Helga Eberle

Weihnacht 1944

Die Dose mit dem selbstgebackenen Weihnachtsgebäck ist von Mutter in nicht erreichbarer Höhe auf dem Kleiderschrank verstaut. Trotzdem ist sie nur noch halbvoll. Doch das weiß nur ich. Jeden Abend arbeitet Mutter bis in alle Nacht an irgendeinem Pullover oder an Handschuhen, die sie in aller Heimlichkeit für uns Kinder strickt. Oh ich weiß, aber ich darf es nicht wissen, also frage ich immer wieder penetrant: „Mutter was bringt mir wohl das Christkind?“. Ich werde von ihr angefahren: „Komme ja nicht auf die Idee und wieder alles durchzuvisitieren, sonst bekommst Du gar nichts“. Es wird von Tag zu Tag spannender. Mein Bruder kann es auch kaum mehr erwarten, denn er wünscht sich dringend eine Burg mit Soldaten und auch noch einen Panzer. Den Panzer wünscht er sich nicht vom Christkind, denn das bringt keine Waffen, sagt Mutter. Ein paar Tage vorher steht Vater in Uniform vor der Tür. Dieser Urlaub macht unsere Familie wieder mal komplett. Alles friedlich, kein Fliegeralarm, klare Nächte. Und jetzt ist der 24. Dezember und wir Kinder warten in unserem Kinderzimmer auf das Christkind. Das winzige „Zimmerle“, wie wir immer sagen, ist immer an diesem Tag und nur an diesem geheizt. Der kleine runde Kanonenofen scheint sich selbst darüber zu freuen, denn er strahlt eine behäbige Wärme aus. Wir Kinder liegen am Boden, direkt gegenüber der Ofentüre. Durch das Glas sehen wir die rote Glut und unsere Gesichter glühen von der Hitze. Wir können uns an den Flammen fast nicht sattsehen. Draußen im Flur hören wir die Eltern flüstern und dies und jenes bewegen. Geduld ist nicht meine Stärke, deshalb rufe ich immer wieder: „Wann ist es denn soweit? müssen wir noch lange warten?“. „Bleibt ja drin“, droht Mutter, „sonst fällt Weihnachten aus.“ Nur das nicht! So etwas gab es nämlich schon einmal.
Also verhalten wir Kinder uns ruhig und warten, warten. Auf einmal tut sich da draußen etwas. Jetzt, ruft Mutter und wir hören ein Glöckchen läuten. Das kennen wir. Wir stürmen die Tür raus. Draußen im Flur brennt kein Licht, die Tür zur Wohnküche steht auf. Es duftet, wie nur am Heiligen Abend, nach Honig. Die Küche ist dunkel, aber im Eck auf der zusammengeklappten Nähmaschine mit Tischdecke steht der Christbaum mit brennenden Kerzen. Drei Schritte rein in den Raum und wir stehen vor der Herrlichkeit. Vor dem Baum ist auf zwei Hockern eine Puppenküche aufgebaut. In dieser Küche stehen auf einem Herd ein Kochtopf und ein Wasserkessel in Miniatur. Das Unfassbare für mich, auf dem Kochtopf scheppert ein Deckel, weil Wasser im Topf kocht. Im Herd brennt ein Feuer. Das ist für mich sensationell, deshalb will ich gleich nachschauen, aber werde von Vater gestoppt. „Halt, jetzt wird erst gesungen“. Die alten Weihnachtslieder wurden seit dem 1. Advent täglich geübt. Wir singen mit Inbrunst. Vater und Mutter haben sich beide umarmt, was ich immer schön finde. Doch von dieser Liebe will ich auch etwas und dränge mich dazwischen. Mein Bruder kniet schon am Boden, er hat die Burg entdeckt. Vater richtet schnell eine flackernde Kerze sicher auf, „schaut mal, was wir dieses Jahr einen schönen Baum haben. Dieser alte Schmuck, er deutet auf kleine schwere Kugeln, sind noch aus meiner Kindheit.“ Wir staunen. Es stimmt, der Baum mit seinen feinen Nadeln und den alten bunten Kugeln ist so schön, dass ich mich fast nicht sattsehen kann. Allerdings habe ich entdeckt, dass für jedes von uns Kindern, ein Weihnachtspappteller mit allerlei Weihnachtsbrödle darunter steht. Der Duft der Zimtsterne, oh, mir läuft das Wasser im Mund zusammen.
Mutter macht das Licht an und Vater bläst die Kerzen aus. Auf dem Küchentisch, der fein in weiß mit ein paar kleinen, darauf liegenden Tannenzweigen gedeckt ist, stehen brennende Kerzen. Das gibt es nur am Geburtstag und an Weihnachten. Dann wird die Schüssel mit dem frischen Kartoffelsalat und die heißen Wiener-Würstchen serviert. Auch das ist ein Traditionsessen an Weihnachten.
Endlich dürfen wir uns auf die Geschenke stürzen. Eine Puppenküche vom Feinsten, so etwas hat bestimmt keines meiner Nachbarkinder. Ein richtiger Küchenschrank mit Töpfen und Geschirr, sogar Besteck, auch Kochlöffel gibt es. Über dem Schrank hängt eine Küchenuhr. In der Mitte steht ein Holztisch und 4 Stühle, alles in Weiß. In einem Eck steht ein kleiner Putzeimer und sogar ein richtiger Bodenblocker. Der Hit ist aber der Herd, der wie mir erklärt wird, mit Esbit-Tabletten beheizt wird. Meine Eltern haben daran genauso eine Freude. Mutter erklärt: „Ich selbst habe als Kind so etwas nie bekommen. Eine Puppe aus Stoff, so eine richtige Schlumpel war mein einziger Schatz, und sie wurde von meinem damals neidischen Bruder kaputt gemacht.“ Aber das interessiert mich nun gar nicht: „Ich will jetzt gleich kochen“. Mutter assistiert mir. Der Brei aus Wasser und zerdrückten Weihnachtsbrödle ist schnell gemacht. Während Mutter die Puppenküche wieder von den Bröseln reinigt füttere ich meine Puppe Gerda mit dem feinen Brei, alles rein in das offene Göschle. Vater baut derweil mit meinem Bruder die Burg und die Fallbrücke auf. Eine halbe Stunde sind wir alle einträchtig mit unserem Spielzeug beschäftigt. Dann will Walter kochen und ich liege am Boden und mache Krieg. Ich stelle die Soldaten auf, lasse sie marschieren, kämpfen. Anschließend bringe ich die ganze Mannschaft mit samt den Pferden um, indem ich die Zugbrücke hochziehe und sie im Burggraben ersaufen lasse. Mädchen können das genauso gut wie die Jungs! Währenddessen sitzen die Eltern friedlich umarmt beieinander. Später gibt es dann noch Kaffee (Muggefug) und Kuchen oder Brödle. Wir Kinder müssen dann ins Bett, damit Vater und Mutter auch noch ein wenig Zeit für sich allein haben. Im Bett in unserem gemeinsamen Kinderzimmer reden mein Bruder und ich noch einmal über alles.
Nachdem ich vom Christkind so reich beschenkt worden bin, regt sich mein schlechtes Gewissen. Hatte ich mir doch mit Hilfe eines Schemels, den ich auf einen Stuhl gestellt habe, schon vierzehn Tage vor dem Fest die leckeren Springerle und das Buttergebäck schmecken lassen. Dafür steht die Strafe noch aus. Was war da passiert? Jetzt höre ich von Walter, dass Vater auch ein Mitesser gewesen ist. Ich bin also wieder mal davongekommen, was ein Glück. Nehme mir aber vor, mich zu bessern. Ob es gelingt? Diese Kriegsweihnacht bleibt mir in Erinnerung, weil wir im darauffolgenden Jahr 1945 nicht mehr zu Hause, sondern als Flüchtlinge in Fischingen a.N. waren. Dort wurde dann alles ganz anders.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.12.2017. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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