Manfred Sander

Hoppel unser Osterhase

Ich heiße Jonathan und bin 10 Jahre. Ich habe Euch vor kurzem von der Silvesternacht erzählt, in der meine Schwester Silvestra geboren wurde und damit dem Karpfen Balthasar das Leben gerettet hatte. Falls ihr die Geschichte „eine außergewöhnliche Silvesternacht“ nicht kennt, könnt ihr sie unter der Internet-Adresse www.buch-schreiben.net nachlesen. Seit dieser Silvesternacht ist nun schon eine Zeit vergangen, und wir nähern uns bereits dem Osterfest. Immer wenn die Osterzeit näher kommt, muß ich an das Osterfest vor 6 Jahren denken. Ich war damals 4 Jahre alt. Abgesehen davon, daß meine Schwester Silvestra noch nicht das Licht der Welt erblickt hatte, war alles eigentlich genauso wie heute. Mein Vater ging immer sehr früh zur Arbeit und kam abends erst spät nach Haus. Hatte ich etwas auf dem Herzen, konnte ich ihn dann nicht damit belästigen. „Geh zu Deinem Großvater,“ pflegte er zu sagen, wenn ich versuchte ihn etwas zu fragen. Mutter war normalerweise auch nicht ansprechbar. Man konnte sie fast nur mit dem Staubsauger oder dem Staublappen durch die Wohnung laufen sehen, obgleich alles steril und sauber war. Papa sagte immer, sie hätte den Reinlichkeitsbazillus. Ich weiß nicht, was das für eine Krankheit ist, jedenfalls ist sie nicht ansteckend, denn Großmutter sitzt immer ruhig in ihrem Korbsessel und strickt und Großvater läßt sich in seinem Lehnstuhl auch nicht aus der Ruhe bringen. Eigentlich war Großvater die Person im Haushalt, zu der ich mich am meisten hingezogen fühlte, denn er hatte immer Zeit für mich. Ich kann mich noch gut an jene Situation erinnern, als Großvater sich die Pfeife ansteckte. Er hatte gerade die Zeitung ausgelesen und jetzt kam die Phase, wo er sich gern mit mir beschäftigte. „Jonathan,“ höre ich ihn heut‘ noch mit seiner tiefen Stimme sagen, „Jonathan, hast Du schon das Nest für die Ostereier gebaut? Morgen ist Ostersonntag, und da kommt der Osterhase. Wenn er nicht weiß, wo er die Eier hinlegen soll, wird er sie wohl wieder mitnehmen.“ „Keine Sorge, Großvater,“ entgegnete ich, „das Nest ist fertig, und ich hab es besonders groß gemacht.“ Da auf der Straße einige meiner Freunde behaupteten, es gäbe gar keinen Osterhasen, sah ich die Gelegenheit jetzt als günstig an, meinen Großvater zu fragen. Er war sehr belesen und wußte eigentlich über alles Bescheid. „Du, Großvater,“ sagte ich, und setzte mich zu seinen Füßen auf ein Kissen, „kannst Du mir etwas über den Osterhasen erzählen?“ Großvater überlegte einen Augenblick, dann lächelte er und sagte: „Ja, mein Junge, es ist gut, daß Du es Dir gemütlich gemacht hast, denn die Frage über den Osterhasen hatte ich als Kind auch schon meinem Großvater gestellt. Ich gebe jetzt mein Wissen an Dich weiter und hoffe, daß Du später Deinen Enkelkindern alles genau so weiter erzählst.“ Gebannt lauschte ich nun seinen Worten und rutschte vor Aufregung auf meinem Kissen hin und her.
„In jedem Jahr eine Woche vor dem Osterfest passiert etwas Wunderbares, was kaum ein Mensch weiß. Alle Hasen des Landes treffen sich dann in einer riesigen unterirdischen Höhle, die im Zentrum des Landes liegt. Es sind Millionen von Hasen, die da zusammenkommen, und alle haben die Aufgabe, den Menschenkindern das Osterfest zu verschönern. Ab dem siebten Tag vor Ostern wird den Hasenmüttern die wunderbare Gabe zuteil, genau wie die Hühner Eier zu legen. Alle Hasenmütter, die zuvor nur Möhren gefressen haben, legen rote Eier, alle diejenigen, die nur Blaukraut gefressen haben, legen blaue Eier, und all die, welche nur grünen Salat gefressen haben, legen grüne Eier. Farbig gesprenkelte Eier kommen bei denen zum Vorschein, die von allem etwas gefressen haben. Während so die Hasenmütter für das Legen von farbigen Ostereiern zuständig sind, haben in dieser Zeit die Hasenväter die Gabe Schokoladeneier zu legen. Während die Hasengroßmütter und Hasengroßväter dafür zuständig sind, sich anschließend auf die farbigen Eier zu setzen, um sie fest werden zu lassen, ist letztendlich die Hasenjugend, soweit sie schon schnell genug laufen kann, dafür zuständig, die Eier an die Menschenkinder zu verteilen. Das passiert am Ostersonntag. In der riesigen Hasenhöhle gibt es zu jeder Himmelsrichtung hin einen Ausgang, damit ein schneller Transport gewährleistet ist. Und morgen ist nun Ostersonntag und damit der Tag der Verteilungsaktion.“ Bevor ich etwas sagen konnte, fügte Großvater hinzu: „Du kannst Dir wohl vorstellen, was die Hasen für eine arbeitsreiche Woche haben, bis sie sich am Ostermontag zur Ruhe legen können. Und da die Hasen nicht schwimmen können, gibt es auch in anderen Ländern, wo das Osterfest gefeiert wird, solch riesige Höhlen, wo sich die Hasen treffen, um ihre Aufgabe zu erfüllen.“
Mir war ganz heiß vor Aufregung geworden und ich stellte mir die Betriebsamkeit der Hasen in dieser Osterwoche vor. „Wie kommen denn die Hasen in die Häuser rein, Großvater, wenn die Fenster und Türen alle geschlossen sind?“ hakte ich vor lauter Wißbegierde nach. „Ja, Jonathan, das ist auch so ein Geheimnis. In der Hasenschule lernen die jungen Hasen zwei Zaubersätze, die allerdings nur am Ostersonntag wirken. Steht der Hase vor der verschlossenen Tür, muß er in der Hasensprache sagen: „Du mein Türlein fein, laß mich bitte rein.“ Dann geht die Tür auf, der Hase kann rein, aber sie schließt sich hinter ihm wieder. Will der Hase wieder raus muß er sagen: „Du mein Türlein fein, ich möcht‘ draußen wieder sein.“ Dann geht die Tür wieder auf, und der Hase kann zum nächsten Haus laufen. Allerdings kommt es vor, daß ein Hase diese Zauberformel nicht mehr weiß und das Haus nicht verlassen kann.“ Großvater senkte jetzt die Stimme und flüsterte fast: „So wie bei unserem Stallhasen Hoppel.“ Jetzt viel mir das vorige Jahr ein, wo Großvater einen Hasenstall gezimmert und anschließend einen Hasen hineingesetzt hatte. Nun war mir alles klar. Unser Hoppel war ein Osterhase, der zwar ins Haus konnte, aber beim Verlassen des Hauses die Zauberformel nicht mehr wußte. Ich war froh über Großvaters Bericht und nahm mir vor, meinen Enkelkindern das Geheimnis über die Osterhasen weiterzugeben. Ich legte das Kissen wieder ordentlich auf das Sofa, schaute kurz noch einmal zu Großvater rüber und verließ dann das Zimmer. Ich war überwältigt davon, was ich alles über die Osterhasen erfahren hatte, und stolz auf das Wissen meines Großvaters, der selbst Zauberformeln aus dem Hasenbereich wußte. Mir war völlig klar, was ich nun machen mußte. Ich ging im Treppenhaus zum Hintereingang raus und kam direkt auf unseren kleinen Hof.  Dort stand der Hasenstall mit Hoppel, dem gefangenen Osterhasen. Der Stall war mit einem Vorhängeschloß versehen und konnte nicht geöffnet werden. Ich muß Hoppel die zweite Zauberformel wieder in Erinnerung bringen, überlegte ich, damit er morgen wieder die Freiheit erlangen kann. Denn mir war bewußt, daß diese Formel nur am Ostersonntag seine Wirksamkeit entfaltet. Schließlich erblickte ich durch den Maschendraht Hoppel. Mir schien es, als blicke er ganz traurig. Er wird wohl an das kommende Osterfest denken, und daran, daß er vor einem Jahr noch frei hier ankam, dachte ich. Ich guckte Hoppel fest an, als wollte ich ihn hypnotisieren. Laut und deutlich sagte ich dann: „Du mein Türlein fein, ich möcht‘ draußen wieder sein.“ Ich wiederholte diesen Satz bestimmt 100 mal und betete, er möge den Satz verstehen und morgen in die Hasensprache umwandeln. Nachdem ich mich ins Bett gelegt hatte, konnte ich nicht einschlafen. Meine Gedanken waren stets bei Hoppel, und ich wünschte ihm allzu sehr, daß er die Freiheit wiedererlangen möge. Früh morgens gegen sechs Uhr konnte ich es nicht mehr aushalten. Leise schlich ich die Treppe hinunter und öffnete die Tür zum Hinterhof. Ich sah die Stalltür offen, und alles in mir jubelte. Ich war so glücklich, daß sich Hoppel wieder an den Spruch erinnert hatte und nun wieder mit den anderen Hasen die Ostereier verteilen konnte. Vor Seligkeit und Befreiung weinend legte ich mich wieder ins Bett und fiel auch sogleich in einen tiefen Schlaf. Es war schon 12 Uhr, als Mutter die Tür öffnete. „Du alter Langschläfer, willst Du denn nicht mal schauen, ob der Osterhase Dir etwas gebracht hat?“ hörte ich ihre Stimme. Mit einem Sprung war ich aus dem Bett, lief zu dem von mir gebauten Nest und sah, daß es die vielen Eier und Süßigkeiten kaum fassen konnte. Da hat bestimmt Hoppel aus Dankbarkeit kräftig mitgeholfen, dachte ich, und steckte mir ein kleines Schokoladenei in den Mund. Da hörte ich Vater rufen: „Jonathan, füll Dir den Bauch nicht mit Süßigkeiten, das Mittagessen ist fertig.“ Während wir normalerweise in der Küche zu Mittag aßen, war dieses am Osterfest anders. Zur Feier des Tages wurde im Wohnzimmer eingedeckt. Ich ging also in das Wohnzimmer und sah auf dem Tisch einen Porzellanteller mit einem gebratenen Stück Fleisch. Als ich die Form des Bratens sah, schossen mir die Tränen ins Gesicht. Man sah noch genau die Umrisse unseres Hoppels. Es wurde mir klar, daß meine Freude über seine Befreiung ganz vergeblich war. Vater hatte ihn noch gestern abend aus dem Stall geholt und ihn geschlachtet. Er sollte uns als Festmahl dienen. Ich habe an diesem Tag nur Kartoffeln und ein bißchen Gemüse gegessen. Ich hätte es nicht fertig gebracht, auch nur einen Bissen von Hoppel in den Mund zu nehmen. Noch Tage und Wochen danach war ich am trauern über das Ende von unserem Stallhasen, der mal eine bessere Zeit als Osterhase erlebt hatte.
Doch eine Lehre hat mir diese Geschichte vom Osterhasen gebracht. Ich nahm mir fest vor, in der Schule, wenn ich sie einst besuche,immer so aufzupassen, daß ich nichts vergesse, was für das Leben wichtig ist. Mir sollte es nie so ergehen wie Hoppel, der als Stallhase ein kümmerliches Leben fristen mußte, das ihm später auch noch genommen wurde, nur weil er sich eine Formel nicht richtig eingeprägt hatte.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.01.2018. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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