Helmut Glatz

Die Tiere an der Krippe

I.
„Keinen Schritt weiter!“, bellte der Hund, stellte sich breitbeinig auf und fletschte die Zähne. „Der Eintritt ist für Tiere verboten!“
Ein vielstimmiges Brummen, Muhen, Meckern, Gackern, Piepsen und Zwitschern antwortete ihm.
„Aber uns ist ein Engel erschienen! Draußen auf der Weide!“, mähte das Schaf. „Ihr werdet ein Kind in der Krippe sehen“, hat er gesagt.
„Unsinn!“, knurrte er Hund. „Der Engel ist den Menschen erschienen. Genauer gesagt: Den Hirten.“
Uns ist er erschienen!“, beharrte das Schaf. „Schließlich hatte er einen Schafskopf, ein wolliges Fell und vier Beine. Ich habe es genau gesehen.“
„Wer? Der Engel?“ Der Hund japste nach Luft. So viel Unverstand, sogar von einem Schaf, war ihm noch nicht untergekommen. „Er hatte einen Menschenkopf und zwei Beine“, kläffte er.
„Er hatte einen Gänsekopf, einen Schnabel und zwei Flügel“, schnatterte die Gans.
Jetzt meldete sich auch der Fuchs zu Wort. Er galt unter den Tieren als besonders schlau und in theologischen Fragen erfahren. „Engel sind Lichtwesen“, sagte er. „Sie erscheinen jedem in einer anderen Gestalt. Uns Füchsen beispielsweise mit einem Fuchskopf, dem Dachs mit einem Dachskopf, dem Schwan mit einem...“
„Und dem Wildschwein?“, unterbrach das Wildschwein.
„Mit einem Schweinskopf, das ist doch klar!“
„Und den Regenwürmern?“, piepste die Amsel.
„Den Regenwürmern? Naja...“ Der Fuchs kam ins Stottern. „Was gehen mich die Regenwürmer an! Frag sie doch selber!“ Aber so sehr die Amsel auch suchte, sie fand weit und breit keinen Wurm.
Jetzt erhob sich im Hintergrund eine riesige Gestalt mit einem großen, runden Kopf. „Immer mischen sich die Menschen in unsere Angelegenheiten!“, rief der Bär mit mächtigem Brummen. „Der Engel ist uns Tieren erschienen, du hast es doch gehört! Und jetzt wollen wir in den Stall und dem Kind unsere Aufwartung machen.“ Der drohende Unterton in der Stimme des Riesen war nicht zu überhören.
„Aber das geht nicht!“, protestierte der Wachhund. „So viele Tiere! Das Kind könnte sich zu Tode erschrecken, wenn es euch sieht.“
„Das Kind könnte sich zu Tode erschrecken“, wiederholte der Hase. „Außerdem passen wir nicht alle in den Stall hinein.“
„Wir könnten der Reihe nach hineingehen. Immer paarweise, eine Tierart nach der anderen“, schlug die Gans vor.
Aber da stieß sie auf Widerspruch. „Wir sind doch hier nicht auf der Arche Noah!“, krähte der Hahn, der, wie allen bekannt, in Vielehe lebte. „Und damals hat die Prozedur mehrere Tage gedauert. Das ist keinem Kind zuzumuten.“
Schließlich einigte sich die Tiere darauf, einen Abgesandten loszuschicken.

II.
Schließlich einigten sich die Tiere darauf, einen Abgesandten loszuschicken: Die Maus. Alle wussten, die Maus kannte sich aus im Umgang mit den Menschen, sie war heimlich und verschwiegen, und sie war daran gewöhnt, kein Geräusch zu machen.
„Ihr müsst verstehen: Ich tue nur meine Pflicht. Es ist alles zum Wohle des Kindes“, sagte der Hund. „Die Maus – na ja, sie wird kein Aufsehen erregen. Ich werde jetzt zehn Sekunden lang unaufmerksam sein. Zehn Sekunden Unaufmerksamkeit kann man auch einem pflichtbewussten Hirtenhund zugestehen.“
Er drehte sich um und hob den Kopf, um für einen Augenblick die Sterne zu betrachten, die hell und klar am dunklen Nachthimmel standen. Da huschte das Mäuschen blitzschnell zwischen seinen Beinen hindurch in den Stall hinein.

III.
Obwohl draußen Dunkelheit herrschte, war das Innere des Stalles mit Licht erfüllt. Das kam von dem Engel, der neben dem Eingang stand. Hatte er einen Schafskopf? Oder einen Schweinskopf? Oder gar einen Mäusekopf und ein Mäuseschwänzchen und ein graues, seidiges Fell? Die Maus konnte es nicht erkennen. Sie sah nur das gleißende Licht und das feurige Flammenschwert. Und die Krippe mit dem Kind, angestrahlt vom himmlischen Feuer, das Stroh darin glänzend wie flüssiges Gold. Dahinter, im Schatten, Maria und Josef. Die Frau hatte ihren Kopf an Josefs Schulter gelehnt und schlief. Und auch der Mann hatte die Augen geschlossen. Was sollte er auch wachen, wenn ein solch mächtiger, himmlischer Ritter den Eingang beschützte! Und hinter den beiden, in die Ecken und Nischen gescheucht: Die Dunkelheit, die Finsternis, die Heimlichkeit.
Mit einem schnellen Blick hatte die Maus erspäht, wo sie sich verstecken musste. Dunkelheit machte ihr keine Angst. Heimlichkeit und Finsternis, das sind seit jeher die Mäntel, in deren wohligem Schutz sich die scheuen Tiere verkriechen.
Das Licht, das aus dem Flammenschwert des Engels strömte, flackerte ein wenig, als die winzige Maus über den Steinboden huschte. Hatte der strenge Wächter etwas bemerkt? Hatte er aufmerkend den Kopf gewendet? Hatte er sein durchdringendes Auge aufmerksam auf den Fußboden geheftet? Aber dann blieb doch alles ruhig. Solche mächtigen Wesen, wie es die Erzengel sind, kämpfen gegen den Hass und den Unfrieden und den Irrglauben in der Welt. Für winzige Mäuse sind eher die pausbäckigen Barockengel zuständig, und die waren noch müde vom Singen und Jubilieren und Harfespielen und einfach zu unaufmerksam und zu verschlafen. Und so hockte die Maus, tief in den Schatten eines Holzstoßes verkrochen, mucksmäuschenstill, nur sein kleines Mäuseherz schlug heftig, und die runden Äuglein leuchteten im Widerschein des Glanzes, der von der Krippe ausging.
„Wie soll ich dem Kind unsere Verehrung ausdrücken, wie mir die Tiere aufgetragen haben“, dachte die Maus, „wenn es von einer so fürchterlichen Flammengestalt bewacht wird?“
Aber kleine Mäuse sind nicht nur ängstlich und scheu, sie sind auch neugierig und mutig. Und klettern können sie fast so gut wie Eichhörnchen. Und so turnte das Mäuschen, leiseleise, die Holzpfosten der Krippe hinauf. Und dann war es, auf dem schmalen Holzbrett balancierend, ganz nahe an dem hellen, glänzenden Gesicht, und seine dunklen Knopfaugen starrten in die hellen Augen des Kindes. Das Mäuschen schaute und schaute, mit angehaltenem Atem, und wusste nicht, was es sagen sollte.
Aber da sprach schon das Kind. Unhörbar sprach es, ohne die Lippen zu bewegen, doch das Tier verstand jedes seiner Worte. „Natürlich bin ich auch für die Tiere in die Welt gekommen“, sagte es. „Und ich werde mich ihrer annehmen. Ehrensache. Aber du weißt ja, die Menschen sind immer so unvernünftig.“ So sprach das Kind. Natürlich nicht mit dem Mund. Auch ein Christkind kann noch nicht reden, wenn es klein ist. Die hellen Augen sagten es, und die Hände, die im Stroh patschten und raschelten. Und wie die Ärmchen so durch die Halme fuhren, da lösten sich doch tatsächlich einige vergessene Körner aus den Ähren und fielen über den Rand der Krippe auf den Fußboden hinunter.
Nun muss man wissen, dass kleine Mäuse nicht nur neugierig und mutig, sondern auch ewig hungrig sind. Und Getreidekörner sind nun einmal ihre Leibspeise.
„Danke!“, wisperte die Maus hastig. Und schon war sie auf den Boden gehüpft, und dann hockte sie wieder auf ihrem versteckten Platz hinter dem Holzstoß, und ihre kleinen, scharfen Zähnchen nagten emsig an den köstlichen Körnern.
Als die Maus ihre Mahlzeit beendet hatte, fielen ihr plötzlich die Tiere ein, die auf sie warteten, und denen sie die Botschaft des Christkinds überbringen musste. „Wie komme ich jetzt nur wieder nach draußen?“, dachte sie. „An dem fürchterlichen Wächter mit dem Flammenschwert vorbei?“ Denn Mäuse sind nicht nur neugierig und mutig und verfressen, sondern auch furchtsam, schreckhaft und ängstlich.

IV.
Da aber geschah etwas Seltsames. Der Flammenstrahl aus dem Schwert des Engels begann zu flackern wie eine heruntergebrannte Kerze. Das Licht wurde blasser und blasser. Schließlich war nur noch ein heller Schein dort, wo der Engel stand. Und dann waren Engel und Schein und Flammenschwert verschwunden. Draußen brach der Tag an. Durch die kleinen Fenster des Stalles drangen die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne. Josef erwachte und rieb sich schlaftrunken die Augen. Dann stand er auf und löschte die Laterne, die an einem Balken neben dem Eingang hing. Auch Maria hatte sich erhoben, um nach dem Kind zu sehen, das, tief im Stroh versunken, ruhig schlief. Da fasste sich das Mäuschen ein Herz und huschte durch die Dämmerung hinaus ins Freie.

V.
Vor dem Stall herrschte eine beträchtliche Aufregung. Genauer gesagt: Die Tiere stritten heftig miteinander.
„Unzuverlässig, diese Mäuse!“, schnaubte das Wildschwein. „Wir sollten selbst hineingehen, um nach dem Rechten zu sehen!“
„Ich stehe mir hier die Beine in den Leib. Seit Stunden stehe ich mir die Beine in den Leib“, klagte die Gans. „Meine Zehen sind schon völlig eingefroren.“
„Wer ist nur auf diese unsinnige Idee gekommen, die Maus loszuschicken!“, meckerte die Ziege. „Ich hätte das viel besser gekonnt.“
Der Uhu pflichtete ihr bei. „Mäuse sind für eine solche Mission nicht geeignet. Ich wüsste eine viel bessere Verwendung für diese Schädlinge.“
„Da bin ich wieder, Kameraden!“, piepste in diesem Augenblick ein feines Stimmchen. „Ich kann euch erzählen...“
Aber niemand interessierte sich mehr für die Botschaft der kleinen Maus.
„Ruhe! Ruhe!“, bellte der Hund. „Keine Zusammenballungen! Keine Demonstrationen, kein Aufruhr, wenn ich bitten darf! Ruhe und Ordnung sind erste Bürgerpflicht!“
„Was heißt hier Bürger!“, brummte der Bär. „Wir haben völlig umsonst gewartet. Ich gehe jetzt. Außerdem knurrt mein Magen."
„Ganz meinerseits“, sagte der Fuchs und schielte begehrlich zur Gans hinüber. Denn die heilige Nacht war zu Ende, und die tierischen Gelüste regten sich wieder. Da zogen es der Frosch, der Gockel, die Schlange, der Maulwurf und all die anderen kleineren Tiere vor, ihre sicheren Verstecke aufzusuchen. Auch das Schaf machte sich wieder auf den Weg zu seiner Herde. „Was ihr euch nur immer streitet!“, mähte es unwillig. „Und Friede den Tieren auf Erden, hat der Engel gesagt, ich habe es genau gehört.“
„Und Friede den Menschen auf Erden“, bellte der Hirtenhund wütend. „Du musst deine Ohren auswaschen!“
„Ob Menschen oder Tiere, es ist überall das selbe. Nur Streit und Zwietracht. Da hat das Christkind noch viel Arbeit vor sich“, gurrte die Taube und flatterte bekümmert dem fernen Waldrand zu.

VI.
Am Schluss war der Platz vor dem Stall leer und verlassen. Nur das kleine Mäuschen hockte noch da. Es hätte ja so gerne erzählt. Vom Engel mit dem Flammenschwert wollte es berichten und von Maria und Josef und vom Kind und von dem, was ihm das Christkind gesagt hatte. Es hatte so viel zu erzählen! Aber niemand war da, um ihm zuzuhören. Da huschte es über den Weg und zwischen die Büsche und in seinen schützenden Mäusebau hinein. Hoch oben im Himmel kreiste der Bussard.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.12.2017. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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