Manfred Sander

Eine unvergeßliche Silvesternacht

Hallo, hier bin ich wieder, Euer Jonathan. Wie Ihr bestimmt wißt, habe ich Euch schon über die außergewöhnliche Silvesternacht erzählt, in der meine Schwester Silvestra zur Welt kam, und dadurch dem Karpfen Balthasar das Leben gerettet hatte. Auch von Hoppel, unserem Osterhasen, der das damalige Osterfest nicht überlebte, habe ich Euch erzählt. Soweit Ihr hierüber noch nichts gelesen habt, könnt Ihr es nachholen, denn ich habe die Geschichten bei e-stories gespeichert.

Da wir schon wieder mit Riesenschritten auf einen neuen Jahreswechsel zugehen, möchte ich Euch jetzt von einer Silvesternacht erzählen, die ich nie in meinem Leben vergessen werde. Ich war damals 13 Jahre alt und freute mich wie jedes Kind auf die nächtliche Feier im Familienkreis. Um so enttäuschter war ich, als meine Mutter mir einen Tag vor Silvester mit leiser Stimme, als wollte sie sich entschuldigen, sagte: „Du, Jonathan, sei uns nicht böse, aber wir müssen Dich morgen am Silvesterabend allein lassen, da wir von einem Geschäftsfreund Deines Vaters eingeladen wurden. Damit Du aber den Abend nicht alleine verbringen mußt, darfst Du Dir einen Freund einladen. Er kann im Bett Deiner Schwester schlafen, das zur Zeit ungenutzt ist, da Silvestra Ihre Ferien bei Tante Gustel verbringt.“ Nachdem sich die erste Enttäuschung gelegt hatte und ich die Sache so richtig betrachtete, konnte ich dieser Situation sogar eine gewisse Freude abgewinnen. Die Feierei mit den Eltern war immer ziemlich gleichförmig und langweilig. Zum Abendessen gab es immer einen Silvesterkarpfen, anschließend wurde Monopoly gespielt und um 24.00 Uhr ließ Vater einige Raketen in den Nachthimmel steigen. Mit einem Freund könnte ich den Abend viel vergnügsamer in eigener Regie gestalten. Doch wen sollte ich zum Silvesterabend einladen? Spontan fiel mir Enrico ein. Enrico war ein Schulkamerad, der vor zwei Jahren in meine Klasse gekommen war und mit mir die Schulbank teilte. Enrico hatte pechschwarze Haare und seinen dunklen Teint hatte er von seiner spanischen Mutter geerbt. Er war durchschnittlich groß, doch von hagerer Gestalt. Seine perlweißen ebenmäßigen Zähne glänzten und blitzten, wenn er mal lachte, was jedoch nur selten vorkam. Eigentlich war er bei seinen Mitschülern nicht allzusehr beliebt, da er sich an den Streichen der anderen nicht beteiligte und daher eine Außenseiterrolle einnahm. Was jedoch seine schulischen Leistungen betraf, war er allen haushoch überlegen und sein späteres Abiturzeugnis war das beste, was je die Schule verlassen hatte. Doch damals war Enrico oft das Opfer von Hänseleien. Ich weiß noch, wie er von unserem Klassenlehrer vorgestellt wurde. Es war schon ein lustiges Bild, wie er vor uns stand. Die viel zu große Hose hing wie ein Sack an seiner hageren Gestalt herunter. Die Sohlen seiner überdimensionierten Schuhe klappten an der Spitze wie ein Schnabel auf, und die Schuhriemen bestanden aus einfachem Hanfseil. Der Spott der Schüler ging jedoch schnell in Mitleid über, als uns allen bewußt wurde, daß sich im Hinblick auf die wirtschaftliche Situation seines Elternhauses Enrico keine andere Möglichkeit bot, als die abgelegte Kleidung seines älteren Cousins aufzutragen. Mit dieser Erkenntnis hatte auch die Lästerei über die Kleidung von Enrico ihr Ende gefunden. Jetzt war es mir ganz klar. Enrico ist mein Wunschgast für den morgigen Silvesterabend. Ich wußte auch etliches mehr über ihn, seine Familie und sein Schicksal als die anderen Klassenkameraden. Als wir voriges Jahr auf der Nordseeinsel Borkum im Schullandheim Waterdelle eine einwöchige Rüstzeit im Klassenverband verbrachten, belegten Enrico und ich gemeinsam ein Zimmer. Eines abends, wir lagen schon in unseren Betten und konnten keinen Schlaf finden, fing Enrico unvermittelt an zu erzählen. Er erzählte von seinem Vater, der viele Jahre auf einem Handelsschiff als Koch gearbeitet hatte. Nur selten hatte er ihn damals gesehen. Als er sechs Jahre alt war, kam aus dem fernen Chile die Nachricht, daß sein Vater von einem Insekt gestochen sei, und sich im Krankenhaus befinde. Von hier wurde er noch im selben Jahr nach Deutschland verbracht. Viele Wochen kämpfte er hier gegen das schwere Fieber an, das ihn an die Schwelle des Todes brachte. Den Ärzten gelang es, sein Leben zu retten, doch die Krankheit hatte ihm seinen Verstand genommen und er lebte fortan in der Wahnvorstellung Christoph Columbus zu sein. Im Hinblick auf die sich verschlechternden finanziellen Verhältnisse mußten Enrico und seine Eltern ihre Mietwohnung verlassen. Eine entfernte Verwandte stellte ihnen aus Mitleid ihren am Ortsrand liegenden Garten mit einem kleinen Gartenhaus kostenlos zur Verfügung. Dies sollte für die nächsten Jahre das Zuhause für Enrico und seine Eltern sein. Enricos Vater hatte auf dem Grundstück aus Holzplanken seine „Santa Maria“ errichtet, ein Gebilde, das mit einer gehörigen Portion Phantasie mit einem Segelschiff vergleichbar war. Ein abgesägter Baumstamm diente als Masten und zurechtgeschnittene Abdeckplanen waren als Takelage angebracht. Hier stand Enricos Vater fast jeden Tag vor dem Steuerrad, einem Rad, das früher einmal Bestandteil einer Pferdekutsche war. Enricos Vater war hier „auf hoher See“ glücklich und holte sich somit einen Teil seiner Vergangenheit zurück. Enricos Mutter hatte durch diese Schicksalsschläge die Balance in ihrem Leben verloren. Immer mehr wurde der Alkohol ihr Seelentröster und es gab selten einen Tag, an dem Enrico seine Mutter nüchtern sehen konnte.

Während mir dies alles durch den Kopf ging, hörte ich wie im Traum die Stimme meiner Mutter. „Du, Jonathan,“ sagte sie, „Du mußt Dich aber bald um die Einladung Deines Silvestergastes kümmern. Morgen ist es bereits soweit und die Eltern Deines Gastes müssen rechtzeitig vorher ihre Zustimmung geben.“ „Ja, Mama,“, beeilte ich mich mit der Antwort, „ich weiß schon, wen ich einlade. Es ist Enrico, der in der Schule neben mir sitzt, und der sich über eine Silvesterfeier mit mir bestimmt freuen würde. Ich werde jetzt gleich zu ihm gehen. Er wohnt mit seinen Eltern oben am Waldesrand in einem Gartengrundstück. Es ist von hier nicht weiter als zehn Minuten zu laufen.“ Kaum gesagt, war ich schon draußen und machte mich auf den Weg. Nach kurzer Zeit stand ich schon vor der Gartentür. Ich öffnete sie und ging auf einem schmalen geschotterten Weg auf das kleine Haus zu. Plötzlich hörte ich eine laute und rauhe Stimme. „Hallo, Du Leichtmatrose, was machst Du denn hier bei uns auf hoher See, komm her zu mir und laß Dich anheuern, ich kann eine tatkräftige Hilfe gut gebrauchen.“ Unbewußt ging ich auf Enricos Vater, der, wie ich wußte, sich als Christoph Columbus betrachtete, ein und rief zurück: „mir ist heute die See zu stürmisch, und ich habe auch keine Zeit für eine Fahrt   über den Atlantik. Doch wäre ich Herrn Kapitän dankbar, wenn er mir sagen könnte, wo ich den Leichtmatrosen Enrico finden kann.“ „Enrico liegt in der Kombüse,“ schallte es von der „Santa Maria“ zurück und der ausgestreckte Zeigefinger des vermeintlichen Columbus deutete unmißverständlich auf das Gartenhaus. Mit einem komischen Gefühl im Magen öffnete ich vorsichtig die Tür und ließ sie hinter mir wieder ins Schloß fallen. Ich stand in einem rechteckigen etwa 4x6 Meter großem Raum. In der Mitte stand ein alter Holztisch, auf dem sich noch die Teller mit angetrockneten Speiseresten befanden. An der Stirnseite des Zimmers befand sich ein alter Bollerofen, der scheinbar sowohl zum Heizen als auch zum Kochen verwendet wurde. Wenngleich mich schon das Interieur des Raumes schockierte, wurde dieses noch von dem Anblick übertroffen, der sich mir bot, als ich einen Blick in die Richtung wagte, aus der mir lallend eine kreischende Stimme entgegenschallte. „Was hast Du hier zu suchen, Du unverschämter Bursche. Wie kannst Du einfach ohne Anmeldung in ein fremdes Haus eindringen?“ Auf einer Matratze lag eine nur mit Unterwäsche bekleidete stark übergewichtige Frau. In ihrer rechten Hand hielt sie eine angetrunkene Flasche Rotwein. Sie mußte schon stark gezecht haben, denn neben ihr auf dem Boden lagen zwei weitere leere Rotweinflaschen. „Ich bitte vielmals um Entschuldigung,“ stammelte ich, „ich heiße Jonathan und bin ein Schulfreund von Enrico. Ich wollte nicht stören, sondern nur fragen, ob Enrico den morgigen Silvesterabend bei mir zuhaus verbringen kann. Meine Eltern haben es erlaubt, daß er auch bei uns übernachten darf.“ „Von mir aus,“ keifte die Frau, die offensichtlich Enricos Mutter war, „dann haben wir für einen Tag einen Esser weniger, aber da mußt Du ihn schon selbst fragen.“ Sie deutete mit einer Hand in eine Richtung, wo ein großes weißes Laken das Zimmer abteilte. Ich ging zwei Schritte in diese Richtung und schlug das locker hängende Laken zur Seite. Da sah ich Enrico. Er saß auf einer Holzkiste vor einem scheinbar selbstgezimmerten Tisch und schlug gerade das Buch zu, aus dem er gelesen hatte. Die Sonne drang durch das kleine Fenster vor dem Tisch, und ich konnte den Titel des Buches lesen. „Das Kapital“ von Karl Marx, entzifferte ich, doch konnte ich damals noch nichts damit anfangen. „Hallo Jonathan,“ begrüßte mich Enrico, „ich habe alles gehört, was Du meiner Mutter gesagt hast. Gerne bin ich bereit Deiner Einladung zu folgen. Ich freue mich schon jetzt darauf und werde morgen am frühen Abend bei Euch sein.“ Nachdem wir noch ein paar belanglose Worte gewechselt hatten, verabschiedete ich mich, hob das Laken und war wieder im Hauptraum. Enricos Mutter war zwischenzeitlich eingeschlafen und ich konnte grußlos das Haus verlassen. Auch Columbus schien seine Siesta zu halten, denn er war nicht zu erblicken. Neben dem Gartenhaus fiel mir noch ein kleines Holzkabüffchen auf, in dem oben ein herzförmiges Loch angebracht war. Dies muß wohl die Toilette sein, dachte ich, und erschauerte bei dem Gedanken, in eiskalter Nacht dieses Örtchen besuchen zu müssen. Auf dem Weg nach Hause ließ ich noch einmal die niederschmetternden Eindrücke über Enricos Elternhaus Revue passieren und nahm mir vor, ihm eine unvergeßliche Silvesternacht zu bereiten.

Am nächsten Tag klingelte es gegen sieben Uhr abends an der Tür. Meine Eltern hatten sich bereits in Garderobe geschmissen und waren auf dem Sprung zu gehen. Meine Mutter öffnete die Tür und sagte:“Hallo, junger Mann, Du bist bestimmt unser lieber Übernachtungsgast, der zusammen mit Jonathan den Silvesterabend verbringen will.“ „Ja, ich bin Enrico, und ich möchte mich ganz herzlich für die Einladung bedanken,“ hörte ich die mit etwas verlegener Stimme vorgetragene Antwort. „Dann komm mal rein, Enrico, und fühl Dich bei uns wie Zuhause.. Jonathan ist im Wohnzimmer und wartet bereits auf Dich.“ Sie führte Enrico ins Wohnzimmer, winkte uns noch einmal zu und verschwand mit den Worten wie etwa seid schön brav und ich wünsche Euch eine schöne Silvesterfeier. Vater wartete schon auf dem Flur und dann hörten wir die Tür ins Schloß fallen. Wir waren jetzt allein und ich führte Enrico zunächst durch unsere Wohnung. Ich zeigte ihm die Küche, unser Badezimmer, das elterliche Schlafzimmer und mein Zimmer, das ich gemeinsam mit Silvestra teilte. Anschließend setzten wir uns im Wohnzimmer an den Tisch, den Mutter mit vielen kleinen Köstlichkeiten gedeckt hatte, die Enrico wahrscheinlich nur vom Hörensagen kannte. Zu unserem Festschmaus tranken wir frischgepressten Orangensaft, und als wir schon richtig satt waren, drückten wir noch eine große Schüssel Schokoladenpudding mit Vanillesoße in uns rein. Jetzt brauchten wir Bewegung. Wir spielten auf unserem großen Flur Fußball, wobei die sich gegenüberliegenden Türen des Badezimmers und des Kinderzimmers die Tore waren. Wir spielten mit einer solchen Begeisterung, daß wir nach einiger Zeit wieder Appetit bekamen. „Du, Enrico, wie wäre es mit einem schönen Zwetschenkuchen? Meine Mutter hat ein großes Blech mit Zwetschenkuchen gebacken, und hierin ist sie Weltmeisterin. Komm laß uns in die Küche gehen und den Kuchen aufschneiden.“ Gesagt, getan. Wir schnitten fast den gesamten Kuchen auf und vertilgten ihn. Enrico konnte zunächst gar nicht glauben, daß wir soviel essen durften, wie wir wollten. Doch nachdem ich ihm diese Sorge genommen hatte, aß er wenigstens 5 große Kuchenstücke und ging bis an seine Leistungsgrenze. Beim Spielen und Essen verging so schnell die Zeit, daß wir fast den Countdown der letzten Minuten des Jahres verpasst hätten. Wir setzten uns gemeinsam auf die Fensterbank und wünschten uns zu Beginn des neuen Jahres alles Gute. Dann schauten wir uns das Feuerwerk und die vielen Raketen an, die den dunklen Nachthimmel hell erleuchteten. Es war bereits ein Uhr nachts, als wir uns zu Bett begaben. Enrico legte sich in Silvestras Bett, streckte und reckte sich und fühlte sich sichtbar wohl in dieser neuen Umgebung. Wir waren gerade am Eindämmern, als unsere Tür geöffnet wurde. Meine Eltern waren von ihrer Feier zurückgekommen, und meine Mutter schaute nochmal im Kinderzimmer vorbei, wie sie es immer tat. Sie kam zu meinem Bett, streichelte mir über die Haare und gab mir einen Kuß auf die Wange. Dann ging sie zu Enrico. Auch ihm streichelte sie zärtlich über das Haar, beugte sich über ihn und gab auch ihm einen Kuß auf die Wange. Nachdem sie ihr allabendliches Ritual beendet hatte, verließ sie unser Zimmer und schloß die Tür. Ein kleines Schlaflicht gab unserem Zimmer ein wenig Helligkeit. Als ich ein leises Schluchzen hörte, schaute ich zu Enrico hinüber. Ich sah, daß Enrico seinen Kopf unter die Decke gesteckt hatte. Es sollte keiner mitkriegen, daß er weinte. Doch konnte er es nicht verbergen. Sein hagerer Körper wurde von Krämpfen so durchschüttelt, daß das gesamte Bett vibrierte. Noch lange hörte ich sein unterdrücktes Schluchzen und auch mir kamen die Tränen, weil ich fühlte, wie es in Enrico aussehen mußte. Solange er sich erinnern kann, hat er bestimmt nie die Liebe einer Mutter erfahren. Das Streicheln und der Kuß meiner Mutter haben ihn die Entbehrungen bewußt gemacht, die er in seinem Leben zu ertragen hatte. Wie sehr hat er sich wohl ein geordnetes Familienleben und die Liebe einer Mutter gewünscht und hier in der Silvesternacht ist ihm das klar vor Augen geführt worden. Dankbar dafür, daß das Leben mir dieses Schicksal erspart hat, schlief ich erst Stunden später ein. Wach wurde ich erst durch die Stimme meiner Mutter, als sie gegen mittag ins Zimmer kam. „Hallo, ihr Murmeltiere, habt ihr den gar keine Lust Eure Betten zu verlassen?“ Und wieder kam sie wie üblich auf mich zu, streichelte und küßte mich. Und auch diesmal ging sie zu Enrico, streichelte ihn über das Haar und küßte ihn auf die Wange. Hiervor hatte sich Enrico scheinbar schon gefürchtet, denn er wußte wohl, daß er nicht mehr Herr über seine Gefühle sein würde. Und wirklich brach es wie eine Urgewalt aus Enrico heraus. Sein Körper wurde von Krämpfen geschüttelt, als er hemmungslos zu weinen anfing. Meine Mutter war erst unschlüssig, wie sie reagieren sollte, doch dann setzte sie sich auf die Bettkante, wischte ihm die Tränen aus den Augen, zog ihn an sich wie ein eigenes Kind und verharrte so eine Weile, ohne ein einziges Wort zu sagen. Dann stand sie auf und sagte mit gewollt heiterer Stimme: „So, ihr zwei Rangen, jetzt ist es mit dem Schlafen vorbei, das Frühstück steht bereit und wartet schon auf Euch.“ Gehorsam standen wir auf, machten uns fertig und setzten uns an den Frühstückstisch. Enrico war sehr still und man merkte, daß sein Gefühlsausbruch ihm sehr peinlich war. Nach dem Frühstück bedankte sich Enrico bei meinen Eltern, und ich begleitete ihn auf seinem Weg nach Hause. Als wir die Gartenpforte aufmachten, stand sein Vater wieder auf seinem Posten. „Hallo ihr zwei Landratten,“ rief er mit lauter Stimme, „wollt ihr mit mir kommen, um Amerika zu entdecken?“ Durch den Krach angelockt, erschien auch Enricos Mutter in der Haustür. Sie konnte sich kaum auf den Beinen halten und kreischte: „Enrico, Du Nichtsnutz, es wird höchste Zeit, daß Du wieder erscheinst, oder soll ich die ganze Arbeit alleine machen?“ Enrico verabschiedete sich von mir und verschwand im Haus. Auf meinem Heimweg machte ich mir noch viele Gedanken über die Zufälligkeit der Geburt, die über Dein zukünftiges Leben entscheidet.

Enrico und ich blieben bis zum Abitur freundschaftlich verbunden. Wenn ich vom Lehrstoff etwas nicht verstanden hatte, fragte ich Enrico. Er brachte mich immer wieder auf Vordermann, so daß auch ich dank seiner Mithilfe keine Schwierigkeiten hatte, das Abitur zu bestehen. Nach dem Abitur verloren wir uns aus den Augen und ich hörte nichts mehr von ihm. Bis 20 Jahre nach der gemeinsamen Silvesterfeier. Ich war inzwischen verheiratet, wohnte aber noch in der Wohnung meiner inzwischen verstorbenen Eltern. Ich kam gerade von der Arbeit, als ein Bäckerwagen vor unserer Haustür hielt. Ein Mann stieg aus und fragte mich, ob hier im Haus ein gewisser Jonathan wohne . „Das bin ich,“ war meine Antwort, „gibt es was Besonderes?“ „Ja,“ sagte der Mann, „das Besondere ist ein riesiges Blech mit Zwetschenkuchen, das ich bei einem Jonathan hier im Hause abgeben soll.“ Er holte aus dem Auto ein überdimensionales Blech mit Zwetschenkuchen. Auf dem Kuchen lag ein kleiner weißer Umschlag. Mit viel Mühe bugsierte ich den Kuchen in unsere Wohnung, nahm die Karte aus dem Umschlag und las:

Auf diesem Wege möchte ich mich nochmals ganz herzlich für die Silvestereinladung vor 20 Jahren bedanken. Es war die schönste Silvesterfeier, die ich je erleben durfte und sie wird für mich unvergeßlich bleiben Ich hoffe der Zwetschenkuchen schmeckt Dir genau so gut, wie jener, den ich vor 20 Jahren gegessen habe.       

In freundschaftlicher Verbundenheit 

Dein Enrico

Den Zwetschenkuchen habe ich damals in ein benachbartes Heim für Waisenkinder gebracht. Und dies mußte ich dann jedes Jahr tun, denn seit damals wird jede Silvester ein riesiger Zwetschenkuchen geliefert. Heute ist wieder Silvester und ich warte auf den Bäckerwagen, genau so wie die Waisenkinder auf mich mit dem Zwetschenkuchen warten. Wenn ich die Waisenkinder sehe, wie sie den Zwetschenkuchen mit leuchtenden Augen essen, habe ich immer das Bild von Enrico vor mir, als er sich an dem unvergeßlichen Silvesterabend an dem Zwetschenkuchen erfreute.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.01.2018. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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