Sabine Brauer

Gedanken im Advent


Silvie sitzt im Wohnzimmer, eine Strickarbeit ruht auf ihren Knien. Gedankenverloren starrt sie auf den Adventskranz, an dem zwei Kerzen ihren Schein abgeben. Wie war das damals, als sie Imo auf der Weihnachtsfeier im Dorfgemeinschaftshaus begegnet war. Er war der ausgelassenste Bengel, den sie je gesehen hatte. Vor einigen Monaten hatte der Junge seine Mutter durch eine unheilbare Krankheit verloren. Silvies Eltern waren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen.

Jedes der Kinder, die hier versammelt waren, hatten irgend etwas Schweres durchmachen müssen in dem Jahr. Deshalb hatte man beschlossen, den armen Hascherln ein schönes Weihnachtsfest zu bescheren. Auch damals brannten 2 Kerzen am Adventskranz.

„Silvia“, hatte die Oma am Todestag mit Tränen in den Augen gesagt: „deine Mama und dein Papa haben eine weite Reise gemacht und sind jetzt im Himmel angekommen. Du, mein Mädchen bleibst jetzt so lange beim Opa und mir, bis du auf eigenen Beinen stehen kannst.“ Sie herzte und küsste das Kind, dass ihm schier die Luft wegblieb. Die Kleine gewöhnte sich langsam ein und liebte die Großeltern innigst. Nur war es manchmal einsam für sie, weil es in der Nachbarschaft keine Kinder gab, mit denen sie hätte spielen können. Auch vermisste sie die Eltern und weinte manche Nacht ihre Kissen nass.

Doch heute war ein Freudentag. Sie hatte eine wunderschöne Puppe zum Fest bekommen, mit Schlafaugen und Mamastimme. Imo bekam ein Steckenpferd und trabte damit durch den Saal. Eigentlich war es schon mehr ein Galopp und er rempelte so manchen an, der ihm im Wege war. So auch Silvie. Zuerst war sie erschrocken, ob des wilden Knaben, doch dann schaute sie in diese himmelblauen Augen, die vor Übermut nur so funkelten. Da war es um sie geschehen. Dies war ihr goldener Ritter und er würde sie eines Tagen mit einem schwarzen Rappen aus ihrer Einsamkeit holen und in ein Märchenschloss entführen…


Einige Jahre vergingen. Ihr Traum vom Glück hatte sich nicht erfüllt. Zwar waren Imo und sie ein Paar geworden und schon bald stellte sich Nachwuchs ein. Sie mussten heiraten. Opa hatte sich mit dem Vater des jungen Mannes geeinigt, so war es nun beschlossene Sache. Zunächst dachte Silvie noch, den Himmel auf Erden zu haben, doch Imo war nicht bereit, für die kleine Familie zu sorgen. Wollte sie mit den Großeltern darüber reden, blockten diese ab. Eine Frau gehört zu ihrem Mann, war ihre einhellige Meinung. Immer öfter kam Imo spät abends betrunken nach Hause und wenn sie ihm Vorhaltungen machte, setzte es Hiebe. Zehn Jahre machte sie dieses Martyrium mit, dann floh sie mit ihrer Tochter in ein Frauenhaus.

Endlich konnte die Frau durchatmen. Durch die Gespräche mit Leidensgenossinnen bemerkte sie, dass sie nicht alleine war. Zum ersten Mal seit vielen Jahren waren da Menschen , die sich um sie sorgten. Auch ein Pastor im Ruhestand bot sich an, ihr Seelsorger zu werden. Behutsam ging er auf Silvie ein, versuchte, so gut es ging, ihr ihre Ängste zu nehmen. Aus der anfänglichen Fürsorge wurde mit der Zeit eine Liebe, die er nicht vor ihr verbergen konnte. Zwar war er einige Jahrzehnte älter als sie, doch dass störte die junge Frau nicht und sie willigte ein, als er um ihre Hand anhielt. Nun waren sie und auch ihr Kind zu Hause angekommen. Hier war Frieden, Glück und Wärme.

Nun wendet Silvie den Blick vom Adventskranz und nimmt dankbar seufzend die Strickarbeit wieder auf, denn ihr Olli, wie sie den Ehemann oftmals scherzhaft nennt, soll zum Weihnachtsfest eine mollig warme Jacke von ihr bekommen.


© Sabine Brauer

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.12.2017. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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