Paul Theobald

An der Bushaltestelle

In den 1950er Jahren, als die Kanalstraße nicht an der Rheinstraße endete und noch bis zum Foltzring ging und der Zöllerring an dieser Ecke begann, gab es die Schreibwarenhandlung Hans Schnabel und eine Postbus-Haltestelle auf der dortigen Verkehrsinsel. Eine Bank lud zum gemütlichen Verweilen ein. Damals unterschied man den Bus nach seiner Farbe – war er gelb, kam er von der Post und ein dunkelroter von der Bahn. Auf der Bank trafen sich an schönen Tagen zum Plausch die älteren Menschen, die in der Nähe wohnten. Sie kamen nach dem Mittagessen und blieben dann oft bis zum Abendessen. An einem Tag stieg dort ein älterer Mann mit seiner Frau bei der Postbus-Haltestelle aus. Es war ein ehemaliger Frankenthaler, der in jungen Jahren ins Ausland gegangen war. Er dachte, es gäbe noch den Ostbahnhof und wollte mit der Lokalbahn eine Rundreise durch die Gegend machen, um diese seiner Frau zu zeigen. Da er keinen Ostbahnhof sah, sagte er zu den auf der Bank sitzenden Personen: „Wo bin ich?“ Meine Oma, die Marie Müller geb. Federkiel hieß, antwortete: „Immer noch auf der Erde. Haben Sie gemeint, Engel zu treffen?“
Kurze Zeit danach kam Frau Mina Merz vorbei, die für die SPD Mitglied des Rates der Stadt Frankenthal (Pfalz) und 1. Vorsitzende der Arbeiterwohlfahrt Frankenthal war. Auf der Bank saßen etliche ihr bekannte Menschen und so sagte sie: „Hätte ich gewusst, so viele mir bekannte Gesichter zu treffen, hätte ich Kaffee und Kuchen mitgebracht!“ Dort befand sich an der Ecke Kanalstraße/Zöllering die Bäckerei Christiany, später Rupp, und so sagte die Gruppe: „Den Kuchen kann man in der Bäckerei kaufen und jemand von uns geht nach Hause und macht den Kaffee!“ Und so geschah es dann auch. Anschließend unterhielt sich die Runde in einer netten Plauderstunde.
Meine Oma erzählte, wie es dazu kam, dass sie 1933 durch das Sondergericht Frankenthal zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Sie hatte bei einer Frau, die sie schon als kleines Mädchen kannte, denn sie hatte für deren Eltern Lebkuchen verkauft, es war die Bäckerei Christian Webel, die vor dem 2. Weltkrieg in Frankenthal, Kanalstraße 4, danach in der Wormser Straße 80 war, Waren angeboten, denn meine Oma ging damals von Haus zu Haus, um Strümpfe, Taschentücher, Bettwäsche etc. zu verkaufen. Die Frau lobte die neue Hitlerregierung, während meine Oma, eine überzeugte Sozialistin, von der die heutige SPD sich glücklich schätzen könnte, eine solche Person in ihren Reihen zu haben, erklärte, dass dies „alles Schwindel“ sei. Die Frau zeigte daraufhin meine Oma bei der Kriminalpolizei in Frankenthal an. Meine Oma schloss ihre Erzählung mit dem Satz: „Ja, so kann man sich in den Menschen täuschen!“
Danach kam Frau Kronauer, die bei der Metzgerei Sterf in der Nürnberger Straße 4 und danach in der Karolinenstraße wohnte, an die Reihe. Sie erzählte, dass sich der Pfarrer Wilhelm Hilzensauer von der St. Dreifaltigkeitskirche und der Wirt Fritz Fröhlich nie mit ihren Namen begrüßten, wenn sie sich begegneten. Während Herr Fröhlich sagte: „Guten Morgen, Schwarzer!“, denn der Pfarrer Hilzensauer war immer schwarz gekleidet, erwiderte der Pfarrer den Gruß mit „Guten Morgen, Roter!“, denn der Gastwirt hatte rötliche Haare.
Wohl auch dadurch, dass die Bank in der Nähe des ehemaligen Frankenthaler Kanalhafens stand, fiel Frau Frohnheiser, die im Foltzring 97 wohnte, die Geschichte ein, dass einmal im Hafenbecken ein Mann war, der laut um Hilfe schrie. Zwei beherzte Personen seien in dieses gesprungen, um den Mann zu retten. Als sie diesen an Land gezogen hatten, sei dieser wieder ins Hafenbecken gesprungen. Die vermeintlichen Retter waren darüber sehr verwundert, dass ihre Hilfsbereitschaft in dieser Art und Weise ausgenutzt worden war.
Danach kam Frau Mina Merz dran. Sie war damals eine in der Stadt Frankenthal (Pfalz) sehr geschätzte Person und wohl ab und zu Kundin in der Metzgerei Sterf, die sich in der Nürnberger Straße 4 befand. Frau Merz wohnte gegen Ende der Wallonenstraße, kurz bevor diese auf den Foltzring stieß. „Herr Heinrich Sterf“, so ihre Geschichte, „sei ein merkwürdiger Metzgermeister. Er würde gute Wurst machen und der Laden sei gerammelt voll. Doch dann werde die Qualität seiner Wurst schlecht und die Würstchen kleiner. Der Metzgermeister Heinrich Sterf habe dazu erklärt, dass ihm dies viel zu viel Arbeit bei einer so großen Kundschaft sei, und er mit der schlechteren Qualität der Wurst dafür gesorgt habe, dass die Anzahl der Kunden abnimmt. Jetzt, wo der Laden fast leer sei“, so Frau Merz weiter, „sei die Wurst des Metzgermeisters Sterf wieder von hervorragender Qualität und die Würstchen größer geworden.“
Zum Schluss war Herr Schreiber, der in der Rheinstraße wohnte, an der Reihe. Er erzählte von den Frankenthaler Frühstücksmeistern, die sich schon morgens um 9.00 Uhr bei Frau Margarete Ruppert, die in der Carl-Theodor-Straße 15 wohnte und dort einen Flaschenbierverkauf hatte, trafen und bis abends fröhlich becherten. Die Arbeit, die sie hätten verrichten müssen, durften die Gesellen machen. Die schwerste Arbeit der trinkfesten Meister sei es an diesem Tag gewesen, abends wieder nach Hause zu kommen.
So war es damals in den 1950er Jahren. Die Nachbarn und Arbeitskollegen trafen sich noch zum gemütlichen Beisammensein.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.12.2017. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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