Stefan Bargholz

Wahre Wunden

Eine Frau liegt schmerzerfüllt auf einem weissen Bett. Der Boden des Raumes ist staubig und grau, genau wie das Licht, das auf sie fällt. In ihrer Brust stecken mehrere Pfeile - Manche so groß, dass sie die Brust durchschlagen haben und im Bett sind, andere nur so groß wie Zahnstocher- das Blut, das ihnen leise entfleucht, bekommt von dem Zwielicht einen grauen Schimmer. Ein Schatten legt sich auf sie. Die Frau blickt auf - durch die Sonne im Fenster hinter der Gestalt erkennt sie kaum mehr als einen Mantel und eine Kapuze. Trotzdem weiß sie sofort, um wen es sich handelt.

"Ich habe dich schon vor langer Zeit erwartet." Ihre Stimme klingt alt, sehr alt. Doch so jung im Vergleich zu der Stimme, die ihr antwortet. "Manchmal lasse ich mir Zeit. Und manchmal lauft ihr weg." Es beugt sich über sterbende Frau, doch ihr Blick verschwimmt, und sie erkennt immer noch nichts. Ein Hauch von Angst mischt sich in ihre Stimme. "Wird es sehr weh tun?" 

"Es tut immer weh", antwortet ihr die Stimme.

"Doch nicht so, wie du glaubst. Bevor wir gehen, gibt es etwas, das wir gemeinsam tun müssen." Die Gestalt betrachtet die Pfeile, die zu dutzenden aus dem Oberkörper der Frau herausragen. "Ich habe selten so viele Wunden gesehen. Manche kommen bereits wegen weniger zu mir."

Die Frau Frau schüttelt den Kopf, dass ihr lichtes, graues Haar hin und herweht. "Ich musste bleiben." Mehr sagt sie nicht.

Die Gestalt berührt den ersten Pfeil. Die Frau zuckt schmerzerfüllt zusammen - ihre Kindheit. Ein junges Mädchen in der Dunkelheit, von ihren Eltern geschlagen. Tränen und Wunden in ihrem Gesicht. Die Gestalt zieht den Pfeil heraus, und die Erinnerung verblasst. 
Es bleibt bestehen, doch der Schmerz, den der Pfeil verursacht hat, ist verloren. Gefühle durchfluten die Frau. Vergebung und Mut.
"Es tat weh, aber nun... nun geht es mir besser... was ist... passiert...?" Die Stimme der Frau ist nur eine Nuance schwächer geworden. Die Gestaltet antwortet mit sanfter Stimme:

"Das, was viele zu Lebzeiten vergessen. Oder sie haben Angst vor dem Schmerz. Aber wir müssen den Ballast fortwerfen, bevor wir weiter ziehen."

Die Gestalt berührt den zweiten Pfeil. Eine zweite Erinnerung. Eine junge Frau, am Boden, vor ihr der reglose Körper eines geliebten Tieres. Die Gestalt zieht auch diesen Pfeil hinaus, und auch der Schmerz dieser Erinnerung schwindet. Geht verloren in der Dunkelheit. Es bleiben Dankbarkeit, Abschied, Freiheit.

Die Frau bäumt sich ein letztes Mal auf. "Ist... dieser Schmerz... nicht ein Teil von mir? Warum nimmst du mir... woran ich mein ganzes Leben lang... hielt...?"

Die Gestalt hält inne, bevor sie den nächsten Pfeil berührt. 

"Ich weiß. Es tut weh, es los zu lassen. Es tut gut, fest zu halten. Aber dort wo wir hingehen, benötigst du diesen Schmerz nicht. Und deshalb helf ich dir, Stück für Stück. Pfeil für Pfeil. Wunde für Wunde. Bis wir am Ende sind. Mein Pfeil wird der letzte sein."
 

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