Helmut Wurm

Sokrates und der Hilferuf eines unmusikalischen Schülers

            Ein Gespräch zum Nachdenken in schulischen und musikalischen Fachkreisen

Teilnehmer an diesem Gespräch: Sokrates, ein verzweifelter Schüler, ein bekannter Musiker (der gleichzeitig Musikunterricht erteilt) und ein Schulleiter

Sokrates sitzt in einem Park in der Nähe eines Gymnasiums, spielt auf der Lyra und singt leise ein altgriechisches Heldenlied dazu. Sokrates greift gern zu diesem einfachen alten Instrument, wenn er sich etwas entspannen möchte. Einige Personen bleiben stehen und hören dem wenig bekannten Instrument zu. Ein älterer Schüler fragt ihn:

Der Schüler: Das Instrument hat einen schönen Klang und vor allem kann man jedem einzelnen Ton nachhorchen. Die heutige Musik ist eine Überfülle, ein Wirrwarr von Tönen, aus verschiedenen Instrumenten gleichzeitig erzeugt. Da komme ich nicht mit. Ich bin nämlich unmusikalisch.

Sokrates: Woher weißt Du, dass Du unmusikalisch bist und was verstehst Du überhaupt unter musikalisch und unmusikalisch?

Der Schüler: Ich kann kein Instrument spielen - oder genauer gesagt nicht schnell genug spielen. Deshalb bin ich unmusikalisch. Ich mache alles langsam, ich kann nichts schnell machen. Unser Musiklehrer sagt, dass man Instrumente schnell spielen können muss, je schneller, desto besser. Das wäre das Zeichen von Musikalität. Wer ein Instrument nur langsam spielen kann, wäre eben unmusikalisch, der bekommt eine schlechte Musiknote. Damit solle man sich abfinden. Ich hasse mittlerweile das Fach Musik.

Sokrates: Das ist schade. Hörst Du denn gerne Musik, interessiert Dich überhaupt die Musik als solche?

Sokrates: Ja, ich interessiere mich für Musik, aber nur, wenn sie akustisch "überschaubar" ist, wenn also möglichst nur 1 Instrument oder nur einige wenige erklingen und nicht zu schnell. ich bin eben langsam, in allem, auch im Hinhören und im Verarbeiten von Tönen.

Ein bekannter Musiker (er hat bisher zugehört): Damit ist bewiesen, dass dieser junge Mann hier unmusikalisch ist. Musikalität äußert sich darin, wie sicher und schnell man ein Instrument spielen kann. Und sie zeigt sich darin, dass man um so begeisterter ist, je mehr Instrumente gleichzeitig erklingen, je größer also ein Orchester ist… Ah, welches Erlebnis, welche Empfindung, wenn ein ganzes Orchester auf einmal loslegt…

Sobald ich feststelle, dass ein Musikschüler nicht schnell spielen kann, z.B. auf dem Klavier die Tasten nicht schnell genug herauf und herunter laufen kann, wenn einem Schüler ein Orchester nicht imponiert, dann sage ich ganz offen, er solle aufhören und sich mit seiner Unmusikalität abfinden. Er soll versuchen, auf anderen Gebieten sein Selbstbewusstsein zu stärken…

Sokrates: Du bist ein bekannter Musiker und deshalb kann ich mich mit Dir sicher auch auf einem höheren Niveau über Musik unterhalten. Ich möchte Dir einige Fragen stellen: Stimmst Du mir zu, wenn ich sage, dass Musik eine spezielle Form von Sprache ist, keine Sprache mit Sprechlauten, sondern mit Tönen…

Der Musiker: Das ist richtig, dem kann ich zustimmen. Musik ist eine Ton-Sprache neben der Lautsprache, die mehr das Empfinden, das Gefühl anspricht. Sie ist diffuser, weniger konkret wie die Lautsprache, kann aber Bereiche in uns ansprechen, die die Lautsprache nicht erreicht.

Sokrates: Das ist richtig, dem kann ich wiederum zustimmen. Nun hat die Lautsprache eine gesprochene und eine geschriebene Ausdrucksweise. Welche ist die wichtigere beim Erlernen z.B. einer fremden Sprache?

Der Musiker: Natürlich zuerst die gesprochene Sprache. Zuerst muss man diese lernen, dann kann man sich der geschriebenen Sprache zuwenden.

Sokrates: Kannst Du mir zustimmen, dass jemand eine Sprache gut sprechen kann, ohne sie richtig schreiben und lesen oder sie überhaupt schreiben und lesen zu können?

Der Musiker: Natürlich stimme ich zu. In früheren Jahrhunderten konnten die wenigsten Menschen lesen und schreiben, die meisten haben aber flüssig gesprochen, viele auch gut benachbarte Dialekte und sogar Fremdsprachen. Es gab damals begabte Rhetoriker, die gleichzeitig Analphabeten waren, die also sprachlich begabt waren.

Sokrates: Bezüglich der Musik behauptest Du aber das Gegenteil. Ein Musikinstrument in der Musik entspricht dem Schreibwerkzeug der Lautsprache, ein Orchester einem Buch. Du behauptest, wer kein Instrument flüssig spielen könne, sei unmusikalisch. Das würde auf die Lautsprache bezogen bedeuten, dass wer nicht schreiben kann, der ist nicht sprachlich begabt.

Der Musiker (verlegen): Oh, das habe ich bisher so nicht gesehen, das habe ich so nicht bedacht. Das würde ja bedeuten, dass jemand, der kein Instrument flüssig spielen kann, trotzdem musikalisch sein kann… Aber unser Musikunterricht in den Schulen geht doch davon aus, dass man den Schülern möglichst das Spielen von Instrumenten beizubringen versucht. Das Musikverständnis, die Musiktheorie kämen dann so nebenbei hinzu.

Der Schulleiter: Dass Musikunterricht primär Musik-Spielen-Unterricht wäre, stimmt so nicht - jedenfalls nicht in unserem Gymnasium. Wir vermitteln im Musikunterricht sehr intensiv Musiktheorie, Musikgeschichte, Musik-Verständnis. Das Spielen von Instrumenten haben wir in die Musik-Arbeitsgemeinschaften verlagert. Bei uns kann also der unglückliche junge Mann hier durchaus eine gute Musiknote bekommen, auch wenn er kein Instrument spielen kann.

Sokrates: Ich möchte noch einen Schritt weiter für einen guten Musikunterricht gehen und die Grundformen der Musiksprache ins Gespräch bringen. Wir Menschen haben immer noch eine Steinzeitgenetik. Damals haben sich die Sprechlaute und die Musiktöne parallel aus einfachsten Formen entwickelt. Diese Grundformen untersucht z.B. die Anthropologie und die Musik-Psychologie. Man forscht heute nach Grunderfahrungen im Tonbereich, danach welche geistigen und psychischen Reaktionen auf bestimmte Töne, Tonarten und Tonfolgen festgestellt werden können, mit welcher Musik man Menschen beeinflussen kann, wie man sie mit Musik sogar mental und handlungsbezogen steuern kann. Ich denke z.B. an die Militärmusik, an die politische NS-Musik, an die Musik in Kaufhäusern… Das ist eine spannende Wissenschaftsrichtung… Kann man solche Themen auch in den Musikunterricht der gymnasialen Oberstufe einbringen? Kann man in den Musikunterricht der unteren Klassen einfachste Ton-Grunderfahrungen einbringen?

Der Schulleiter: Das tun wir in Ansätzen schon, werden es aber noch weiter ausbauen. Du hast mich auf Ideen gebracht, Sokrates! Was wissenschaftswürdig ist, ist auch auf einem einfacheren Niveau schulwürdig. Wir werden einen Musikunterricht einrichten, in den unser unglücklicher Schüler sehr gerne gehen wird.

(Notiert vom discipulus Sokratis, der bei dem Gespräch im Hintergrund dabei stand)

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.01.2018. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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