Manfred Sander

Eine außergewöhnliche Silvesternacht


Meine Eltern haben mir den komischen Namen Jonathan gegeben. Ich bin 6 Jahre alt und im letzten Sommer in die Schule gekommen. Heute haben wir den letzten Tag des Jahres und meine Eltern haben mir versprochen, den Jahreswechsel mitzuerleben. Sie haben für die Feier schon alles vorbereitet. Das Wohnzimmer ist mit bunten Girlanden geschmückt und in der Badewanne schwimmt ein Karpfen, der als Festmahl zubereitet werden soll. Mir tut der Fisch sehr leid, und ich habe ihm mein kleines Segelschiff gebracht, damit er in seinen letzten Stunden etwas zum Spielen hat. Es scheint ihm auch Freude zu bereiten, denn er stupst es ständig mit seiner Nase an und hält es in Bewegung. Doch die Vorsehung hat es nicht gewollt, daß der Karpfen, dem ich den Namen Balthasar gegeben habe, bei uns auf dem Teller landet. Vater war zwar schon mit dem Messer auf dem Weg zur Badewanne, und ich habe keinen Pfifferling mehr auf das Leben von Balthasar gegeben, da hörte ich Mutter aus der Küche schreien. Ich wußte zwar, daß ich ein Schwesterchen kriegen sollte,    aber daß es sich just in diesem Moment ankündigte, schien auch meine Mutter zu überraschen. „Ich glaube, es geht los,“ hörte ich sie schreien, „wir müssen uns sofort auf den Weg machen.“ Vater ließ vor lauter Nervosität das Messer fallen, schnappte eine bereits vorsorglich gepackte Tasche und verließ mit Mutter in großer Eile die Wohnung. Ich war wütend auf mein Schwesterchen, das mir, bevor es überhaupt auf der Welt war, die versprochene Silvesterfeier verdarb. Daß es ein Schwesterchen werden sollte, hatte mir meine Mutter bereits erzählt. Glücklich über den Familienzuwachs war ich nicht, denn mein Freund Sebastian hatte vor kurzem auch ein Schwesterchen bekommen, das von morgens bis abends nur fürchterlich am Schreien ist. Sebastian meint, die kleinen Schwesterchen seien eigentlich auch Jungens, denen man das Schnippelchen herausgeschnitten und das Loch anschließend nicht wieder zugenäht hat. Das würde dann noch einige Zeit sehr weh tun, und deswegen seien sie dauernd am Schreien. Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber einen Schreier bei uns in der Wohnung könnte ich nicht gebrauchen. Und wenn sie so aussieht, wie die Mutter die letzte Zeit im Profil aussah, würde ich eine Tonne als Schwester bekommen und das Gelächter und die Schadenfreude meiner Freunde wäre mir gewiß.

„Jonathan,“ hörte ich plötzlich die Stimme meines Großvaters, der im Wohnzimmer am Tisch saß und die Pfeife rauchte. „Jonathan, komm zu mir, ich habe etwas zum Trinken auf den Tisch gestellt. Wir können auch allein die Silvesternacht feiern.“ Ich ging ins Wohnzimmer und setzte mich meinem Großvater gegenüber. Er hatte vor sich eine Flasche Schnaps und ein Schnapsgläschen stehen, aus dem er offenbar schon einige Tropfen genossen hatte. Für mich stand ein großes Glas mit Obstsaft bereit und ein Teller mit Plätzchen, die Mutter für Weihnachten gebacken hatte. Eigentlich hatte ich bisher meinen Großvater nie so richtig angeguckt. Er war eben da, und ich hatte mich an ihn und seinen Anblick gewöhnt. Jetzt, wo er mir aber so gegenüber saß, und ich ihn eindringlich anschaute, kam er mir doch schon ganz schön alt und ausgelaugt vor. Es hätte mich nicht gewundert, wenn er schon damals bei dem Bau der Arche Noah dabeigewesen wäre. Ich mußte auch an meinen letzten Zoobesuch mit unserer Schulklasse denken, wo wir vor dem Affenhaus standen und mir beim Anblick dieser Tiere instinktiv meine Großeltern in den Sinn kamen. Sie sind ja auch als alte Menschen nicht so weit von den Menschenaffen entfernt, wie ich als kleiner Junge. Messerscharf sah ich jetzt Opa an, der gütig lächelnd und mit leicht gerötetem Kopf mich anschaute. Die Haare, die ihm auf dem Kopf fehlten, schienen ihren Ausgang aus Ohren und Nase zu suchen. Seine schmalen Lippen guckten aus einem langen grauen Rauschebart hervor, der Kinn und Wangen völlig abdeckte. „Hörst Du mich, Jonathan,“ wiederholte da Großvater, und brachte mich hiermit aus der Welt meiner anthropologischen Überlegungen wieder in die Wirklichkeit zurück, „wir können doch auch allein eine Silvesterfeier auf die Beine bringen.“ „Ja, Großvater, das können wir,“ sagte ich und schaute dabei auf Großmutter, die in einem Korbsessel saß und strickte. Das Klappern der Stricknadeln konnte man bei uns den ganzen Tag hören, denn Großmutter war nur am Stricken und es wunderte einen, daß sie ihre Stricknadeln nicht auch nachts mit ins Bett nahm. Ob Großmutter wohl mitfeiern will, dachte ich und verwarf den Gedanken gleich wieder, denn sie nahm gar keine Notiz von uns und blickte starr mit ihrem eingefallenen Gesicht auf ihre Handarbeit. Sie hatte immer ein solches Schrumpelgesicht, wenn sie ihr Gebiß  nicht eingesetzt hatte, und das war die meiste Zeit der Fall. So ließ ich Großmutter in Ruhe und wendete mich wieder meinem Großvater zu, der sich mittlerweile wieder ein Gläschen Schnaps eingeschenkt hatte, und mir zuprostete. So saßen wir den ganzen Abend gemeinsam am Tisch. Ich trank mehrere Gläser Obstsaft und Großvater hörte nicht auf zu Trinken, bis nur noch ein kleiner Rest von dem Teufelszeug, wie er es immer nannte, in der Flasche war. Da fiel mir plötzlich Balthasar ein, der durch glückliche Fügung den Silvesterabend überlebt hat. Ich nahm die Flasche mit dem Schnapsrest, ging ins Badezimmer und goss den Inhalt in die Badewanne. Auch Balthasar sollte heute   abend glücklich sein. Als ich wieder ins Wohnzimmer kam, saß Großvater zusammengesunken auf dem Stuhl und schlief. Sämtliche Kraft war aus dem Körper entwichen und konzentrierte sich auf sein Atmungsorgan. Wenn Großvater schnarcht, ist das furchteinflößend. Das Zimmer bebt und an eine Unterhaltung ist nicht mehr zu denken. Ein Blick zur Großmutter sagte mir, daß eine weitere Unterhaltung am Silvesterabend sinnlos war. Auch sie war über ihrer Handarbeit zusammengesunken und schlief den Schlaf der Gerechten. Nun bin ich ganz allein noch wach, dachte ich. Doch da fiel mir Balthasar ein. Ich eilte in das Badezimmer, um ihm eine schöne Silvesternacht zu wünschen. Doch auch das war nicht möglich, denn Balthasar lag bewegungslos auf dem Rücken und schien auch im Reich der Träume zu sein. Ich überlegte gerade, ob auch ich ins Bett gehen sollte, da klingelte das Telefon. Ich nahm den Hörer ab und hielt ihn an mein Ohr. Ein lautes Babygeschrei erschütterte mich und dann hörte ich die Stimme meines Vaters:“Hallo Jonathan, ich wollte Dir nur einmal Deine Schwester vorstellen. Ich hoffe Du hast uns unser schnelles Verschwinden verziehen und bist mit Deinen Großeltern bei bester Feierlaune.“ Um dem Geschrei meiner Schwester zu entgehen, legte ich den Hörer wieder schnell auf. Wenn sie erst bei uns ist, dachte ich, werde ich ihre wunde Stelle mit Salbe einreiben, dann hört das Geschrei bestimmt bald auf. Ich setzte mich wieder auf meinen Platz am Wohnzimmertisch und schlürfte von meinem Obstsaft. Es fehlte nur noch eine halbe Stunde, bis das neue Jahr eingeläutet wurde. Auch mir fielen die Augen zu und ich war gerade am Einschlafen, als ich durch ein zischendes Geräusch mit drei aufeinander folgenden Knallgeräuschen wieder in die Wirklichkeit zurückgeholt wurde. Mir war sofort klar, daß das Geräusch nicht von draußen kam. Es hörte sich wie eine brennende Lunte an, die anschließend drei Luftballons zum Platzen brachte. Ich schaute erst auf Großvater, dann auf Großmutter. Ich glaube zwar, daß Großvater es war, der etwas vorzeitig die mitternächtliche Knallerei eingeleitet hat, aber ganz sicher war ich mir nicht. Auch Großmutter konnte einen manchmal mit solchen Geräuschen zum Staunen bringen. Auf diese Weise wieder munter geworden, setzte ich mich jetzt auf die Fensterbank und bewunderte das nunmehr von draußen kommende Feuerwerk, das die Menschen veranstalten, um Glück im neuen Jahr zu haben.

Übrigens bin ich heute 10 Jahre alt und wir feiern diesen Abend wieder Silvester. Der Tisch ist schon gedeckt. Die Stühle, in denen die Großeltern saßen, sind jedoch unbesetzt. Sie sind inzwischen von uns gegangen und sehen uns von oben zu. Meine kleine Schwester Silvestra wird heute abend just zu dem Zeitpunkt, als damals einer meiner Großeltern die ersten Silvesterknaller von sich gegeben hat, vier Jahre. Heute schreit sie nicht mehr, und ich weiß inzwischen auch, daß das mit der Salbe dummes Zeug war. Wichtig zu erwähnen ist noch, daß Balthasar die Silvesternacht überlebt hatte. Am nächsten morgen schwamm er wieder vergnügt durch die Badewanne und hatte seinen Rausch ausgeschlafen. Vater und ich haben ihn dann in einem benachbarten Teich ausgesetzt. Ich gehe öfters zum Teich und schaue mir die Karpfen an, und wenn einer auf mich zuschwimmt, glaube ich, nein weiß ich, daß es Balthasar ist, dem meine Schwester einstmals das Leben geschenkt hatte. 

 

 


 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.12.2017. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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