Julia Ribold

Marys Augen

Er nannte sie Mary. Warum so und nicht anders, wussten weder er, noch sie. Mary war eine Katze, mehr noch, sie war eine sehr anständige Katze. Sie trank Milch, die für sie jeden Morgen bereitstand. Tagsüber schlief sie am Fenster auf einem Kissen aus dunkelgrünem Samt. Wenn er abends nach Hause kehrte und nach ihr rief, gehorchte sie: kam und sprang auf seine Knie. Er streichelte sie. Mary schnurrte wonnig und krümmte ihren Rücken rund. Sie kniff die Augen fast vollständig zusammen, und nur von Zeit zu Zeit schaute sie ihn schmachtend durch ihre Augenschlitze an. Kurzum, sie tat alles, was man von einer guten Katze erwarten würde.

Er liebte sie und glaubte, Mary gehöre ihm. Dafür, dachte er, gäbe es genügend Gründe: Sie wohnte in seinem Haus, trank Milch, die er kaufte, außerdem schnurrte sie unter seinen Händen. „Meine Mary“, sagte er oft zu ihr. Sie schwieg. Sie sprach überhaupt nie mit ihm. Und jedes Mal, wenn die Nacht die müde alte Stadt unter ihre Decke verbarg, verließ Mary leise das muffige Haus durch das geöffnete Fenster. Denn sie war eine Katze und liebte die Nacht mehr als das grüne Kissen, die warme Milch und sogar mehr als die Zärtlichkeit seiner Hände. Sobald sie das Dach erreichte, verschwand bei ihr jede Spur von der Träge des Tages. Die Dunkelheit küsste mütterlich Marys Augen und sie erglühten wie zwei seltene Smaragde. Der Nachtwind umarmte sie flatternd und zauberte ihren Körper leicht, fast gewichtslos und geschmeidig. Der frische Geruch wiedergewonnener Freiheit kitzelte Marys Nase, sie nieste und fing an, sich wie ein junges Kätzchen zu benehmen: Sie sprang von Dach zu Dach, spielte mit den Blätter vom letzten Jahr, die sich in den Spalten zwischen den uralten Ziegeln versteckten und rannte unbekümmert den Leuchtkäfern hinterher.

Nach dem Spielen kletterte sie immer auf den höchsten Schornstein in der Stadt, machte es sich bequem und verbrachte dort den Rest der Nacht. Von hier aus konnte man sehr gut die schwarze Himmelsweite betrachten, und die strahlenden Sterne schienen von hier zum Greifen zu sein. Mary saß und sprach zu den Sternen. Sie glaubte, sie lebten dort in der samtigen Schwärze und wüssten noch nicht, dass sie hier ganz nah auf dem höchsten Schornstein sitzt und wartet. Aber eines Tages würde einer von ihnen Mary hören können. Er würde hinunterkommen, um sie in den Himmel mitzunehmen. Dort würden sie zusammen leuchten und wie die anderen Sterne um die Wette rennen. Wenn sie müde würden, könnten sie sich in den Wolken rekeln. Sie würden silberhelle Himmelsmilch aus dem Mondsee trinken und miteinander stundenlange Gespräche führen.

Sobald der letzte Stern verschwunden war, kehrte Mary nach Hause zurück. Sie sprang durchs Fenster ins Zimmer und ging zu ihrer Tasse warmer Milch. Danach schlief sie müde auf dem Samtkissen ein und träumte vom wunderschönen Leben als ein Stern.

Eines Morgens kam Mary nicht wie gewohnt zurück, und die Milch wurde kalt. Sie kam weder am nächsten, noch am übernächsten Tag... Er wärmte noch jeden Morgen die Milch auf. Auch das Kissen blieb weiter am Fenster liegen. Vergeblich rief er nach ihr. Mary verschwand für immer. Nur noch in manchen klaren Nächten konnte man am schwarzen Himmel zwei leuchtende Smaragde verlockend blinken sehen.

Juli, 2003

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.07.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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