Hans Fritz

Der rote Turm


[Eine an sich uralte Kurzgeschichte, einst in ähnlicher Form publiziert, aber vielleicht immer noch interessant.]

An einem wunderschönen Sonntagmorgen im Juli blättert Emil, der seine Sommerferien bei den Grosseltern, den Dinglers, verbringt, im Familienalbum und stösst auf ein Gruppenbild mit dem Roten Turm im Hintergrund. Jenem imposanten Bauwerk galt schon immer sein besonderes Interesse, zumal ein Lehrer während des Schulspaziergangs den Turm und das Gebiet ringsum als einen Hort unheimlicher Geschehnisse gebrandmarkt hatte.

Kurz entschlossen bittet der wissbegierige Schüler seinen Grossvater ihn zum Turm zu führen. "Opa, wann gehen wir zum roten Turm, du hast es mir doch schon letztes Jahr versprochen? Mutter hat ja nie Zeit -" "Zum roten Turm - ah, richtig, ja, ich glaube, das habe ich dir mal versprochen", sagt besagter Opa mit nachdenklicher Miene. "Wann gehen wir, bitte, bis zum Mittagessen könnten wir zurück sein", spricht Emil etwas kleinlaut, als die barocke Standuhr mit gedämpftem Westminsterschlag schon die zehnte Tagesstunde verkündet. "Meinetwegen heute. Es ist, wie ich meine, das richtige Wetter dazu. Gegen Mittag könnten ein paar schlappe Schauer aufkommen, die sollen uns aber nicht stören." "Au fein, wir gehen!" "Gut, beeil dich, Junge! Vergiss nicht deinen Regenschutz, für alle Fälle."
Bis hier eine belanglose Begebenheit, ein Stück Kinderstunde. Was aber hat es mit dem Turm auf sich? Wenden wir uns doch seiner Geschichte zu, bevor wir die beiden wackeren Wanderer auf den Weg schicken.
Eigentlich ist es gar keine Geschichte. Es sind Sagenfragmente, Episoden, gar Gerüchte, gleich wildem Wein um das blutrote Gemäuer rankend. Niemand weiss, wann der Turm erbaut wurde. In den sorgfältig geführten Annalen der Stadtgeschichte wird er mit keinem Sterbenswörtchen erwähnt. Doch heisst es, so um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts sei ein Stadtschreiber samt seinem streng gehüteten Turmdossier von drei düsteren Gestalten entführt und verschleppt worden. Der Sagentorso hätte keinen oder zumindest einen miesen Charakter, hätte man den Federhelden jemals wiedergesehen.
Strahlender Sonnenschein beflügelt die Gedanken der tapfer drauflos Stapfenden und Grossvater malt den Turm in Emils Phantasie mit dem rötesten Rot, das je die Palette des grössten Künstlers hätte geziert haben können.
"Stimmt's, Opa, dass man von der oberen Plattform bis nach Afrika hinüberschauen kann?" "Bis Afrika wohl nicht, aber vielleicht bis zu den Alpen." "Bis zum ewigen Schnee?" "Ja, mein Junge, so es das Wetter will, bis zum ewigen Schnee."
Der Wald gewinnt in seinen letzten, noch wenig angetasteten Baumbeständen noch einmal an Dichte und Düsternis. Da ragt er urplötzlich aus einer Hainbuchengruppe empor - der Rote Turm!
Das Tor trägt ein angerostetes Schild mit kaum noch lesbarer Inschrift: 'Wegen Baufälligkeit geschlossen. Der Oberbürgermeister. Mai 1954.' Ein schweres Vorhängeschloss verdeckt fast ganz den kunstvoll geschmiedeten Riegel. Das wars dann. Enttäuscht und schweigend treten die beiden Sonntagsabenteurer den Nachhauseweg an.
Am Nachmittag, die schlappen Schauer sind schon weiter gen Osten gezogen, überrascht Emils Geigenlehrerin die Dinglers mit einem ihrer gefürchteten Blitzbesuche. Als Stadtverordnete und so etwas wie eine humanistische Plattform, sollte sie etwas über den Turm wissen. Und sie weiss was. Für Restaurierungskosten konnte oder mochte die Stadt nicht aufkommen, auch konnte bis jetzt kein privater Geldgeber ausfindig gemacht werden. Nur eine Bürgerinitiative könne da vielleicht etwas bewegen.
Bald verstehen es die Dinglers das Volk zu mobilisieren. Es formiert sich eine mächtige Bittstellerorganisation. Es wird behördlicherseits stattgegeben, will man doch wiedergewählt werden. Dem wieder hergerichteten, besteigbaren Turm sollen ein Restaurant und ein Waldparkplatz beigesellt werden. So lautet schliesslich der Beschluss der Stadtoberen.
Die Geigerin hat inzwischen schon die IGREPP, das heisst die 'Initiative gegen Restaurant und Parkplatz', ins Leben gerufen.


 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.01.2018. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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