach Hause mitnehmen? Allerdings war es registriert, hatte eine Sendungsverfolgung. Es war dokumentiert, dass es am heutigen Tag für die Auslieferung verladen wurde. Um das herauszufinden, müsste schon jemand die gesamte Liste überprüfen. Aber warum sollte das nicht geschehen? Schließlich stand er unter Beobachtung. Vielleicht gab es dafür sogar ein Programm. Mit diesen Dingen kannte er sich nicht aus, er wusste nur, wie er sein eigenes Gerät zu bedienen hatte.

Es blieb keine andere Wahl, er würde um eine Zustellung noch an diesem Tag nicht herum kommen. Wolfgang setzte sich wieder ins Auto. Das Paket legte er nicht in das Regal des Laderaums, sondern platzierte es auf dem Beifahrersitz. Die Anwesenheit des Kartons bedrückte ihn, schnürte ihm die Luft ab. Sollte er die ganze Zeit hier in der Dunkelheit sitzen bleiben und warten? Das würde ihn ohne Zweifel zermürben. Er musste einen anderen Ort aufsuchen, sich ablenken.

Langsam fuhr er an den Rand der Siedlung, um ein Lokal zu finden, in dem er sich hinsetzen konnte. Nach kurzer Dauer fand er auch eins. Es wurde inzwischen Zeit zum Essen. Hunger hatte er keinen, doch den hatte er nur noch selten. Sein Gewichtsverlust war inzwischen deutlich erkennbar.

Er setzte sich an einen kleinen Tisch in der Ecke und trank zuerst nur einen Kaffee. Letztendlich bestellte er dann doch etwas zu essen, aber eher nur um beschäftigt zu sein. Dann fing er wieder an, mit leerem Blick zu starren. In solchen Momenten dachte er an nichts, der Kopf blieb völlig leer. Das war aber nicht weniger unangenehm, als seine Probleme wiederzukäuen. Es ist immer noch besser zu trauern, als gar nichts zu spüren.

Über das anfängliche Bedauern, die unerlässliche Frage, wie es überhaupt so weit kommen konnte, war er längst hinaus. Die Anfänge waren klein gewesen, verborgen, nicht erkennbar. Doch sie summierten sich, türmten sich immer höher auf. Irgendwann wurde bemerkbar, dass etwas nicht stimmte. Trotzdem blieb es noch ungreifbar. Bis er endlich darauf deuten konnte, war der Schaden schon angerichtet. Die Situation war inzwischen so verfahren, dass eine Lösung kaum noch möglich war. Es gab einfach keinen Punkt zum Ansetzen, ohne dass sich gleichzeitig andere Probleme auftaten. Alles griff ineinander. So sehr er sich auch bemühte, egal wie hart er an einem guten Ausgang arbeitete, sich aufopferte – letztendlich wurde alles nur noch schlimmer.

Wie eine Strafe saß Wolfgang die Zeit ab. Manchmal ging sein Blick zu den anderen Gästen. Sie mussten doch auch Probleme haben. Aber ihr Verhalten ließ darauf schließen, dass sie ihnen nichts ausmachten, sie alles einfach abschütteln konnten. Genauso wie der Herbsthimmel, verfinsterte sich seine Seele.

Der Wirt musterte Wolfgang immer öfter, schon zweimal hatte er sich erkundigt, ob er diesem noch etwas bringen könnte. Wolfgang wusste, es war ein Fehler, doch er bestellte ein Bier. Tief in Inneren wusste er auch, dass es nicht bei einem bleiben würde. Aber zumindest spürte er ein Verlangen, was inzwischen schon zu einer Seltenheit für ihn geworden war.

Dennoch würde er seine Pflicht nicht vergessen und das Paket abliefern. Er befand, dass das etwas Lobenswertes war. Die Empfängerin würde sich bestimmt darüber freuen, die Lieferung noch an diesem Tag zu erhalten.

 

Nachdem Wolfgang das Paket zugestellt hatte, ging er zufrieden nach Hause. Trotzdem es ihm so schlecht ging, konnte er immer noch etwas gutes für andere Menschen tun, sollte es auch noch so gering sein.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.12.2017. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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