Jens Jung

Bruchstück

Bruchstück



 

Es ist der 25. November. Draußen vor der Kneipe fallen dicke Schneeflocken in die kalte Nacht. Ich frage den Besoffenen der rechts neben mir mit einem quietschenden Geräusch sein Gesicht vom Tresen auf den Fußboden befördert nach einer Wegbeschreibung zur Eichenstraße. Das reiht sich wohl in die endlose Folge der kolossalen Fehlentscheidungen meines Lebens ein. Es hätte mich stutzig machen sollen, dass dieser Sch... Sch...Schteffffffan. behauptete er kenne die Stadt wie seine Stammkneipe um im selben Atemzug die Tür der Frauentoilette mit dem Ausgang zu verwechseln. Aber wenn die eigene Birne auch schon in Williams Christ eingelegt ist hält sich das mit dem rationale Schlüsse ziehen sowieso in Grenzen.

Eigentlich wollte ich vor etwa zwei Promille bei meinem alten Schulfreund Paul ganz spontan reinschneien, um mich zu erkundigen welche Fortsetzungen die kitschig perfekte Familiensoap, die er sein Leben nennt, in den letzten zwei Jahren so gefeiert hat.

Bestimmt geht es ihm wohltätig-bescheiden-reich-beliebt-rosahellblau-supergut… Spasti. Paul und ich waren gute Freunde in der Oberstufe damals. Leider haben unsere Noten nie so gut zueinander gepasst wie unser Humor und unsere Ideen. Die Kluft zwischen Eins und Vierminus hat am Ende doch unsere Wege getrennt. Er entschied sich bewusst für Medizin. Ich mich zuerst überhaupt nicht und dann für irgendwas mit Medien.

Sein Leben verlief ungefähr so glatt wie `ne Babypobacke, während ich meinen bisherigen Werdegang in etwa zwischen die Kategorien Schotterweg und freier Fall einordnen würde.

Doch wie bei der Mehrzahl der guten Schulfreundschaften, bei denen man sich verspricht immer in Kontakt zu bleiben, gingen wir nach einer Zeit als zwei einander peinlich fremd gewordene Menschen aufeinander zu, die sich zur beidseitigen Enttäuschung nicht mehr viel zu sagen hatten. Trotzdem wollte ich ihn besuchen, weil ich für die sehr wenigen Aufgaben in meinem Leben umso weniger Motivation verspüre je mehr ich mit ihnen konfrontiert bin, was automatisch zu gähnend langer Freizeit führt, die ich gerne mit Dingen fülle, die ich später bereue, weil sie unnötig sind und meinen “Fortschritt” im Leben wie immer behindern. Dafür bestätigen sie aber umso mehr mein generell schlechtes Bild von mir selbst immer wieder aufs Neue.

Jedenfalls führt mich diese stolpernd unverständliche Wegbeschreibung von einem Menschen, der behauptet, sich besoffen nicht einzukacken wäre die übermenschliche Fähigkeit, mit der Gott ihn betraute um sie für das Gute einzusetzen, direkt in die Fänge eines wahrhaftigen Labyrinthes aus unkreativ farbigen, gleichförmigen Einfamilienhäusern.

Der spontane Entschluss erstmal hier eine Pause zu machen, bildet sich erst ganz vage zwischen dem Zusammenstoß meiner Fußspitze mit dem Bordstein und der unverhofften Zusammenkunft meines Gesichtes mit dem gepflegten Vorgarten einer unkreativ farbigen, gleichförmigen Kleinfamilie.

Da liege ich also jetzt. In einem kitschig aufgetakelten, unkreativ farbigen, gleichförmigen Vorgarten, mit Gartenzwergen, die sich gegenseitig Schubkarren zu schieben oder mit einem zufriedenen Lächeln auf Liegestühlen fläzen, ja sich geradezu hinlümmeln als wäre es Hochsommer. Ohne Respekt für die gefühlten -273° Celsius dieser unbarmherzig winterlichen Herbstnacht.

Der Aufprall war wohl für mein zentrales Nervensystem genau so unverhofft und überraschend wie für mich. Etwa drei Sekunden nach meiner innigen Bekanntschaft mit der akribisch gestutzten Rasenfläche vollführen meine Gliedmaßen die rettende Reflexreaktion, die meinen Sturz hätte abfedern können. Nun ist sie nur noch zu einem zuckenden, halben Purzelbaum gut, der mich auf den Rücken und neben einen Plastikflamingo befördert.

Was mich allerdings in diesem Moment beschäftigt, während ich in Embrionalstellung um einen rosa Plastikflamigo gewickelt, über meine gegenwärtige Situation nachdenke und den X-Man der Schließmuskelkontrolle Sch...Sch...Schteffffffan verfluche, auf das er sich irgendwo im Halbkoma unkontrolliert einkackt, ist die Frage was ich hier zum Teufel  eigentlich mache. Nicht nur in meiner gegenwärtigen Situation, sondern in meinem lächerlich zweitrangigen Leben.

Den Flamingo als letzte Stütze meiner Existenz umklammernd, nutze ich die ruhige Minute um mir zum ersten mal seit Jahren die Sterne anzusehen. Es könnte schlimmer sein. Ich könnte nackt sein, oder blind, oder nackt und blind. Den will ich sehen, der da noch die bekackte Eichenstraße finden würde! Betrunken, nackt und blind meine ich.

Ein zweitrangiges Leben tut weh. Irgendwie glaube ich, dass Zweitrangigkeit gar nicht natürlich existiert. Ich glaube alle anderen erzeugen sie immer künstlich, gewollt oder ungewollt. Hässlicher, behinderter, untrainierter und das schlimmste von allen dümmer zu sein beginnt bei den Menschen, die einen dafür halten und hört meist auch schon direkt hinter ihnen wieder auf.

Was ich aber zu spät verstanden habe:

Wer Angst vor dem Leben hat und nie wirklich etwas anpackt, der läuft Gefahr sich im Vorgarten seines alten Schulfreundes den Arsch ab zufrieren.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.01.2018. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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