Günter K. Langheld

Ein sonderbarer Fahrgast

Es hatte schon sonderbar angefangen, denn seit unserer Abfahrt am frühen Morgen, schien nichts mehr zu klappen. Und im Laufe des Tages wurde es immer schlimmer, bis dann meine Frau und ich etwas erlebten, das alles andere in den Schatten stellte...

Am Nachmittag waren wir in einen Stau geraten und krochen jetzt seit drei Stunden im Schneckentempo über die Autobahn. Zehn nach sechs - meine Zunge klebte am Gaumen und mein Magen knurrte grimmig. "Wie weit ist es denn noch?"
Hannelore fingerte die Straßenkarte heraus und faltete sie auseinander. "Siebzig Kilometer werden es wohl noch sein." Sie steckte die Karte zurück ins Handschuhfach.

Das Geplärr aus dem Lautsprecher ging mir auf die Nerven und ich schaltete das Radio aus. Jetzt war nur noch das Brummen des Motors zu hören. Ich hielt es nicht länger aus: "Die nächste Abfahrt fahr ich runter. Ich hab mörderischen Hunger!"
"Mach, was du willst."
Aus den Augenwinkeln sah ich meine Frau gleichgültig die Achseln zucken. Sie murmelte etwas Unverständliches.
Ich schielte seitwärts über die Schulter, blinkte und ordnete mich rechts ein. "Mal sehen, ob wir nicht ein Gasthaus finden, wo wir was Ordentliches zum Futtern kriegen."

Die Autobahnausfahrt führte auf eine Landstraße, die sich kurvenreich durch die Landschaft schlängelte. Die dichten Eichen- und Buchenwälder zu beiden Seiten wurden nur gelegentlich durch Heideflächen und Maisfelder unterbrochen.
Ich raste in eine scharfe Linkskurve. "Verdammt!" Die Sonne schien jetzt genau von vorn. Ich klappte die Sonnenblende herunter, doch wie verhext schnellte sie wieder zurück.
"He, bist du verrückt geworden?" Hannelore starrte mich ängstlich an. "Halt an, Bernhard!"
"Was ist denn?" Ich stemmte meinen Fuß auf die Bremse. Die Reifen knirschten, der BMW schlitterte und brach quietschend nach links aus. Mit einem Ruck kam er zum Stehen.
"Hast du das Kind nicht gesehen?"
"Welches Kind denn?"
"Na, den Jungen am Straßenrand, in der Kurve. Beinahe hättest du ihn erwischt."
Ich blickte in den Rückspiegel. Tatsächlich! Ein stämmiger kleiner Kerl lehnte dort hinter uns an einem Weidezaun. Wie hätte ich den nur übersehen können? "Die Sonne...", stammelte ich. Ich legte den Rückwärtsgang ein und setzte zurück.

Der Junge war höchstens sechs Jahre alt. Über seinem Hemd spannte sich eine dunkelgrüne Weste, die mit einem Knopf auf der Brust zusammengehalten wurde. Die Beinchen steckten in schmutzverkrusteten Halbschuhen, neben denen ein Bündel im Heidekraut lag.
Meine Frau kurbelte das Seitenfenster herunter. "Komm doch mal her." Sie winkte den Kleinen heran. "Wo willst du denn hin?"
Anstatt zu antworten, wies das Bürschchen mit der Hand in Fahrtrichtung. Seine Bewegungen waren seltsam steif.
"Komm, steig ein. Wir fahren dich nach Hause." Hannelore öffnete die hintere Wagentür und ließ den Jungen herein. "Du brauchst uns nur zu sagen, wo wir dich absetzen sollen."

Während der Fahrt beobachtete ich den Kleinen im Rückspiegel. Er hatte sich im Sitz zurückgelehnt und starrte apathisch vor sich hin. Sein Gesicht war leichenblass, kurz über seiner linken Augenbraue erkannte ich ein rotes Muttermal. Plötzlich aber begann das Spiegelbild zu zittern, verschwamm und wurde immer undeutlicher. Ich strich mir mit der Hand über die Augen. Zeit für eine Pause, ich war einfach erschöpft.
"Da drüben ist ein Gasthof" Hannelore stieß mich an und zeigte auf ein Rieddachhaus auf der gegenüberliegenden Straßenseite.
Ich lenkte den Wagen auf den Parkplatz, bremste und stellte den Motor ab. "Das sieht ja recht vielversprechend aus." Ich blickte über meine Schulter. "Willst du nicht auch...?" Entgeistert ließ ich den Zündschlüssel fallen. "Hannelore, wo ist der Junge?"
Meine Frau drehte sich um und schrie überrascht auf.
Das Kind war verschwunden.

Völlig verwirrt betraten wir die Gaststätte und setzten uns an einen der Tische. Bis auf zwei am Tresen hockende Gestalten, schienen wir die einzigen Gäste zu sein. Der Wirt, ein fettleibiger Mann, watschelte an unseren Tisch und fragte, was wir wünschten.
Ich bat um die Speisekarte. Bevor er jedoch wieder davon wackeln konnte, fügte ich hinzu: "Übrigens, kennen Sie einen kleinen Jungen, mit einem auffallend roten Muttermal auf der Stirn?" Ich beschrieb das Kind so genau wie möglich.
Der Wirt kniff die Lippen zusammen und räusperte sich. "Den Hannes? Klar, den haben wir hier alle gekannt. Sind Sie von der Polizei?"
"Von der Polizei?" Verdutzt schüttelte ich den Kopf.
Der Wirt ließ sich auf einen Stuhl fallen. "Ich mein ja auch nur wegen dem Unfall und wegen dem Fahrer, weil der ohne anzuhalten einfach..."
"Was hat denn der Junge mit einem Unfall zu tun?" Ungeduldig schnitt ich dem Mann das Wort ab.
Der Wirt glotzte mich aus seinen Schweinsaugen an. "Vor drei Tagen...draußen...in der Kurve." Mit der Hand strich er sich eine Haarsträhne aus der Stirn. "War von Zuhause ausgerissen...mitten auf der Straße hat er gelegen."
Unangenehm spürte ich es heiß meinen Rücken hinunter rieseln. Der Wirt wuchtete sich vom Stuhl hoch. "Ist gleich tot gewesen, der Hannes."

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.12.2017. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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