Silke Schück

verliebt


Es war ein Tag wie jeder andere auch. Jedenfalls wollte er Lee das glauben machen. Am Morgen brachte sie wie immer nur ihr Hund Billy dazu, aufzustehen und sich dem gemeinsamen Frühstück mit ihren Eltern und dem kleinem Bruder zu stellen. Sie stritt sich wie immer mit ihrer Mutter über ihre Kleidung, die ihrer Meinung nach viel zu offenherzig und zu provozierend war. Der Vater sagte nie etwas zu ihrem Aussehen oder über ihre Kleidung. Es war ihm egal, solange sie nicht ganz nackt herum lief. Er war - wenn auch nur wenig - besser informiert als ihre Mutter, was Mode anging.
Wie immer schnappte sich Lee nur ein Brötchen und versuchte dann so schnell wie möglich zu verschwinden. Erst auf dem Weg zu ihrer Freundin fühlte sie sich wieder wohl. Dort begegneten ihr nur solche Menschen, die so wie sie waren, die die gleiche Kleidung trugen und die gleiche Sprache redeten.
Ihre Freundin, Reggie - eigentlich Regina, aber sie hasste diesen Namen - hatte zusammen mit einer anderen Kollegin eine kleine Wohnung. Lee beneidete sie darum. Ihre Eltern hatten ihr nicht erlaubt, wegzuziehen, und solange Lee minderjährig war, konnten sie ihr das auch verbieten. Aber sie hatte sich entschlossen, an ihrem achtzehnten Geburtstag gleich in eine neue Wohnung zu ziehen. Nach mehreren Stunden gut zureden hatte ihr das ihre Mutter auch erlaubt.
Jetzt klopfte sie an die Tür von Reggie und fühlte sich gleich viel besser. Diese Wohnung hatte etwas an sich, das sie sich immer besser fühlen liess. Es war, als ob die Wohnung an sich gute Laune hatte und sie immer aufmuntern konnte, wenn sie Trost brauchte.
Reggie machte auf und sah schrecklich aus. Ihre wilden, blonden Locken hingen ihr ungekämmt und unbeherrscht über die Schultern hinab. Das Make-up war verschmiert, als ob sie geweint hätte. Tatsächlich waren ihre Augen rot und hatten Tränensäcke.
Lee kam sofort hinein und fragte: „Was ist denn mit dir passiert? Ist eine Dampfmaschine über dich hergefallen?“
Reggie zuckte leicht mit den Mundwinkeln. Es schien ihr wirklich ganz und gar nicht gut zu gehen. War es etwa wegen Johnny? Sie wusste doch, dass er schon eine Freundin hatte und sich nicht auf eine andere einliess. Vor ein paar Tagen hatte Reggie Lee erzählt, dass sie sich voll in ihn verknallt hatte und Lee redete es ihr gleich wieder aus. Sie hatte geglaubt, dass es wirklich nur ein dummer Furz von ihr war, aber scheinbar war die Sache noch nicht beendet. Vielleicht war sie ja gestern bei ihm gewesen und er hatte sie abgewiesen. Das musste ihr den Rest gegeben haben.
Plötzlich wurde Lee von hinten gepackt und eine Hand hielt ihr den Mund zu. Ihre Augen weiteten sich und vor Schreck liess sie ihren Schulrucksack fallen. Sie wollte schreien, und versuchte, den Arm ein wenig von sich wegzuziehen, um nicht erwürgt zu werden.
„Sei still, verdammt noch mal“, flüsterte ihr jemand ins Ohr. Es war ein Mann und sein heisser Atem blieb ihr genau ins Gesicht.
Sie probierte nur noch mehr zu schreien, doch die Hand liess nicht locker.
„Sei still, oder ich bringe dich zum Schweigen“, drohte der Mann weiter und ein Messer kam in ihr Blickfeld.
Ihr stockte der Atem. Was, zum Teufel, ging eigentlich hier vor? Sie biss sich auf die Zunge und unterdrückte ihren Wunsch zum Schreien.
„Gut so“, flüsterte er und zog langsam die Hand von ihrem Mund, aber das Messer blieb. „Wenn ihr beide still seid und das tut, was man euch sagt, wird euch nichts geschehen.“
Erst jetzt bemerkte Lee, dass Reggie ebenfalls von einem Mann bedroht wurde, doch dieser hielt ihr eine Pistole an die Schläfen. Darum war sie so verstört gewesen! Die Männern zwangen sie, so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Es hatte überhaupt nichts mit Johnny zu tun.
Sie wurde grob zu Reggie hin gestossen und stolperte dabei fast über ihre vom Schreck bewegungsunfähigen Beine. Der Mann, der sie bedrohte, war schon ziemlich alt, jedenfalls sah er so aus. Vermutlich war er um die Vierzig, aber seine Haare waren zumindest an den Schläfen schon grau. Er hatte sie mit Gel nach hinten gekämmt und sah nun genauso aus wie einer dieser Mafia-Typen, die sie immer im Fernsehen sah. Zusammen mit dem schwarzen Anzug konnte die Beschreibung gut passen.
Er musterte Lee von oben bis unten. Auf seinen Lippen lag ein leichtes Grinsen. Seine Hände spielte noch immer mit dem Messer.
„Was wollen Sie von uns?“ fragte sie eingeschüchtert, voller Angst und trotzdem noch tapfer.
Das Grinsen wurde breiter. „Ich will gar nichts“, meinte er und kam ein paar Schritte näher. Sie wollte zurückweichen, doch sie prallte gegen den anderen Mann.
„Mein Boss will etwas“, fuhr er fort und liess dabei seinen Blick immer wieder über ihren Körper wandern. Sie fühlte sich nackt und ausgestellt, diesem Mann vollkommen ausgeliefert. „Aber das erfahrt ihr erst, wenn wir bei ihm sind.“
Er löste sich nur ungern von ihrem Anblick, aber er drehte sich um und winkte zur Tür, gerade als jemand mit lautem Gelächter sich daran machte, das Schloss zu öffnen.
„Wer ist das, zum Teufel?“ fuhr er Reggie an.
Stotternd brachte sie heraus: „Meine Mitbewohnerin.“
Sie wurden in Reggies Zimmer gestossen. „Keinen Ton oder ihr seid tot.“
Der Mann mit der Pistole sah durch einen Spalt in der Tür. Er sah, wie die Mitbewohnerin, Sarah hiess sie, mit einem ihrer vielen Eroberungen hereinkam. Sie schmusten dauernd wieder.
„Ist deine Freundin nicht hier?“ fragte der Freund zwischen den heftigen Küssen Sarahs.
„Nein, die ist in der Schule“, antwortete sie und zog ihn immer weiter in ihr Zimmer hinein. Sie schlossen immer noch kichernd und schmusend die Tür hinter sich.
Der Mann an der Tür grinste den anderen an. Dieser gab ihm einen freundschaftlichen Schlag auf den Kopf.
„Du denkst immer nur an das eine“, flüsterte er und drehte sich sofort wieder drohend zu Lee und Reggie um. „Jetzt kommt mit, aber leise, wenn ich bitten darf.“
Er zog Reggie am Arm hoch und der andere nahm Lee. Sie führten sie hinaus, zum schwarzen Lieferwagen, der an der Ecke stand. Sofort sprangen zwei Männer aus dem Führerhaus und öffneten die Hintertüren. Sie trugen die gleichen Anzüge wie die zwei ersten Männer schon.
Reggie und Lee wurden in den Wagen hinein geschoben. Die ersten gesellten sich zu ihnen, während die anderen sich wieder vorne hinsetzten und mit quietschenden Reifen losfuhren. Lee und Reggie wurden durchgeschüttelt, aber irgendwie gelang es ihnen trotzdem, die zwei Pistolen, die auf sie gerichtet waren, im Auge zu behalten.
Die Männer legten ihnen Handschellen an. Etwas tief in Lee drin fand das alles wahnsinnig aufregend. Sie wurde entführt, wie in einem Film, mit Handschellen und Waffen und Mafia-Typen, die mit ihren Messern herumfuchtelten. Ein anderer, wesentlich grösserer Teil, hatte Angst wie noch nie zuvor. Sie konnte nicht glauben, dass sie entführt wurde. Sie war nichts und hatte nichts. Warum waren ausgerechnet sie beide ausgesucht worden? Das machte doch einfach keinen Sinn.
„Was wollen Sie von uns?“ fragte sie noch einmal und versuchte dabei stark zu sein, keine Angst zu zeigen, obwohl sie wusste, dass auch ein Blinder sehen könnte, wie sehr sie sich fürchtete.
Der Mann mit den grauen Schläfen blickte ihr grinsend direkt ins Gesicht. „Du wiederholst dich. Aber ich will dir antworten. Mein Chef will Lösegeld für euch beide.“
Sie zog die Augenbrauen zusammen und versuchte, nicht zu weinen. „Aber warum wir?“ Der Mann zuckte mit den Schultern und blieb stumm. Vielleicht wusste er es selbst nicht.
Reggie drückte sich fest an Lee, als ob sie sie beschützen könnte. Sie schluchzte in ihre Schulter hinein. Nur mit Mühe gelang es Lee, nicht ebenfalls zu weinen, aber ihr liefen die Tränen auch aus den Augen, wenn es auch nur ganz langsam, eine nach der anderen.
Die Fahrt dauerte nicht lange. Sie wurden in ein grosses Lagerhaus gebracht. Es war sozusagen leer, nur ein paar Kisten und Container standen herum. In einer Ecke stand ein Bürotisch, der mit den neusten Computern ausgerüstet war. Ein paar Männer standen um ihn herum, beachteten aber Lee, ihre Freundin und ihre Entführer nicht, als sie hereinkamen.
Sie gingen auch nicht zu ihnen, sondern durch eine weitere Tür, die in ein kleines Zimmer führte. Ein Bett mit ausgeleierter Matratze und einem kaputten Gestell stand in einer Ecke. Es war total verrostet und machte nicht den Eindruck, dass es das Gewicht eines Menschen aushalten würde. Weiter stand eine kleine hölzerne Kommode im Zimmer, aber sie war mit Schimmel bezogen. Der Fussboden war aus Stein und dreckig. Dieses Zimmer hatte schon längere Zeit keine Menschenseele mehr gesehen.
Die Handschellen wurden gelöst, aber nur um an eine Stange an der Wand angemacht zu werden. Reggie und Lee wurden gezwungen, auf den kalten, schmutzigen Boden zu sitzen. Die Mafia-Männer gingen hinaus und schlossen die Tür ab.
Reggies Tränen vermehrten sich sofort und sie fing an zu jammern. „Oh Lee, was geschieht hier nur? Was ist nur passiert? Warum wir? Wir haben doch nichts getan.“
Lee versuchte, sie zu beruhigen, aber sie stellte sich die gleichen Fragen und fand auch keine Antworten darauf. Sie legte Reggies Kopf an ihre Brust und strich beruhigend darüber. Das war das einzige, was sie tun konnte.
Die beiden Männer gingen zum Tisch mit dem Computer und den anderen Männer. Wie zu erwarten war, surften sie auf dem Internet herum, und sahen sich die neusten Nacktfotos von bekannten und unbekannten Personen an. Dabei grölten sie dauernd.
Die beiden Männer gesellten sich dazu und lachten mit. Sie waren eine rohe Bande, die sich nicht erlauben konnten, richtige Freundinnen zu haben und sich so immer mit Nutten oder willigen - manchmal auch unwilligen - Frauen begnügen mussten. Würde einer von ihnen mit einer Freundin antanzen, könnte er gleich wieder gehen. In dem Geschäft, in dem sie waren, mussten sie auf Liebe und Freundschaft verzichten, zumindest zwischen Männern und Frauen. Sie zusammen war die besten Freunde und jeder würde sich für den anderen töten lassen.
„Hey Donnie, hast du hier schon gesehen? Die ist echt scharf!“ rief einer der Männer dem Mann mit den grauen Schläfen zu.
Dieser grinste nur. „Hört doch endlich damit auf. Der Boss kommt gleich. Dem wird nicht gefallen, wenn ihr nur vor diesem Ding sitzt und nichts gescheites tun. Wir haben schliesslich Gäste!“
Unbeeindruckt, aber trotzdem gehorchend, stellen sie den Computer ab und machten sich an Arbeiten, die sie gerade eben erfanden, um beschäftigt auszusehen, wenn der Boss zurückkam.
Und als hätte Donnie es vorausgesehen, kam er wirklich ein paar Minuten später. Er war schon ein älterer Mann, seine besten Jahre hatte er längst hinter sich gelassen. Doch noch immer wirkte er imposant und keiner der Männer würde es wagen, mit ihm Streit anzufangen. An seinem Bauch zeigten sich leichte Fettpölsterchen, aber in seiner Jugend musste er schlank und sehr gut ausgesehen haben. Sein Gesicht war ein bisschen zu rund und die Nase zu klein im Verhältnis, aber sonst zeigten sich auch jetzt noch Züge, die von einem schönen Mann stammten. Seine dunklen, fast schwarzen Augen waren wachsam und sein Haar, dass schon fast vollkommen weiss war, bildeten einen anziehenden und fast ein wenig mysteriösen Kontrast dazu. Sein Anzug war massgeschneidert, und sass ihm perfekt. Er verdeckte die kleine Rundung am Bauch fast vollkommen. Da der Boden der Halle sauber und verdreckt war, fielen seine glänzenden Schuhe positiv auf. Die helle Licht widerspiegelte sich in ihnen.
Er kam mit ruhigem Gang auf die Männer zu. Sie grüssten ihn alle freundlich, bevor sie sich wieder ihren ‚Arbeiten‘ zuwandten. Der Boss rief Donnie und den anderen Mann zu sich. „Ist alles glatt gelaufen?“
Donnie nickte. „Sie haben sich nicht gewehrt. Ich denke, wir werden keine Schwierigkeiten mit ihnen haben, Sir.“
Der Boss nickte. „Das ist gut. Und sollten sie fliehen, mache ich euch beide dafür verantwortlich, klar?“
Die beiden nickten. Das war klar und deutlich gewesen. Keinem von ihnen würde es einfallen, die beiden Mädchen fliehen zu lassen. Sie hatten zwar keine Ahnung, was der Chef mit ihnen wollte, aber sie waren sehr wichtig. Und wenn sie flohen, bedeutete das ihren Kopf.
Der Boss ging in sein kleines Büro, das direkt an das Zimmer grenzte, in dem die beiden Mädchen waren.
Donnie wandte sich seinem Partner zu. „Du übernimmst die erste Wache, Ricardo. Ich löse dich dann so gegen Mittag ab.“
Der Mann nickte und setzte sich an den Computer. Dort tippte er einen Befehle ein und daraufhin erschien das Bild von dem Zimmer, in dem die ‚Gäste‘ waren. Sie sassen noch immer am Boden. Wie könnten sie auch anders, wenn ihre Hände an der Stange am Boden angemacht waren? Sie stützten sich gegenseitig und weinten.
Ricardo verdrehte die Augen. Dass diese Weiber auch immer weinen mussten! Es war ihm rätselhaft, dass sie so viele Tränen hatten.
Er legte die Beine auf den Tisch und nahm sein Buch, das auf dem Tisch lag. Es war ein Kriminalroman. Er war verrückt nach solchen Büchern, vor allem seitdem er selbst ein Mitglied dieses Geschäfts war. Eigentlich hatte er zwar Polizist werden wollen, aber er hatte herausgefunden, dass man auf der anderen Seite wesentlich mehr verdiente und es spannender war. Schon alleine immer darauf gefasst zu sein müssen, dass die Polizei das Lagerhaus stürmten, war ein gewisser Reiz. Er liebte das, was er machte und würde es nie gegen etwas anderes eintauschen.
Die Mädchen regten sich nicht. Das war gut. Dann konnte er sich in aller Ruhe seinem Buch widmen.
Gegen Mittag löste Donnie Ricardo wie versprochen ab. Der Boss war nicht aus seinem Büro gekommen, doch Donnie wusste, dass er in der ganzen Gegend herum telefoniert hatte. Es war ihm nie klar gewesen, warum er das tat, aber dem Boss erschien es wichtig.
So nahm er die Haltung von Ricardo am Tisch ein, und starrte auf dem Bildschirm. Die Wartezeit nach einer Entführung war immer am langweiligsten. Zuerst mussten die Eltern merken, dass sie nicht mehr da waren. Das ging manchmal ziemlich lange.
Er seufzte und stand wieder auf. Der Mann, der ihm das Essen bringen sollte, war wieder da und drückte ihm eine Tüte in die Hand. Er nahm sie und ging damit zum Zimmer der Gefangenen.
Als er die Tür öffnete, starrten sie ihn immer noch vollkommen verängstigt an und drückten sie enger aneinander. Ihre Augen waren trocken, aber wahrscheinlich nur, weil sie schon den ganzen Vormittag über geweint hatten.
„Keine Sorge. Ich bringe euch nur etwas zu essen“, sagte er mit einem leichten Lächeln. Er kam zu ihnen hin und setzte sich vor sie auf den Boden. Während er die Tüte auspackte, spürte er die ängstlichen und verwirrten Blicke auf sich, aber er sah nicht auf.
Sein Kollege hatte ihnen Brot, Äpfel und sonstiges Zeug gebracht. Sie sahen es mit hungrigen Augen an. Lee hat am Morgen noch überhaupt nichts gegessen - sie hatte bei Reggie essen wollen - und diese wurde am Morgen von diesen Männern aus dem Bett geholt worden. Aber sie beide wollten nicht essen. Sie konnten nicht essen, vor Angst, was noch mit ihnen geschehen konnte.
Donnie sah sie an und fragte dann: „Kein Hunger?“
Er zog dabei so die Stirn hoch, als sei er erstaunt darüber. Dabei musste er doch wissen, dass man in so einer Situation nicht mehr essen konnte. Er musste es doch schon mehrere Male erlebt haben.
„Na gut, ich lasse es euch da“, sagte er und stand wieder auf. Nach kurzem Zögern fügte er hinzu: „Keine Angst, es ist nicht vergiftet. Wenn wir euch töten wollten, hätten wir andere Mittel.“ Er lächelte aufmunternd, wie ein Lehrer seine Schüler aufmuntern würde, nachdem sie schlechte Noten geschrieben hatten, nicht wie der Entführer zu den Entführten.
Lee hob die Augen und sah den Mann an. Sie zitterte vor Angst, aber trotzdem fragte sie: „Warum halten Sie uns hier fest?“
Donnie drehte sich wieder um. Er hatte die Braune zusammengezogen, als müsse er überlegen, was sie damit meinte. „Warum? Weil wir euch entführt haben“, gab er zur Antwort.
„Aber warum? Wir sind dem Staat keinen Cent wert!“
Donnie begann laut zu lachen. Reggie klammerte sich erschrocken an Lee und starrte ihn an. Auch Lee erschrak. Was war so komisch daran? Was hatten sie schon? Warum ausgerechnet sie beide?
Er erholte sich langsam wieder und gluckste nur hin und wieder. Er hielt sich den Bauch und wischte sich die Tränen aus den Augen. „Das ist wirklich ein guter Witz. Wirklich. Der beste, den ich seit langem gehört habe.“
Damit er ging er hinaus, immer noch leise lachend. Die Tür fiel mit einem lauten Knall ins Schloss. Reggie sah Lee an und sie war wieder den Tränen nahe. Lee nahm sie in die Arme, so gut das ging, da ihre eine Hand an dieser verdammten Stange angemacht war. Sie zerrte immer wieder daran, aber sie schürfte sich nur die Hand auf und machte sich selbst weh. Die Stange würde halten. Es hatte keinen Sinn, trotzdem zu versuchen, sie loszureissen. Ausserdem war da noch diese Kamera in der Ecke.
„Es wird uns nichts geschehen, bestimmt nicht. Sie brauchen uns, um ihre Forderungen zu unterstützen. Sie werden uns nichts machen“, versuchte Lee ihre Freundin zu beruhigen, aber es half nicht viel.
Sie beide rührten nichts von dem Essen an. Sie hatten keinen Hunger. Es lag vor ihnen und die Fliegen hatten ihre Freude daran. Sie surrten umher und gingen Lee wahnsinnig auf den Nerv. Die Fliegen waren frei und sie musste hier herum hocken und warten, dass endlich mal etwas passierte. Sie wünschte sich nichts mehr, als dass etwas geschah, egal was. Es konnte auch etwas schlimmes sein, das war immerhin besser als gar nichts.
Mehrmals war der Mann wiedergekommen, hatte gefragt, ob sie nicht endlich etwas essen wollen oder aufs Klo müssten. Er war sehr freundlich, und sie konnten fast vergessen, dass sie hier Gefangene waren, wären da nicht noch die Handschellen gewesen, die sie an den Boden fesselten.
Die Tür ging wieder auf, doch diesmal kam nicht nur Donnie herein, sondern auch ein älterer Mann in einem teuren Anzug. Er blieb kurz stehen, musterte sie und zog sich dann einen Stuhl heran. Sie starrten ihn beide erschrocken an.
„Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Robert Mulroney. Ich bin der Sicherheitschef der USA. Ich habe veranlasst, Sie beide zu entführen.“
Lee richtete sich ein bisschen auf. Das war also der Mann, der Schuld an diesem ganzen Schlamassel war. Der Sicherheitschef persönlich. Sie wusste, dass es im Weissen Haus nicht immer ganz korrekt vor sich ging, aber dass der Sicherheitschef Leute entführte, das hätte sie echt nicht gedacht.
„Ich habe eigentlich gedacht, dass Sie sich bewusst sind, warum wir Sie entführten, aber Donnie erzählte mir, dass Sie immer fragten. Sie scheinen keine Ahnung von allem zu haben.“
Tatsächlich wusste sie nicht, wovon dieser Mann hier sprach. Donnie hinter ihm musterte sie und Mitleid schwang in seinem Blick mit. Reggie wusste nicht, warum, aber sie bedankte es ihm mit einem leichten Lächeln, das er erwiderte.
„Warum sagen Sie uns nicht einfach, warum ausgerechnet wir beide?“ fragte Lee verzweifelt. Seit Stunden hatte sie diese Frage Donnie gestellt, und jetzt war da jemand, der sie beantworten konnte, es aber wahrscheinlich nicht tat.
Mulroney sah nicht so aus, als sei er jemand, mit dem sich verhandeln liesse. „Was wissen Sie von Ihren Eltern, Lee?“ stellte er als Gegenfrage.
Sie runzelte die Stirn. „Was hat das damit zu tun?“
Mulroney war nicht wütend, aber der Ton in dem er sagte, dass sie seine Frage beantworten soll, war genug um zu zeigen, dass es nicht mehr lange ging und er die Geduld verlor.
„Sie sind meine Eltern. Was meinen Sie mit dieser Frage?“ Lee war verwirrt. Was hatten ihre Eltern mit dieser Entführung zu tun? Wollten sie vom Staat Geld für sie erpressen und hatten sie Mulroney dafür bezahlt? Nein, ihre Eltern wären nicht dazu fähig. Warum sollten sie ihrem eigenen Kind Angst machen? Sie verstanden sich nicht immer gut, aber Lee wusste, dass sie sie liebten, egal, wieviel Streit zwischen ihnen war.
„Sie sind Ihre Eltern? Sind Sie sicher?“ fragte Mulroney zurück und sah sie zweifelnd an.
Er glaubte ihr nicht. Warum sollten ihre Eltern nicht ihre Eltern sein? Sie konnte nur weiter die Stirn runzeln.
„Nun, dann haben ihre Eltern Sie belogen. Sie haben Sie adoptiert, als Sie ein Baby waren. Genauso wie bei Ihnen, Regina. Sie scheinen beide keinen Ahnung zu haben, wer Ihre wirklichen Eltern sind, nicht?“
Reggie sah Lee an und für einen Augenblick war in ihren Augen deutlich zu lesen, dass sie dachte, dieser Mann sei vollkommen verrückt. Lee war sich dessen nicht so sicher. Warum sollte er ihnen Lügen erzählen? Es machte viel mehr Sinn, wenn es nicht ihre leiblichen Eltern waren. Vielleicht war irgendein Star der Vater oder die Mutter von ihnen, eine berühmte Persönlichkeit, die genug Geld hatte, um ein Lösegeld zu bezahlen. Ja, so wurde alles viel klarer.
„Wer sind unsere Eltern?“ fragte Lee und musste entsetzt feststellen, dass sie neugierig war. Nichts in ihn war erschrocken darüber, dass ihre Eltern sie fast achtzehn Jahre lang angelogen und ihr nicht erzählt hatten, wer sie wirklich war. Sie fragte sich nur, wer nun ihr richtiger Vater und ihre richtige Mutter war.
„Ihre, Lee, werden Sie vermutlich ziemlich gut kennen. Jeder in Amerika kennt sie. Und Sie, Regina, werden Ihren Vater bestimmt auch kennen, vielleicht sogar auch Ihre Mutter.“
Das half ihnen beiden nicht weiter. Reggie machte nun endlich auch einmal den Mund auf und fragte: „Wie heissen sie?“
Ihre Stimme klang kräftig und mutig, und Lee beneidete sie fast ein bisschen darum. Sie tönte so, als habe sie keine Angst mehr, ganz im Gegensatz zu ihrer Stimme, die immer noch zitterte und schwankte.
„Wollen Sie das wirklich wissen, Regina? Wollen Sie sich nicht überraschen lassen, bis die Übergabe stattgefunden hat und Sie vor ihnen stehen, sie in die Arme schliessen können?“
Reggie schüttelt den Kopf. „Nein, ich will ihre Namen wissen“, sagte sie fest und sah ihn so an, dass er darüber staunte.
Er lächelte leicht. „Okay, ich werde es Ihnen sagen. Sie sind die Tochter von Skeet McGowan, dem Schauspieler. Ihre Mutter ist ein frühere Freundin von ihm. Sie haben sich getrennt, als sie ihr Baby behalten wollte, während er sich für seine Karriere entschied. Sie hat Sie dann aber trotzdem zur Adoption freigegeben. Ihr Name ist Jamie Campbell. Sie ist Schriftstellerin.“
Reggie starrte den Mann nicht mehr an. Ihre Augen weiteten sich und sie sah durch Lee hindurch. Dieser Skeet McGowan war einer ihrer Lieblingsschauspieler. Sie hatte mehrere Poster von ihn ihrem Zimmer aufgehängt.
Lee konnte es genauso wenig fassen wie Reggie. Ihre Angst war verflogen. Wenn ein solch berühmter Schauspieler Reggies Vater war, wer war dann ihrer? Mulroney sagte, jeder in Amerika kennt ihre Eltern.
„Wie heissen meine Eltern?“ fragte Lee und zu ihrer Überraschung tönte ihre Stimme nun stärker, kräftiger.
Mulroney schien Spass daran zu haben, zuzusehen, wie die beiden verängstigten jungen Frauen sich vor seinen Augen zu starken, ein wenig erschrockenen jungen Damen entwickelten, die total vergassen, dass sie in seiner Gewalt waren. „Es sind Mister und Misses Leard, die Präsidentenfamilie. Die beiden waren noch nicht verheiratet, als Sie auf die Welt kamen, und nach den etwas aus der Mode geratenen Traditionen ist es sehr unschicklich, ein uneheliches Kind zu bekommen, also wurden Sie ebenfalls zur Adoption freigegeben. Sie haben erst Jahre später geheiratet, als Mr. Leard seine Karriere als Politiker begonnen hat.“
Nun war Lee an der Reihe mit Erstarren. Sie hätte damit gerechnet, dass es irgendein berühmter Schauspieler und irgendein Model oder so etwas waren, aber nicht die Präsidentenfamilie. Das war einfach unglaublich. Sie konnte nicht die Tochter der berühmtesten Personen der ganzen Welt sein.
Donnie beobachtete die beiden jungen Frauen, die nun starr vor Schrecken waren und sich kaum mehr rührten. Nur ihre Augen irrten hin und her und versuchten etwas zu finden, an dem sie sich festklammern konnten. Reggies Blick fand den seinen und klammerte sich fest. Ihre Tränen liefen Tropfen für Tropfen, langsam, aber stetig.
Lee war so erschrocken, dass sie ganz vergessen hatte zu weinen. Das ganze war einfach zu unglaublich.
„Sie verarschen uns?!“ fragte sie nach einer Weile, obwohl sie genau wusste, dass er keinen Grund dazu hatte. Es machte alles mehr Sinn, wenn es wirklich so war.
„Nein, ich verarsche Sie ganz und gar nicht. Was glauben Sie, warum ich sonst ausgerechnet Sie ausgewählt habe? Sicher nicht aus reinem Vergnügen“, antwortete Mulroney und lächelte.
Donnie musterte Lee und Reggie. Sie taten ihm leid. Sie hatten wirklich nicht gewusst, dass sie beide adoptiert waren und jetzt wurden sie von eine Mann darauf aufmerksam gemacht, der für sie Lösegeld forderte. Es war irgendwie nicht fair. Ihre Adoptiveltern hätten sie informieren müssen. Aber jetzt war es zu spät.
Mulroney stand wieder auf. „Jetzt wissen Sie, warum ich Sie entführen liess. Ihre Adoptiveltern haben unterdessen eine Vermisstenanzeige aufgegeben, also werden wir uns morgen früh melden und unsere Forderungen stellen.“ Er nickte ihnen zu und ging mit Donnie hinaus.
Reggie warf sich vollends ins Lees Arme und weinte.
„Es ist unglaublich“, flüsterte Lee leise und strich ihr sanft über den Kopf, „Wir sollen tatsächlich adoptiert sein. Er glaubt wirklich daran. Es ist einfach unglaublich.“
Sie selbst war nur erstaunt. Nichts in ihr erregte Schrecken oder Angst. Eher Erstaunen, vielleicht sogar Freude. Sie war die Tochter des Präsidenten, das konnte nicht jede von sich behaupten. Ihr fiel ein, dass die Präsidentenfamilie noch einen Sohn hatte. Er war zwei Jahre jünger als sie, aber er sah aus, als wäre er älter. Er war ein Rebell, machte nie das, was seine Eltern von ihm verlangten und präsentierte sich nur zu gerne der Öffentlichkeit. Er hatte vor, Rocksänger zu werden.
Was würde er sagen, wenn er erfuhr, dass er eine Schwester hatte? Würde er sie akzeptieren oder mit ihr genauso umspringen wie mit seinen Eltern, die er schlicht weg nicht beachtete?
Reggie hörte langsam auf zu schluchzen. Sie wischte sich trotzig die Tränen von den Augen. Ihre Angst war verschwunden. Es war einfach zu unglaublich, dass Mulroney die Tochter des Präsidenten und die von Skeet McGowan umbrachte. Das würde ihn zu einem Verbrecher machen, der nirgendwo mehr sicher war. Er würde in keinem Land mehr Asyl bekommen. Das brachte ein wenig Sicherheit. Mulroney würde sein Geld bekommen und sie waren wieder frei.
„Weisst du, an was ich gerade denken musste?“ fragte sie Lee nach einer Weile. Diese schüttelte den Kopf.
„Als wir noch Kinder war, haben wir gespielt, dass unsere Eltern berühmt waren. Wir stellten uns vor, wie wir immer im Mittelpunkt standen. Dass immer Reporter um uns herum waren.“
Lee konnte sich gut daran erinnern. Sie beide kannten sich, seit sie Kinder waren und als sie etwa zehn oder elf waren, spielten sie diese Spiele. Sie schminkten sich mit dem Schminkzeug ihrer Mütter und taten so, als würden sie Interviews geben. Hätten sie gewusst, dass das jetzt alles Wirklichkeit wurde, hätten sie das nicht gespielt. Dann hätten sie sich in ihrem Zimmer eingesperrt und wären am liebsten nicht mehr hinaus gekommen.
„Glaubst du, dass wir unsere Freunde wieder einmal sehen werden?“ fragte sich Reggie weiter.
„Denkst du da an jemanden bestimmten?“ fragte Lee zurück und lächelte leicht.
Reggie musterte sie erstaunt und lachte dann auch. „Du meinst Johnny. Jetzt hätte ich wenigstens eine Chance bei ihm. Nein, eigentlich meine ich alle unsere Freunde. Jetzt könnte ich ja nicht mehr sicher sein, ob Johnny mich überhaupt noch meinetwegen will.“
Da hatte sie recht. Bei jedem Jungen, mit dem sie in den folgenden Jahren ausgehen würden, mussten sie sich fragen, ob er sie nur ihrer Eltern wegen wollte. Das war bestimmt ein grosser Nachteil, wenn man berühmte Eltern hatte.
Lee nickte leicht. „Ich würde auch gerne unsere Freunde wiedersehen. Aber ich denke, unser Leben wird sich jetzt ganz drastisch ändern.“
Seufzend lehnte sich Reggie an die Wand. „Aber weisst du, was gut ist? Wir müssen uns nicht mehr mit diesen Lehrern abplagen, die glauben, dass sie mit uns tun können, was sie wollen.“
Lächelnd nickte Lee. Ja, ihre Lehrer hatten wirklich das Gefühl, dass sie die besten waren und darum allen so viele Strafaufgaben und Extrastunden verteilen konnten, wie sie wollten. Wenn sie jetzt weiter in die Schule gingen, dann kamen sie zu Lehrern, die sehr von der Gunst ihrer Schüler abhängig waren.
Reggie seufzte erneut. „Ich habe mir oft vorgestellt, wie es ist, entführt zu werden. Bei mir war alles horrormässig, aber hier haben sie uns noch nicht einmal geschlagen. Irgendwie ist diese Entführung sowieso harmlos, wenn man bedenkt, was wir gerade erfahren haben.“
Lee war erstaunt darüber, dass Reggie so darüber dachte. Vor ein paar Stunden wäre sie - eigentlich sie beide - noch fast vor Angst gestorben und jetzt sagten sie: Ist ja alles nicht so schlimm.
Mit wiedergefundenem Appetit griff sie nach einem Apfel und biss hinein. „Wenn wir schon hierbleiben sollen, dann wenigstens mit vollem Magen.“
Reggie lächelte.
Später in der Nacht kam Donnie zurück. Er wirkte scheuer als vorher. Sie wussten beide nicht genau, an was es lag, aber irgendwie hatte er jetzt mehr Respekt vor ihnen. Vielleicht hatte es ihn beeindruckt, wie sie das Geständnis von Mulroney aufgenommen hatten.
Er löste ihre Handschellen und sagte ihnen, dass sie das Lager wechseln. „Wir gehen an einen bequemeren Ort. Ihr sollt euch nicht beklagen, dass ihr es nicht bequem gehabt habt“, meinte er grinsend und zeigte zur Tür.
Donnie hatte weder einen Revolver noch ein Messer dabei und die ganze Lagerhalle draussen war leer. Er vertraute ihnen. Lee war Reggie einen Blick zu. Trotz der Freundlichkeit, mit der sie hier behandelt wurden, wollte sie nicht länger als nötig hierbleiben. Wenn sie die Chance zur Flucht hatten, wollten sie sie nutzen.
Fast völlig unmerklich nickte Reggie leicht. Donnie führte sie bis durch die ganze Halle bis zur Tür. Dort konnten sie den Lieferwagen sehen, der mit hellen Lichtern auf seine Passagiere wartete.
Ohne die Handschellen war alles viel leichter. Sie konnten davon rennen und sich irgendwo verstecken. Hier war ein solches Durcheinander von Containern und Kisten, dass sie Stunden brauchen würden, um sie zu finden, und bis dahin waren sie längst abgehauen.
Reggie warf Lee noch einmal einen Blick zu. Sie stimmten miteinander überein. Jetzt oder nie!
Mit grossen Schritten rannten sie in zwei verschiedene Richtungen davon. Eine Sekunde lang war Donnie vollkommen verblüfft, dass sie es wagten, zu fliehen, doch dann setzte er Reggie nach. Er schrie nach seinem Kollegen im Wagen, der schon längst ausgestiegen und Lee nachgerannt war.
Doch es war dunkel, und es hatte keine Lampen, die das ganze Gelände beleuchteten. Sie konnten nichts sehen, weder Lee und Reggie noch die beiden Entführer.
Mehr stolpernd als rennend bahnte sich Lee ihren Weg durch dieses verwirrende Labyrinth und versuchte dabei nicht allzuviel Lärm zu machen. Hinter sich konnte sie die Schritte hören und den laut schnaufenden Atem ihres Verfolgers.
Ihr Atem ging ebenfalls schnell. Sie duckte sich hinter einen Container und hörte, wie die Schritte näher kamen. Wenn er gemerkt hatte, dass sie angehalten war, würde er sie sicher finden, aber wenn nicht, dann rannte er an ihr vorbei und sie konnten sich ihren Weg sorgfältiger suchen.
Er rannte vorbei, ohne zu zögern. Erleichtert atmete Lee tief durch und stand langsam wieder auf. Aus der Richtung, aus der sie gekommen war, hörte sie laute Schreien und einen riesen Tumult. Ihre Flucht hatte alle aufgeweckt und sie schwärmten jetzt mit Taschenlampen aus, um sie wieder einzufangen.
Sie rannte weiter und hoffte, in die richtige Richtung zu laufen. Da sie ja keine Ahnung hatte, wo sie genau war, konnte sie auch nicht sagen, wie weit es bis zur nächsten Stadt war, aber sie hoffte, dass es nicht allzu weit war. Und wenn doch, musste sie eine Nacht im Freien übernachten. Daran würde niemand sterben, schon gar nicht im Sommer.
Reggie rannte schnell durch das Wirrwarr und wich den Kisten aus. Sie glaubte, Schritte hinter sich zu hören, war aber nicht sicher, ob sie sich das nicht nur einbildete. Doch sie wagte es nicht, stehenzubleiben. Sie würde dadurch wichtigen Vorsprung verlieren.
Ihre Sicht war extrem eingeschränkt und sie strauchelte immer wieder über Holzstücke oder sonstige Dinge, die am Boden herumlagen. Die Schrammen, die sie sich dabei holte, beachtete sie gar nicht. Sie waren nicht so wichtig, wenn man sie mit der Freiheit verglich. Bis zum nächsten Dorf konnte es nicht mehr weit sein. Sie waren von ihr zu Hause bis hierhin nur wenige Minuten gefahren. Irgendwo würde es hier sicher ein Telefon geben.
Die Schritte hinter ihr schienen näher zu kommen. Bildete sie sich das jetzt ein oder nicht? War da wirklich jemand hinter ihr? Als der jemand zu fluchen begann, weil er hingefallen war, war sie sicher, dass sie es sich nicht nur einbildete. Sie forderte ihre Beine auf, schneller zu laufen, aber sie konnte einfach nicht.
Sie hörte einen Schuss und zuckte zusammen. War der für sie gemeint gewesen? Oder etwa für Lee? Nein, wohl kaum, eher als Warnung, denn wenn sie tot waren, waren sie nichts mehr wert.
Plötzlich spürte sie, wie sie jemand am Arm packte und zu Boden riss. Sie schrie vor Erschrecken auf. Ihre Arme wurden auf den Rücken gehalten und Handschellen klickten erneut zu.
„Das war nicht sehr schlau, Reggie“, flüsterte Donnie schwer atmend, „Wirklich überhaupt nicht schlau.“
Eigentlich war es ihr völlig egal, ob es schlau gewesen war oder nicht. Es war ein Versuch gewesen, eine winzige Chance, die sie hatten nutzen müssen. Was kam es darauf an, ob es schlau gewesen war? Wenn es geklappt hätte, wäre es schlau gewesen? Sie konnte nichts dafür, wenn er schneller war als sie.
Er half ihr, sich aufzurichten und hielt sie dabei am Arm fest, so dass es fast weh tat. „Ich habe geglaubt, dass ich euch vertrauen kann“; flüsterte er und war in seinem Stolz verletzt. Er hatte geglaubt, sie würden nicht fliehen, weil sie gut behandelt wurden. Aber sie hatten sein Vertrauen missbraucht.
„Das war nicht schlau von Ihnen“, gab Reggie zurück. Sie konnte das auch sagen. Er hätte ihnen ja nicht vertrauen müssen. Es war seine Schuld.
Donnie lachte leise. „Das stimmt. Ich werde dafür auch genug büssen müssen. Mulroney wird mir den Kopf abreissen, wenn wir Lee nicht auch wieder finden.“
Tonlos zog Reggie die Lippen auseinander. Dann würde Donnie bald um einen Kopf kleiner sein als jetzt.
Lee war im Wald aufgewachsen. Bevor sie beide sich kennengelernt hatten, war sie eigentlich immer im Wald herumgestreunt und hatte sich vor den Spaziergänger versteckt. Wenn sie ein Eichhörnchen sah, konnte sie so nahe an es rankriechen, bis sie es fast mit der Hand berühren konnte. Sie würde sich in diesem Labyrinth wie Zuhause fühlen. Keiner würde sie finden.
Bestimmt konnte Lee bald Hilfe rufen und dann würde die Polizei alle festnehmen. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis auch Reggie wieder frei war.
Mit leisen, vorsichtigen Schritten tastete sich Lee durch das Durcheinander aus Holz, Metall und Plastik. Es war eine Unordnung, wie es sonst nur in ihrem Zimmer war. Alles war da und dort verstreut, liess nur ab und zu ein wenig Platz frei, damit man hindurch gehen konnte.
Sie tastete sich mit den Händen ausgestreckt vorwärts und fragte sich, wohin sie eigentlich ging. Alles war dunkel. Sie konnte nur die leuchtenden Zeiger ihrer Uhr sehen, die ihr zeigten, dass es schon fast Mitternacht war. Aber sonst schien nirgendwo ein Licht. Sogar der Himmel war vollkommen verdunkelt. Vielleicht würde es zu regnen anfangen. Sie sollte vielleicht anfangen, einen Unterschlupf zu suchen, damit sie nicht total nass wurde.
Obwohl es Sommer war, hatte es merklich abgekühlt. Ein kalter Wind strich um Lees nackte Arme und liess sie frösteln. Sie schlang die Arme um sich selbst und ging ein bisschen schneller. Mit der Bewegung würde sie wärmer bekommen.
Hinter ihr waren keine Schritte mehr hörbar. Eigentlich war überhaupt nichts mehr hörbar, nur noch das Knirschen unter ihren Füssen und das Rauchen des Windes. Sonst war es still, wie ausgestorben.
Lee fühlte sich nicht wohl. Sie war gerne in einem Durcheinander, sogar, wenn es dunkel war, aber nur, wenn sie es kannte. Ihren Wald zu Hause hatte sie in - und auswendig gekannt, das hier nicht. Sie wusste nicht, in welche Richtung sie sich bewegte oder ob sie nur im Kreis ging. Es war irgendwie unheimlich und herausfordernd zugleich. Wer konnte schon wissen, was hier für dunkle Gestalten herumlungerten, die nur darauf warteten, dass junge Mädchen wie sie sich verirrten? Dann hätte sie es bei Mulroney und seinen Männern doch besser gehabt.
Wütend sagte sie sich, dass sie sich selbst nur Angst einjagte. Hier waren bestimmt keine Landstreicher, weil das Fabrikland war. Es war Privatbesitz und war vermutlich mit einem dichten Zaun abgesperrt. Jeder, der sich hier drauf wagte, konnte verklagt werden. Vielleicht war es sogar verseucht, jedenfalls offiziell. Inoffiziell diente es als Abschreckung, damit es niemand wagte, die Ruhe zu stören.
Vor ihr ertönte ein Geräusch. Sie blieb augenblicklich stehen und bewegte sich nicht mehr. Was war das gewesen? Ein Tier? Ein Mensch auf der Suche nach ihr? Reine Einbildung? Sie lauschte angestrengt, doch es ertönte nicht wieder. Sie musste es sich eingebildet haben.
Donnie brachte Reggie zum Lieferwagen und machte ihre Handschellen an die Stangen des Sitzes an. Sein Vertrauen war wie aufgelöst. Er würde nicht noch einmal riskieren, dass sie fliehen konnte. Der Ärger war jetzt schon gross genug. Wenn sie Lee nicht fanden ...
Mulroney war ein netter Mann, wenn man nett zu ihm, aber er konnte Fehler nicht entschuldigen, vor allem nicht solche. Donnie hatte wirklich genug Erfahrung, um zu wissen, dass man Gefangenen nicht vertrauen konnte, und trotzdem. Irgendwie hatte er gedacht, diese beide seien anders. Er konnte nicht beschreiben, warum er dieses Gefühl hatte, aber es war da, auch jetzt noch.
Vielleicht lag es daran, dass sie zum ersten Mal so junge Personen entführt hatten, die keine Ahnung hatten, warum sie entführt wurden. Vielleicht lag es auch einfach daran, dass sie mit ihren unschuldigen Augen in jedem Mitleid und Vertrauen weckten. Er konnte es nicht genau sagen.
Der Fahrer des Wagens, der Lee nachgerannt war, war noch nicht zurück. Was machte er nur so lange? Hatte er Lee noch nicht gefunden? Donnie wurde langsam nervös, obwohl er wusste, dass es vielleicht Morgen werden würde, bis er sie gefunden hatte. Am liebsten wäre er ihm nachgerannt, aber er wusste ja nicht, in welche Richtung er rennen müsste.
Seine Augen schweiften durch die Dunkelheit, aber sie konnten nichts entdeckten.
„Donnie“ rief Reggie leise aus dem Wagen heraus. Er drehte sich um und sah sie fragend an. Es war das erste Mal, dass sie seinen Namen sagte, überhaupt das erste Mal, dass sie ihn ansprach.
„Was machen Sie mit mir, wenn Sie Lee nicht finden?“ Ihre Stimme klang ruhig, und irgendwie trotzdem ängstlich.
Donnie konnte in ihrer Stimme hören, dass sie nicht alleine sein wollte. Sie wollte mit Lee zusammensein, um eine Gleichgesinnte zu haben, mit der sie ihre Angst teilen konnte. Sie wollte einfach nicht alleine das alles durchstehen müssen.
„Es wird Ihnen nichts passieren, Reggie. Mulroney ist kein Mörder“, antwortete er tröstend und fragte sich dabei, warum er so mit ihr sprach. Sie war eine Gefangene, und er war ein Söldner, der angeheuert wurde, um sie zu bewachen. Er musste ihr ihre Angst nicht nehmen. Das war nicht seine Aufgabe.
„Und was passiert mit Lee, wenn Sie sie finden?“
Er lächelte leicht. Was sollte schon mit ihr passieren? Sie konnten ihr vielleicht eine Ohrfeige geben, wie einem kleinen Kind, das Unsinn angestellt hat, aber mehr konnten sie nicht tun. Sie war schliesslich ihre Geisel und es würde nicht viel Sinn machen, wenn sie sie umbringen würden.
„Nicht mehr als Ihnen, keine Sorge. Ihnen beiden wird überhaupt nichts geschehen. Mulroney selbst hat mir gesagt, dass Sie es hier so schön haben sollen wie es nur geht. Er will hinterher keine Klagen hören müssen.“
Reggie nickte. Was würde er machen, wenn der Präsident - Lees Vater - alles bezahlte und sie wieder frei waren? Sie wussten, wer er war und konnten ihn jederzeit identifizieren. Wohin wollte er fliehen? Er würde nirgendwo Schutz finden können. Wollte er sie mit netten Worten und einem schönen Aufenthalt, der Ferien glich, locken, um den Mund zu halten?
Keiner würde auch nur so etwas in Erwägung ziehen. Entführungen waren schreckliche Erlebnisse, auch wenn sie nicht so schlimm waren. Man würde sie nie vergessen, und schon gar nicht die Gesichter der Entführer. Und hatte man die Möglichkeit zur Rache, würde man sie nutzen. Das war Reggie schon immer klar gewesen, auch schon vor ihrer eigenen Entführung.
Donnie starrte wieder in die Dunkelheit hinaus, konnte aber noch immer nichts sehen. Reggie unterdrückte ein leichtes Lächeln. Sie wusste, dass Lee nicht gefunden werden würde. Sie konnten genauso gut auch jetzt schon dort hinfahren, wo sie eigentlich hinwollten. Es hatte keinen Sinn zu warten.
Die Nacht schien die Geräusche zu verschlucken. Um sie herum war es total still, Reggie konnte nur den schnellen, nervösen Atem Donnies hören, und seine Schritte, wie er unruhig umher ging. Seine Zigarette in der Hand verglühte allmählich, ohne dass er mehr als zwei Züge genommen hätte. Er hatte Angst vor der Reaktion von Mulroney. Lee lief vielleicht gerade in diesem Moment zur Polizei und bald wimmelte es hier nur so von Polizisten. Er hatte einen schweren Fehler gemacht.
Plötzlich hörten sie von weitem lauten Atem. Schritte wurden immer lauter. Donnie atmete auf und verspannte sich gleich wieder. Er sprach leise mit dem Fahrer in einer fremden Sprache, die wie Spanisch oder so etwas klang und fluchte dann laut.
Reggie lächelte. Sie hatten Lee nicht gefunden. Dann würde bald alles gut werden. Sie konnte Hilfe holen, wenn es sein musste, dann bei ihrem Vater selbst.
Donnie warf die Türe des Lieferwagens zu und es wurde dunkler als es sowieso schon war. Reggie sah nichts mehr, aber jetzt machte es ihr nicht mehr soviel aus. Sie wusste, dass ihre Gefangenschaft hier nicht mehr lange gehen würde. Dann konnte sie ruhig noch einige Zeit im Dunkeln verbringen. In der Dunkelheit konnte sie sowieso besser nachdenken. Dann würde sie nicht von anderen Dingen abgelenkt.
Sie fuhren schnell weg. Der Boden war uneben und Reggie wurde leicht hin und her geworfen. Doch das kümmerte sie herzlich wenig.
Was wird mein Vater zu mir sagen, dachte sie, wird er mich akzeptieren? Wird er abstreiten, dass ich seine Tochter bin, um einen Skandal zu verhindern? Was wird er tun?
Lee ging unendlich lange, bis endlich die Sonne aufging. Sie war strahlend schön und spendete Wärme. Lees Gesicht war nass vor Schweiss und vom Tau, der während der Nacht gefallen war. Ihre Kleider klebten an ihrem Körper und fühlten sich unendlich schwer an. Sie hatte kalt und gleichzeitig heiss. Vermutlich wurde sie noch krank. Zitternd schlang sie die Arme um sich und betrachtete die Sonne mit zusammengekniffenen Augen.
Ihre Gedanken schweiften zu Reggie ab. War sie auch entkommen oder hatte dieser Donnie sie erwischt? Lee wünschte ihr nichts mehr, als dass sie auch hatte fliehen können, aber sie war sich nicht sicher. Irgend ein dumpfes Gefühl sagte ihr, dass sie so schnell wie möglich auf eine Polizeistation gehen musste, um Mulroney anzuzeigen. Das Problem war nur, wie konnte sie das beweisen? Sie konnte nicht einfach zur Polizei gehen und sagen, ich möchte Robert Mulroney anzeigen. Niemand würde ihr glauben.
Suchend sah sie sich um. Weit im Osten - dort, wo die Sonne aufging - war ein Wald, hinter dem nichts zu erkennen war. Links und hinter ihr war das Wirrwarr, durch das sie die ganze Nacht gewandert war. Und rechts war eine weite Ebene. Das einzige Haus, das sie sehen konnte, hatte ein kaputtes Dach. Es war vermutlich verlassen, dort konnte sie keine Hilfe bekommen.
Trotzdem war das die einzige Richtung, in die sie gehen konnte. Sie hatte keine Lust, noch einmal durch einen Wald zu laufen. Auf der Ebene hatte es sicher irgendwann eine Strasse, auf der ab und zu einmal ein Auto fuhr. Und wenn nicht, führte sie bestimmt einmal in eine Stadt, oder zumindest in ein Dorf. Dort bekam sie Hilfe und konnte ihren Eltern - sie korrigierte sich in Gedanken, ihren Adoptiveltern - telefonieren.
Seufzend löste sie sich von der Sonne und drehte sich nach rechts. Sie war müde und hatte Hunger, aber trotzdem ging sie weiter. Was konnte sie anderes tun? Vielleicht wilde Tiere jagen und sie zum Frühstück auf einem Feuer braten?
Ihr Fuss sank auf einmal in eine Grube. Sie schrie erschrocken auf und versuchte, das Gleichgewicht zu halten, aber sie fiel hin. Eigentlich wollte sie sich mit den Händen aufstützen, aber sie ruderte wild mit ihnen, als habe sie das Gefühl, sie könne fliegen. Sie prallte hart auf und schlug sich den Kopf an einem Stein an.
Es wurde alles schwarz um sie herum.
Der Lieferwagen fuhr mitten in die Stadt hinein und wieder hinaus. Vielleicht fuhren sie sogar an ihrem Haus vorbei, aber genau konnte Reggie das nicht sagen. Sie sah ja nichts. Im Führerhaus konnte sie Donnie und der andere Mann wild diskutieren hören, was sie jetzt tun sollten, wie sie das Mulroney klarmachen konnten. Reggie fühlte sich schuldig, weil sie Schadenfreude darüber empfand. Jetzt erfuhren sie auch Furcht war, wenn auch in einer anderen Art.
In ihr war es still geworden. Sie war zu dem Entschluss gekommen, dass weder Mulroney noch einer von den anderen Männer und schon gar nicht Donnie ihr etwas tun würden. Alles, was sie wollten, was ihr Geld. Der Präsident oder ihr eigener Vater würden es ihm geben, weil sie nicht wissen konnten, ob der Entführer nicht vollkommen verrückt war. Sie hätten also keinen Grund, um sie zu töten. Sobald das Geld da war, war sie wieder frei. Alles, was sie dann in diesen paar Tagen gemacht hatte, waren schreckliche Ferien, sonst nichts.
Doch trotzdem spürte sie Angst in sich. Was war, wenn ihr Vater nicht bezahlen wollte? Wenn er behauptete, dass sie nicht seine Tochter sei? Würde Mulroney sie dann umbringen?
Sie wusste es nicht und das war es, was ihr Angst machte. Sie hasste es, etwas nicht zu wissen, wenn es solchen Wert hatte. Es liess sie glauben machen, dass sie irgend etwas verpasst hatte, etwas, dass wahnsinnig wichtig gewesen wäre, aber sie hatte es einfach verschlafen. Es war ein total lächerliches Gefühl, aber trotzdem war es da. Sie konnte nichts dagegen tun.
Der Transporter hielt an. Sie konnte hören, wie Türen auf und wieder zu gingen. Eine Sekunde später wurde die Hintertüre aufgerissen und der Fahrer kam herein. Er sagte kein Wort, aber an seinem Gesichtsausdruck konnte er erkennen, dass er nicht besonders glücklich war. Er löste die Handschellen von der Stange und schloss sie um ihre beiden Hände. Mehr oder weniger sanft, aber bestimmt, zog er sie aus dem Wagen und brachte sie ein Haus, von dem sie nicht mehr sah, als die Türe. Dort schob er sie durch wahnsinnig viele Gänge und Treppen hindurch, bis sie endlich zu einem Zimmer kamen, das für eine unbestimmte Zeitspanne lang ihr Zuhause sein sollte.
Eigentlich war es wunderschön. Es glich einem Hotelzimmer. Nur hatte es Gitter vor den Fenstern. Sonst hatte es alles: ein Bett, ein Badezimmer, einen Schrank, sogar ein Sofa. Auf einem kleinen Tischchen lagen ein paar Hefte, die vermutlich schon uralt waren.
Der Mann nahm die Handschellen wieder ab. Reggie rieb sich das aufgeschürfte Handgelenk. Er schloss die Tür, nachdem er hinaus gegangen war, sofort wieder zu. Sie sollte schon gar nicht auf den Gedanken kommen, fliehen zu wollen.
Das wollte sie eigentlich auch gar nicht. Lee war ja frei und würde Hilfe rufen. Allerdings wurde es jetzt schwieriger, weil sie nicht mehr in dieser alten Lagerhalle waren. Aber für etwas war die Polizei ja da. Sie konnten zu suchen anfangen, und irgend wann würden sie sie finden. Und wenn nicht, ...
Darüber wollte Reggie nicht nachdenken, denn es gab zu viele Fragen, die sie nicht beantworten könnte.
Sie liess sich auf das Sofa niederfallen und packte eines der Hefter. Es war die neueste Ausgabe einer Zeitschrift, die Sarah, ihre Mitbewohnerin, immer las. Wenn sie im Wohnzimmer herumlagen, liess sich Reggie manchmal auch dazu herab, in ihnen zu blättern und es war manchmal noch recht amüsierend.
Leicht über die verschiedenen Schlagzeilen grinsend blätterte sie durch die Seiten, bis sie einen Artikel sah, der sie sehr interessierte, vor allem wegen der Situation, in der sie sich gerade befand.
Der Kopf tat ihr weh und ihr war schlecht. Sie wusste nicht mehr, was passiert war. Alles war irgendwie verschwommen und wenn sie danach zu greifen versuchte, verschwand es.
Stöhnend öffnete sie die Augen. Die Sonne schien ihr direkt von oben herab ins Gesicht. Sie kniff sie leicht zusammen und versuchte, etwas zu erkennen. Sie musste auf einer Wiese im Gras liegen. In ihrem Mund war Dreck und Erde.
Um sie herum war nichts als die Wiese. Weit weg war ein kleines Haus.
Mit wahnsinnigen Kopfschmerzen richtete sie sich auf und tastete nach der Stelle an ihrem Kopf, wo es am meisten weh tat. Ihre ganzen Haare waren verklebt und als sie ihre Finger ansah, waren sie rot.
Sie konnte sich nicht daran erinnern, sich den Kopf angeschlagen zu haben. Was war bloss passiert? Sie konnte sich an überhaupt nichts mehr erinnern.
Als sie sich ganz aufrichten wollte, sackte sie vor Schmerz wieder ein. Ihr Fuss tat höllisch weh. Vorsichtig öffnete sie die Schuhe. Der Knöchel war geschwollen. Sie musste sich ihn verstaucht haben. Wann war das gewesen?
Behutsam zog sie den anderen Schuh auch aus, doch dieser Fuss war vollkommen in Ordnung. Sie stand von neuem auf und hinkte ein paar Schritte vorwärts. Es tat weh, aber sie konnte es ertragen. Aber was war vorwärts? Wo hatte sie hingewollt? Von wo war sie gekommen?
Sie drehte sich einmal um ihre eigene Achse, aber nichts - überhaupt nichts - kam ihr bekannt vor. Wohin sollte sie also gehen? Kurz entschlossen entschied sie sich für die Richtung, in der der Wald lag. Dort hatte es bestimmt irgendwo ein Bach, wo sie ihren Fuss kühlen konnte.
Humpelnd ging sie vorwärts und biss sich dabei fest auf die Lippen. Der Knöchel tat ihr weh, aber hier kam kein Mensch vorbei. Sie war auf sich alleine gestellt und musste sehen, wie sie klar kam. Am liebsten wäre sie einfach sitzengeblieben und hätte gewartet, bis irgend jemand kam, aber soviel Glück hatte sie wohl nicht. Es könnte Tage, wenn nicht Wochen, dauern, bis sich jemand in die Einöde verirrte, die dieses Land darstellte. Und da sie mit einem verstauchten Knöchel nicht weit kam, musste sie dafür sorgen, dass er schnell wieder in Ordnung kam. Ausserdem wollte sie sich das Blut vom Kopf waschen.
Reggie betrachtete aufmerksam das Bild in der Zeitschrift. Es stellte Skeet McGowan, ihren Vater, dar. Er grinste schelmisch in die Kamera und schien Reggie direkt anzusehen. Seine Augen hatten dieselbe Farbe wie die ihren, nämlich dunkelblau. Bis jetzt war ihr das nicht aufgefallen, aber jetzt entdeckte sie gewisse Ähnlichkeiten zu ihm. Er hatte zum Beispiel auch dieselbe Nase wie sie. Warum war ihr das nicht schon früher aufgefallen. Wenn man es genau betrachtete, war die Ähnlichkeit wirklich nicht zu übersehen. Oft genug hatte sie ihn ja schon betrachtet.
Als Schlagzeile unter dem grossen Foto war geschrieben: „Nur Freunde?“ Neben seinem Gesicht war ein Photo von ihm und einer Frau abgebildet. Er hatte den Arm und ihre Hüfte geschlungen.
„Vor Jahren hatten die beiden eine Beziehung, doch sie fanden, dass sie nicht füreinander geschaffen waren. Wollen sie es nun doch noch einmal versuchen? Skeet meinte zu dieser Fragen, dass sie nur gute Freunde seien. Stimmt das, oder meinte er sehr gute Freunde?“ stand als Einleitung des Textes.
Verwirrt suchte Reggie nach dem Namen dieser Frau. Konnte es sein, dass es ihre Mutter war? Wollten sie sich ausgerechnet jetzt, nachdem ihre Tochter erfahren hatte, wer sie ist, wieder zusammenkommen? Das wäre ja wie ein Wink des Schicksals, doch irgendwie fast unmöglich.
Doch es war wahr. Der Name der Frau war Jamie Campbell, ihre richtige Mutter. Sie war wieder mit dem Mann zusammen, mit dem sie ein Kind hatte.
Reggie weinte fast vor Freude. Sobald sie hier raus war, konnte sie ihre richtigen Eltern kennenlernen, die vielleicht sogar heiraten würden. Dann wären sie wie eine richtige Familie.
Plötzlich warf sie die Zeitschrift zur Seite und presste die Hände auf den Mund. Es gab immer noch diese Frage, was war, wenn er sie nicht wollte? Wenn sie beide sie nicht wollten? Natürlich, Reggie könnte auch ohne sie leben, aber vielleicht stritten sie ja sogar ab, dass sie ihre Tochter sei. Könnte sie auch mit dem leben?
Nur langsam beruhigte sie sich von diesem Anfall wieder. Sie hätte sich jetzt am liebsten an Lees Schulter gelegt, aber Lee war nicht da. Reggie war ganz allein in diesem Raum. Niemand war da, an dessen Schulter sie sich ausweinen könnte. Das Alleinsein war für einen geselligen Menschen wie Reggie nur schwer zu ertragen. Und in einer Situation wie dieser wäre sie sogar lieber mit Mulroney selbst zusammen, als alleine zu sein.
Trotz allem wurde von ihrer Müdigkeit übermannt. Sie war seit mehr als einem Tag wach und langsam wurde sie einfach zu müde. Mit zögernden Schritten ging sie zu dem Bett, das in der Ecke stand. Es war weich und das Bettzeug roch angenehm. Sie zog ihre Schuhe aus und legte sich mit allen Kleidern am Körpern in das Bett hinein.
Kurze Zeit später war sie eingeschlafen.
Das Wasser des kleinen Bächleins war bitterkalt, aber sauber. Für ihren schmerzenden Fuss war es das beste, was sie haben konnte. Schaudernd steckte sie ihren ganzen Kopf in das Wasser und wusch sich das Blut aus den verklebten Haaren. Sie fror danach ganz erbärmlich, aber die Sonne trocknete ihre Haare rasch wieder.
In ihrem Kopf schwirrten Gedanken umher, die sie nicht kannte, zum Beispiel, dass sie unbedingt zum Präsident musste. Warum in Gottes Namen musste sie zum Präsidenten? Es kam ihr so blöd vor, dass sie den Gedanken verdrängen wollte, aber im Unterbewusstsein spürte, dass es wichtig war, wenn sie mit ihm reden konnte.
Sie zog das Hemd aus und wickelte es sich um die Hüften. Es würde ein heisser Tag werden und es war noch ein weiter weg bis zum Weissen Haus, wenn man kein Geld für ein Taxi hatte.
Stöhnend richtete sie sich mit ihrem schmerzenden Kopf auf und versuchte sich von neuem zu orientieren. Vielleicht konnte sie per Anhalter zumindest in die Stadt hinein fahren. Aber konnte sie sicher sein, dass sie in Washington D.C. war? Was war, wenn sie irgendwo in Seattle oder gar in Los Angeles war, oder sonst irgendwo?
Sie suchte in ihren Erinnerungen, aber dort war nichts. Überhaupt nichts. Sie konnte sich nicht erinnern, wie sie hierher gekommen war und was sie hier hatte machen wollen. Sie wusste nicht einmal mehr, wie sie hiess.
Als Donnie leise die Tür öffnete, blieb er stehen und beobachtete Reggie, wie sie ruhig schlief. Ihr Gesicht war friedlich, und sie schien sich nach langen endlich beruhigt zu haben. Sie hatte eine Ecke der Decke nahe an ihrem Kopf und schien zu glauben, dass es ein Schlaftierchen war. Ihre Finger hielten sie fest.
Lächelnd stellte er das Tablett mit dem Morgenessen auf den Tisch. Er trat nahe an das Bett heran und kniete neben ihm nieder. Vorsichtig strich er ein paar lockige Strähnen aus Reggies Gesicht. Er konnte sehen, dass es war nicht perfekt, ganz und gar nicht, aber auf seine eigene Art und Weise war es wunderschön. Es hatte eine Ausstrahlung, die manch wirklich gutaussehende Frauen nicht hatten und bei denen man sehen konnte, dass irgend etwas fehlte. Die Gesichter von diesen Menschen und Reggies Ausstrahlung zusammen würde die perfekte Frau geben.
Zögernd streifte er ihre Wangen. Reggie bewegte sich und drehte sich auf die andere Seite, aber sie war nicht aufgewacht. Donnie stand wieder auf und musterte sie noch einen Moment lang. Es tat ihm leid, dass sie das durchmachen musste. Aber es war nicht seine Idee gewesen, er war nur angeheuert worden. Er wurde gut für diesen Job bezahlt.
Dann ging er zum Fenster, zog die Vorhänge zur Seite und öffnete das Fenster. Frische Morgenluft strich herein und würde Reggie bald wecken.
Mit leerem Magen und einem schmerzenden Knöchel humpelte die junge Frau, die nicht mehr wusste, wer sie war, über das Feld. Immer wieder musste sie stehenbleiben und ihren Fuss einen Moment entlasten. Weit vor sich hatte sie einen Streifen Grau erblickt, der eine Strasse darstellen konnte. Sie hielt geradewegs darauf zu.
Während sie so ging, versuchte sie sich zu erinnern, was geschehen war, wie sie hiess, was sie hier tat. Doch keine von diesen Fragen konnte sie beantworten. Sie konnte sich einfach an nichts mehr erinnern. Sie war wie ein Kind, das gerade geboren worden war. Sie konnte schreien und strampeln, aber sie wusste nicht, wer sie war. Es war einfach nichts da.
Ihr war klar, dass sie sich etwas einfallen lassen musste, wenn sie zum Weissen Haus kommen wollte. Sie musste sich eine neue Identität zulegen, irgendeinen Namen, bis sie wieder wusste, wer sie in Wirklichkeit war. Irgendwo musste sie ein bisschen Geld auftreiben, aber sie wusste nicht, wie. Wo sollte sie hier Geld finden?
Sie kam der Strasse immer näher, aber bis jetzt hatte sie noch kein Auto auch nur aus der Ferne gesehen. Vielleicht kamen hier so gut wie nie Autos vorbei. Konnte doch sein. Dann wäre sie ganz schön aufgeschmissen.
Mit schmerzendem Fuss setzte sie sich auf den heissen Teer. Sie war verschwitzt, aber trotzdem bekam sie immer wieder einen Schüttelfrost. Mit dem Hemd über den Kopf, um wenigstens keinen Sonnenstich zu kriegen, sass sie da und massierte leicht ihren Knöchel. Er war wieder angeschwollen und in ihm schien ein zweites Herz zu pochen.
Nach einer Weile streckte sie beide Füsse von sich und legte sich in Wiese. Dort war der Boden kühler.
Sie war wütend auf sich selbst, weil sie nicht mehr wusste, wer sie war. Es konnte zwar kaum ihre eigene Schuld sein, dass sie den Kopf angeschlagen hatte - wie die Verletzung zeigte - aber trotzdem nervte es sie ziemlich. Sie war hier mitten in der Wildnis und hatte keine Ahnung, wo sie war. Vielleicht gab es irgendwo jemanden, den sie zurückgelassen hatte, um Hilfe zu holen. Wer konnte schon wissen, warum sie alleine hier war?
Ein Geräusch näherte sich. Sie sprang sofort auf und stellte sich an den Strassenrand. Es war ein grosser Lastwagen, der sich näherte. Sie hielt den Daumen hoch. Der Fahrer ging auf die Bremsen und kam kurz neben ihr zum Stehen.
Sie lächelte dankbar und stieg in die Fahrerkabine hinauf.
„Vielen Dank, dass Sie mich mitnehmen“, sagte sie zu dem Fahrer.
Er war vielleicht fünfzig und hatte schon fast graue Haare. Sein dichter Bart verbarg sein Gesicht fast ganz. Die kleine Augen wirkten freundlich.
„Ich muss mich bedanken. Ich fahre nicht gerne alleine, wissen Sie. Ich freue mich immer über Gesellschaft. Es ist so langweilig, einfach nur zu fahren.“
Er lächelte freundlich.
„Also, wo wollen Sie denn hin? Ich nehme an nach New York. Haben Sie gewusst, dass der Präsident in zwei Tagen dorthin kommen will? Er will irgendeine Stiftung besuchen. Hab’s vorhin gerade im Radio gehört. Das gibt sicher ein wahnsinniger Ansturm der Presse.“
Erfreut ging ein Lächeln über ihre Lippen. Der Präsident kam dorthin, wo sie hin konnte. Was für ein glücklicher Zufall. Besser hätte sie es gar nicht treffen können.
„Sie sehen ein wenig verhungert aus. Hier, nehmen Sie das Sandwich. Ich hab zwar schon einen Bissen davon genommen, aber ich hab’s nicht vergiftet, versprochen. Nehmen Sie’s ruhig, ich hab noch mehr.“
Dankbar biss sie hinein. Ihr Magen beruhigte sich wieder ein wenig, nachdem sie es hinuntergeschlungen hatte.
„Was haben Sie hier draussen gemacht? Hier gibt es doch weit und breit nichts, oder täusche ich mich? Ich war noch nie hier, aber es sieht ganz danach aus.“
Schnell musste sie sich überlegen, was passiert war. Sie musste etwas erfinden, das einigermassen glaubwürdig war.
„Mein Onkel hat hier draussen eine Ranch. Ich habe ihn besucht und als ich wieder zurück nach Hause fahren wollte, ist mir das Auto stehengeblieben. Ich hatte wirklich Glück, dass Sie vorbeigekommen sind, sonst hätte ich wieder zurück zur Ranch gehen müssen.“
Er nickte. Vorsichtig musterte sie ihn und versuchte herauszufinden, ob er ihr glaubte. Er schien nicht der Mensch zu sein, der jemanden verurteilte, aber auch nicht jemand, der einfach alles glaubte, was ihm erzählt wurde. Er sagte nichts zu ihrer Geschichte.
„Wie heissen Sie, Mädchen?“ fragte er nach einer Weile schweigend.
Schon hatte sie gehofft, er würde nicht fragen, aber er tat es doch. Wie sollte sie sich nur nennen? Es gab so viele Namen, aber trotzdem fiel ihr keiner ein.
„Lilly“, sagte sie nach einem kurzen Zögern, „Und was ist Ihr Name?“ Sie versuchte ihn von der Tatsache abzulenken, dass sie ihn vollkommen anlog, obwohl sie eigentlich nichts dafür konnte. Sie wusste ja selber die Wahrheit nicht.
„Nennen Sie mich Jack“, antwortete Jack.
Er warf ihr einen freundlichen Blick zu. „Schauen Sie mal unter Ihren Stuhl, Lilly. Dort hat es einen Verbandskasten. Sie können damit sich Ihren Fuss einbinden.“
Erschrocken starrte sie ihn an und versuchte herauszufinden, wie er das bemerkt hatte. Sie war doch eigentlich kein Schritt gegangen. Er konnte nicht gesehen haben, wie sie ging.
„Ein bisschen Desinfizierungsmittel für Ihre Kopfwunde wäre sicher auch nicht schlecht“, sagte er, als sie sich gebeugt hatte, um unter ihren Sitz zu schauen.
Wieder erstarrte sie einen Augenblick, versuchte sich aber nichts anmerken zu lassen. Er war wirklich so ein Typ, der nicht im Voraus urteilte, aber trotzdem alles bemerkte. Seine flinken kleine Augen erfassten alles sofort.
Sie öffnete das weisse Kästchen und suchte eine der Salben aus, die sie auf ihre Wunde strich. Es brannte fürchterlich, aber sie biss die Lippen zusammen und wartete, bis es aufhörte. Dann zog sie sich den Schuh aus und verband sich ihren Knöchel. Es schmerzte noch immer, aber irgendwie besserte es gleich, nachdem sie ihn verbunden hatte und es war nur noch ein leichtes Surren.
„Geht’s jetzt besser?“
Sie nickte leicht. „Ja, danke.“
Er lächelte. „Schon in Ordnung. Mögen Sie noch ein Sandwich? Es hat noch welche. Sie können gern noch haben. Es hat sogar noch etwas zu trinken, glaube ich. Schauen Sie mal hinter meinen Sitz. Dort müsste es noch haben.“
Sie drehte sich um und sah hinter den Sitz. Tatsächlich, dort hatte es noch jede Menge Sandwiches, Schokolade, die aber ziemlich geschmolzen war, Wasser und auch Cola. Alles war warm, aber etwas zu trinken war etwas zu trinken.
Sie nahm sich eine Cola-Dose. „Wollen Sie auch gerade etwas?“ fragte sie Jack, aber dieser schüttelte den Kopf.
Sie setzte sich wieder auf ihren Sitz zurück und öffnete die Dose. Es spritzte leicht, aber es überlief nicht. Sie nahm einen grossen Schluck und fühlte, wie ihr Durst langsam aufhörte.
Fröstelnd zog sich Reggie die Decke über die Schultern und drehte sich auf die andere Seite. Sie wollte weiter schlafen, aber es war wahnsinnig kalt geworden. Verschlafen sah sie sich um und erst jetzt wurde sie sich bewusst, wo sie war. Da war sie auf einmal hellwach. Sie war noch immer eine Gefangene. Lee hatte abhauen können, aber sie war noch immer hier.
Sie setzte sich auf und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Auf dem Tisch stand frischer Kaffee und Brötchen mit Marmelade. Sie sah sich noch einmal um, um sicher zu sein, dass niemand hier war. Dabei entdeckte sie, dass das Fenster offen war und die frische Morgenluft hineinliess.
Schnell stand sie auf und schloss das Fenster, kroch aber danach wieder unter die Decke. Obwohl es eigentlich fast Sommer war, war es doch am Morgen noch bitterkalt, gegen Mittag wurde es dann aber heiss.
Sie war nicht mehr müde, aber ausgeschlafen war sie auch noch lange nicht. Irgendein Traum hatte sie gestört. Er war schaurig gewesen, aber sie wusste nicht mehr, um was es gegangen war. Vermutlich um diese Entführung.
Zögernd stand sie auf und setzte sich auf einen Stuhl an den Tisch, die Beine jedoch eng an den Körper gezogen. Sie nahm einen Schluck Kaffee. Er war schwarz, genau das richtige für diese Situation. Dazu wärmte er sie. Während sie das Brötchen ass, ging sie ein bisschen umher und versuchte, ihre Muskeln zu lockern.
„Gut geschlafen?“ fragte da Mulroney von der Tür her und lächelt freundlich. Er schien seinen Schlaf bekommen zu haben und war jetzt frisch ausgeruht.
Reggie zuckte mit den Schultern. „Ich habe schon besser geschlafen“, antwortete sie leise und setzte sich wieder an den Tisch.
Mulroney schloss die Tür hinter sich und nahm ebenfalls Platz. Er musterte sie kurz und kam dann auf den Punkt.
„Die Zeitungen von heute morgen berichten von dieser Entführung. Ich denke, in einer Stunde werden wir uns beim Präsidenten melden und das Lösegeld fordern.“
„Was ist mit Lee?“ fragte Reggie sofort. Vielleicht hatten sie unterdessen die Suche fortgeführt und hatten sie in einem anderen Zimmer untergebracht.
„Leider haben wir sie nicht wiedergefunden. Sie ist uns entwischt, dummerweise. Aber Sie alleine haben auch immer noch einen gewissen Wert“, meinte er und sprach dabei, als wäre er irgendein teures Auto, das geklaut wurde und nun für einen noch teureren Preis verkauft wurde.
„Aber mit Lee wäre es besser gewesen, habe ich Recht?“
„Natürlich. Lee ist die Tochter des Präsidenten. Aber Sie sind die Tochter von Skeet McGowan, das ist auch nicht wenig. Sobald wir den Präsidenten informiert haben, wird dieser McGowan anrufen und ihm alles erzählen. Danach werden wir die Bedingungen und den Übergangsort bestimmen.“
Es klang alles so einfach, dabei war es das ganz und gar nicht. Mulroney verlangte von ihrem Vater für eine Tochter zu bezahlen, die er eigentlich nie gehabt hatte. Trotzdem war er sicher, dass er das Geld bekam. Es kam ihm einfach nicht in den Sinn zu glauben, dass jemand seine Forderungen nicht erfüllen könnte.
Reggie musterte ihn leicht. Wenn seine Forderungen wirklich nicht erfüllt wurden, was passierte dann? Würde er sie tatsächlich umbringen? Oder war das nur so eine Art, die er überall auftrug, damit man ihn wirklich ernst nahm? Sie wusste es nicht.
„Ich werde Sie dann gegen Mittag abholen, damit Sie mit dem Präsidenten reden können. Er muss überzeugt werden, dass Sie auch wirklich noch leben“, sagte er grinsend und stand wieder auf.
Reggie nickte leicht und folgte ihm mit den Augen bis zur Tür. Sie dachte nicht an Flucht, sie dachte an Lee. Ging es ihr gut? Hatte sie sich an die Polizei gewendet? Suchten sie sie schon? Oder wurde Lee nicht ernst genommen? Aber die Zeitungen berichteten doch schon davon. Sie musste einfach ernst genommen werden.
Mulroney nickte ihr zu und verschloss die Tür. Jetzt war sie wieder allein und musste sich mit Gedanken quälen, die sie nicht haben wollte.
Jack bot Lilly an, bei ihm zu bleiben, bis der Präsident in New York ankam. Vermutlich glaubte er, dass sie süchtig oder so war, und gab ihr darum kein Geld. Statt dessen durfte sie bei ihm bleiben, da hatte er unter Kontrolle, was sie mit seinem Geld anstellte.
Dankbar nahm sie an und versuchte nicht, seinen Irrtum aufzuklären. Solange er dachte, sie sei süchtig, versuchte er ihr zu helfen.
Am Mittag kamen sie dort an, was er hin musste. Jacks Chef war genauso ein Typ wie Jack selber und hatte sofort Mitleid mit einem Mädchen ohne Geld. Er bot ihr an, einen Tag für ihn zu arbeiten, für einen guten Lohn. Dankbar nahm sie natürlich sofort an.
Jack nahm sie mit zu sich nach Hause. Seine Frau, Grace, nahm sie freundlich auf. Sie schien es gewohnt zu sein, heimatlose junge Menschen aufzunehmen. Vermutlich brachte Jack öfter Anhalter mit nach Hause und liess sie über Nacht bei sich schlafen.
Grace fütterte sie zuerst einmal, bis sie nicht mehr essen konnte. Sie schlang alles so hinunter, dass ihr fast schlecht wurde, aber es war ein gutes Gefühl, wieder einmal den Magen voll zu haben. Danach liess ihr Grace ein Bad ein.
Lilly wusste nicht mehr, wann sie zum letzten Mal gebadet oder geduscht hatte, aber sie fühlte sich, als wären es mindestens zehn Jahre gewesen. Sie blieb so lange im Wasser, bis es kalt wurde.
„Komm, Lilly, ich zeige dir dein Zimmer. Du kannst dich ein wenig ausruhen, wenn du willst. Ich wecke dich dann rechtzeitig zum Nachtessen“, meinte Grace, als sie aus dem Bad heraus kam.
Sie folgte ihr. Das Zimmer war so gross, als ob es nicht nur ein Gästezimmer wäre. Es hatte ein riesiges Bett und einen noch grösseren Schrank. Das ganze war ein wenig altmodisch eingerichtet, aber es war angenehm.
„Wenn du mir deine Kleider gibst, werde ich sie dir waschen. Es hat im Schrank ein paar Pyjamas, die dir vielleicht passen.“
Lilly lächelte dankbar und zog eines der Pyjamas aus dem Schrank und gab ihre Kleider an Grace weiter. Sie ging hinaus und schloss die Tür hinter sich. Lilly legte sich auf das Bett und kuschelte sich in die Decke.
Fast sofort schlief sie ein.
Donnie nickte einem seiner Männer zu und dieser gab die Telefonnummer in das Handy ein. Dann tippte er auf seinem Laptop umher, damit man ihre Position nicht feststellen konnte. Donnie nahm das Telefon ruhig in die Hand und sah auf einen Punkt an der Wand. Nach dem zweiten Mal Läuten nahm Mulroney ab und spielte das Spiel gut.
„Geben Sie mir den Präsidenten“, verlangte Donnie und grinste dabei leicht. Wenn er mit Mulroney verhandeln könnte, wäre es um einiges leichter. Aber Mulroneys Rat war dem Präsidenten viel wert, also dürfte es trotzdem kein allzu grosses Problem sein, das Geld zu bekommen.
„Hier ist President Leard“, sagte eine tiefe Stimme, die ziemlich gefasst war.
„Ich verlange fünf Millionen amerikanische Dollar für Skeet McGowans Tochter“, sagte er sofort.
Der Präsident antwortete: „Skeet McGowan hat gar keine Tochter, Mister.“
Donnie lächelte leicht. Damit hatte er gerechnet. „Sie haben ja auch keine, Mr. President, oder?“
Für eine Weile war es still und die Männer, die das Gespräch mithörten, grinsten breit und hielten ihren Daumen hoch. Das war ein harter Schlag, für jemanden, dessen Karriere von der Anzahl Schmutzfleck auf der Weste abhing. Sobald bekannt werden würde, dass der Präsident eine Tochter hatte, die er vor langer Zeit zur Adoption freigegeben hatte, würde die Presse über ihn herfallen wie eine Herde Wölfe über ein verletztes Schaf.
„Ich rufe morgen noch einmal an. Ich verlange, dass Sie das Geld bis dahin bereit haben. Es sollen unmarkierte Scheine sein, klar?“
„Das ist zu wenig Zeit. Wir können nicht fünf Millionen in einem Tag bereit machen.“
Donnie lächelte. Das hatte es schon viele Male gehört und es ging dann immer trotzdem.
„Doch, natürlich können Sie, Mr. President.“
Er hörte ein leichtes Gemurmel. Vermutlich flüsterte Mulroney seinem Präsidenten gerade zu, was er zu tun hatte.
„Ich will mit der Geisel sprechen.“
Er winkte einem der Männer zu, der sofort hinausging.
„Ich lasse sie gerade herbringen. In dieser Zeit können wir ein bisschen plaudern. Was halten Sie davon, dass ich das Vergnügen hatte, Ihre Tochter kennenzulernen, Mr. Leard? Sie ist wirklich ganz bezaubernd.“
Wieder war es am anderen Ende der Leitung eine Weile still, aber als er wieder sprach, war die Stimme gefasst. „Haben Sie sie auch in Ihrer Gewalt oder tun Sie nur so?“
Donnie lachte laut. „Ich würde nicht in meiner Gewalt sagen. Die beiden jungen Damen hatten es sehr angenehm gehabt. Allerdings muss ich zugegeben, dass Ihre Tochter abgehauen ist. Sonst wäre meine Forderung bei zehn Millionen gelegen.“
„Sie ist abgehauen?“ fragte der Präsident erstaunt und vergass einen Moment fast, dass er mit einem Entführer sprach.
„Ja, sie ist wahnsinnig schnell. Meine Männer haben sie leider nicht mehr gefunden.“
Der Mann kam Reggie herein. Donnie gab ihr den Hörer in die Hand und versuchte, nicht allzu freundlich zu sein. Sie war seine Geisel.
„Hallo?“ sagte Reggie mit fester Stimme.
„Regina? Geht es Ihnen gut? Hier ist John Leard. Hat man Ihnen etwas getan?“
„Nein, mir geht es gut. Sie haben mir nichts getan. Werden Sie das Geld bezahlen? Haben Sie ... meinen Vater informiert?“ fragte sie.
Der Präsident nickte. „Wir werden tun, was wir können. Aber Ihren Vater haben wir schon informiert. Darf ich Ihnen eine Frage stellen, Regina?“
Reggie konnte sie gut vorstellen, was das für eine Frage war. „Ja, ich kenne Ihre Tochter und sie ist abgehauen. Wir sind zusammen abgehauen, aber mich haben sie wieder geschnappt. Hat sich Lee schon gemeldet? Wissen Sie, ob es ihr gut geht?“
Dem Präsidenten fiel es schwer, von ‚seiner‘ Tochter zu sprechen. „Bis jetzt haben wir nichts von ihr gehört. Wir haben angenommen, Sie sei immer noch mit Ihnen zusammen.“
Donnie gab ihr ein Zeichen, dass sie ihm das Telefon wieder zurückgeben solle und sagte mit klarer Stimme. „Genug geplaudert. Ich melde mich morgen wieder. Sorgen Sie dafür, dass Sie das Geld haben!“
Er drückte auf den Kopf und lächelte Reggie jetzt leicht an. „Sie sind erstaunlich tapfer. Immerhin könnten Sie jetzt dann bald sterben.“
Reggie zuckte leicht mit den Schultern. „Wenn Sie mich töten, bekommen Sie kein Geld. So einfach ist das. Es gibt keinen Grund, mich zu töten.“
Donnie lachte wieder. „Man kann es natürlich von dieser Seite her betrachten.“
Er führte sie zu ihrem Zimmer zurück. Reggie setzte sich auf das Sofa und sah ihn ruhig an. Sie sah in ihm nicht der Mann, der ihr das vielleicht schrecklichste Erlebnis in ihrem Leben einbrachte. Er war zu freundlich dafür und es schien ihm wirklich etwas daran zu liegen, dass sie sich so wohl wie möglich fühlte.
„Würden Sie mich umbringen, wenn der Präsident oder mein Vater nicht zahlen will?“ fragte sie zögernd.
Er sah sie kurz an und sie fühlte, dass sie einen wunden Punkt getroffen hatte. Darüber machte er sich selbst immer Gedanken und bis jetzt hatte er noch keine Antwort gefunden.
„Ich weiss es nicht“, antwortete er leise und setzte sich in das Sofa vor sich, „Ich bin nicht der Typ dafür, der einfach jemanden umbringt, aber ich muss zugeben, ich habe schon sehr viele umgebracht, einfach weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren.“
Das, was er sagte, beruhigte Reggie. Sie hatte nicht damit gerechnet, auf jemanden zu treffen, dem nicht vollkommen egal war, was mit ihr geschah. Wenn der Präsident jetzt also nicht zahlen wollte, würde Donnie vielleicht ein gutes Wort für sie einlegen, damit sie nicht getötet wurde.
Sie schenkte ihm ein Lächeln und er lächelte zurück. „Der Präsident wird zahlen, machen Sie sich keine Sorgen. Er kann keinen Bürger der Staaten einfach umbringen lassen, wenn er die Chance hat, ihn zu retten.“
Er stand wieder auf und ging mit einem Nicken hinaus. Reggie blieb einen Moment sitzen und sah aus dem Fenster. Es war wieder ein wunderschöner Tag, den sie unter anderen Umständen mit Lee am Strand verbracht hätte.
Der Präsident wusste, dass Lee seine Tochter war. Er hatte sie vermutlich immer beobachten lassen und war über sie informiert. Hatte Skeet McGowan das auch gemacht? Wusste er, dass seine Tochter Reggie hiess? Wusste er überhaupt, dass er eine Tochter hatte?
Sie nahm eine der Zeitschriften, die sie noch nicht gelesen hatte. In allen war irgend etwas von Skeet McGowan oder dem Präsidenten drin. Wenn das keine Absicht war. Sie las die Berichte, aber es stand nichts neues.
Nach einer Weile kam Donnie mit einer Zeitung in der Hand zurück. „Ich dachte, es würde Sie interessieren, was so über diese Entführung geschrieben wird“, sagte er und zeigte auf die Titelseite, die ganz mit dieser Geschichte beschrieben.
Sie dankte ihm und begann zu lesen. Es war wirklich interessant zu sehen, wie ein Aussenstehender die ganze Sache sah. Der Schreiber fragte sich vor allem, warum ausgerechnet zwei College - Mädchen entführt wurden, die weder besonders reiche Eltern hatten noch sonst irgendwelche Persönlichkeiten waren.
Die wussten noch nicht, was für Persönlichkeiten entführt wurden, dachte Reggie. Die hatten keine Ahnung, wer sie oder Lee waren.
Belustigt legte sie den Artikel zur Seite. Eigentlich war sie hier ganz glücklich. Sie glaubte nicht, dass Donnie sie umbringen oder es befehlen würde. Eigentlich konnte ihr hier überhaupt nichts passieren. Sie konnte nur die freien Schulstunden geniessen und sich zurücklehnen.
Als Lilly am nächsten Morgen von Grace geweckt wurde, war sie erstaunt, wie müde sie gewesen war. Grace meinte, sie hätte sie schlafen lassen und nicht zum Nachtessen geweckt, weil sie so erschöpft gewesen war. Lilly war dankbar dafür und griff beim Morgenessen kräftig zu. So viel hatte sie wohl noch niemals zum Frühstück gegessen, da war sie ziemlich sicher, auch wenn sie sich nicht daran erinnern konnte.
Jack nahm sie mit zur Arbeit, wo sie verschiedene Päckchen sortieren oder Rechnungen kontrollieren musste. Es war keine besonders anstrengende Arbeit, und dafür war sie dankbar. Obwohl sie solange geschlafen hatte, fühlte sie sich immer noch müde und zerschlagen. Ihr Fuss war unterdessen wieder ein wenig abgeschwollen, aber wenn sie zu fest auftrat, tat er immer noch weh.
Am Mittag ass sie mit Jack und seinen Arbeitskollegen in der Kantine. Die Freunde waren höflich, aber es war klar, dass sie nicht so waren wie Jack. Sie waren härter und rüpelhafter, obwohl sie sich alle Mühe gaben, das zu verbergen. Sie respektierten Jack und diejenigen, die er mitbrachte, weil Jack sie auch respektierte.
Der Tag ging wahnsinnig schnell vorbei und am Abend wollte Lilly eigentlich schon zu dem Hotel fahren, in dem der Präsident untergebracht werden sollte, aber Grace überredete sie, noch die Nacht hierzubleiben und sich noch einmal auszuschlafen. Vielleicht ahnte die gute alte Frau ja, dass sie in nächster Zeit nicht mehr so schnell zu viel Schlaf kommen würde.
Weder Jack noch Grace hatten sie gefragt, was sie vom Präsidenten wollte oder wer sie wirklich war. Sie hatten ihr überhaupt keine Fragen gestellt. Das machte Lilly ein schlechtes Gewissen, weil sie so gut zu ihr waren und sie ihnen nicht vertraute, aber sie sagte trotzdem nichts. Was hätte sie sagen sollen? Dass sie nicht mehr wusste, wer sie war?
Es würde nicht viel bringen, sie konnten ihr auch nicht helfen. Wenn der Präsident sie empfangen würde, würde sie sich wieder an alles erinnern können, da war sie ziemlich sicher.
Aber vorerst war es noch nicht soweit und es konnte noch so gut wie alles passieren. Vielleicht war sie ja auch eine Killerin, eine Mörderin, die den Präsidenten umbringen wollte. Es wäre möglich. Sie würde sich morgen aus Reflex eine Waffe von den Bodyguards stehlen - denn wer achtete schon gross auf eine junge Frau? - und würde Leard dann einfach erschiessen. Sie könnte das alles aus Reflex tun werden, obwohl sie sich an nichts erinnerte, nur weil sie eine Killermaschine war, die nicht so weit dachte, was hinterher passierte.
Es war eine ungewohnte Vorstellung, die ihr ganz und gar widerstrebte, also schloss sie aus, dass sie eine bezahlte Killerin war. Vermutlich ging sie noch in die Schule und lebte in einer behüteten Familie, die nur durch die Zeitung von den schrecklichen Dingen der Realität erfuhr.
Den ganzen Tag über war Reggie in ihrem Zimmer eingesperrt gewesen und hatte sich gelangweilt. Die Zeitschriften kannte sie schon fast auswendig und wollte nichts mehr von ihnen wissen. Sie wusste, dass der nächste Anruf beim Präsidenten erst am nächsten Morgen fällig war, aber irgendwie erwartete sie doch, dass sich irgendwer um sie kümmerte. Mulroney wollte doch hinterher keine Klagen hören.
Gegen Mittag war einmal ein Mann gekommen, der ihr etwas zu essen gebracht hatte, aber seither hatte sie keine Menschenseele mehr gesehen. Man hatte sie einfach in Ruhe gelassen.
Irgendwie war es ihr klar, warum. Donnie wäre gekommen, auf jeden Fall, wenn man ihn gelassen hätte. Aber Mulroney musste gehört haben, was er zu ihr gesagt hatte. Schliesslich hatten sie in der Ecke dort oben eine Videokamera installiert, die alles aufzeichnete, was hier geschah. Durch sie hatte Mulroney bestimmt erfahren, dass Donnie nicht bereit war, Reggie umzubringen. Darum hatte er ihm befohlen, sich von ihr fernzuhalten, um nicht zu riskieren, dass er sie vielleicht sogar befreite.
Die Vorstellung, dass Donnie sie befreien wollte, gab ihr eine gewisse Geborgenheit. Bis jetzt hatte sie nicht viel Glück bei Männern gehabt. Diejenigen in ihrem Alter kamen ihr alle so kindisch vor und wollten sowieso nur das eine, und diejenigen, die älter waren, wollten nichts von ihr wissen. Donnie war zwanzig Jahre älter als sie und trotzdem ... Sie fühlte sich zu ihm hingezogen, als ob er erst zwanzig Jahre alt wäre.
Sie wusste, dass es nicht richtig wäre, wenn sie mit ihm ein Verhältnis hätte. Er war ihr Feind, er gehörte der Seite an, die sie vielleicht umbringen würde, aber trotzdem ... Sie ahnte, dass er sie nie umbringen würde. Das könnte er nicht tun.
Mit den eigenen Argumenten versuchte sie sich zu überzeugen, dass sie ihn nur als ihren Entführer ansehen sollte, nicht als Freund oder auch nur als einen Menschen, den sie gerne mochte. Ausserdem war er viel zu alt. Er könnte ihr Vater sein, aber trotzdem ...
Trotz allem wusste sie, dass sie für ihn nicht so empfand, wie sie es eigentlich tun müsste. Eigentlich müsste sie ihn hassen, ihn fürchten oder zumindest nicht mögen, statt dessen fühlte sie sich zu ihm hingezogen. Das war doch irgendwie völlig verdreht. Eine noch nicht einmal volljährige Entführte liebte ihren in einigen Jahren fünfzigjährigen Entführer. Das gäbe bestimmt eine gute Story für jeden Reporter ab. Es würde die Geschichte des Jahres geben.
Leicht lächelnd versuchte sie sich, von diesen Gedanken zu lösen. Wenn sie sich verliebt hatte, konnte sie nichts dagegen tun. Liebe kam wann und wo sie wollte. Keiner konnte sie aufhalten. Man konnte sie nur verleugnen.
Das war es, was sie wahrscheinlich tun musste. Sie konnte doch nicht ihren Mörder lieben! Sie durfte keinem zeigen, dass sie etwas für Donnie empfand. Das würde sowohl ihr das Herz brechen als auch Donnie den Kopf kosten. Wenn er sie zu befreien versuchte, würde er ganz bestimmt getötet werden.
Sie stand auf und öffnete das Fenster. Warme Luft strömte herein und strich um ihr Gesicht. Draussen war nichts als ein riesiges Stück Land, auf dem nichts war. An ein paar Stellen war Wiese, an anderen lagen Haufen von Schutt, aber nirgendwo war ein Ort, an dem sich ein Mensch aufhielt, der ihr helfen konnte. Wenn sie ohne Donnies Hilfe hier fliehen könnte, wären sie beide gerettet. Sie würde ihn wieder vergessen und er käme nicht in Versuchung, ihr zu helfen.
Aber diese Möglichkeit musste sie ausschliessen. Wenn schon, dann musste sie aus eigener Kraft fliehen. Aber wie? Die Tür war abgeschlossen und eine Wache stand davor. Weiter den Gang hinauf waren die Quartiere der anderen Männern und den Gang hinunter war das Hauptzimmer, in dem immer ein Mann sass, um allfällige Telefonanrufe oder sonstige wichtige Dinge entgegenzunehmen und zu erledigen. Sie könnte vielleicht die Türe aufkriegen, aber der Lärm, den die Wache machen würde, weckte dann alle auf. Zu fliehen versuchen war also auch keine gute Idee, weil es nicht funktionieren würde. Dadurch würde man ihr vielleicht wieder Handschellen anlegen und sie ans Bett ketten, damit sie nicht davonlaufen konnte. Das wollte sie nicht noch einmal. Es war gestern - war es erst gestern gewesen? Ihr kam es vor wie eine Woche - sehr unangenehm gewesen an dieser Stange gefesselt gewesen war.
Ein paar Vögel flogen vorbei und kreischten dabei unaufhörlich. Sie waren frei und konnten dorthin fliegen, wohin sie wollten. Reggie musste in diesem wunderschönen Käfig bleiben und darauf warten, bis sie jemand der Katze zum Frass vorwarf. Die Katze konnte sie dann fressen oder nicht. Es kam ganz darauf an, ob der Präsident und ihr Vater das Lösegeld bezahlten.
Wenn sie nicht bezahlten, wurde sie von der Katze gefressen und nur noch ein paar Federn blieben zurück. Bezahlten sie aber das Geld, dann war sie wieder frei und konnte mit den anderen Vögeln da draussen mitfliegen.
Ohne an irgend etwas zu denken ausser an die Vögel blieb sie am Fenster stehen und sah zu, wie es immer dunkler wurde. Die Umrisse weit entfernter Häuser wurden schwarz vor einem dunkelblauen Himmel. Mit der Zeit sah man überhaupt nichts mehr ausser schwarzer Umrisse, die merkwürdige Gestalten abgaben. Reggie konnte nicht genau sagen, was sie darstellten, aber sie konnten eigentlich so gut wie alles sein. Wenn man nur genug Phantasie hatte.
Mit der Dunkelheit wurde es wieder kälter, auch wenn noch immer ein warmer Wind blies. Sie schloss das Fenster und ging in das Badezimmer. Sie hatte sich bis jetzt noch nicht geduscht. Irgendwie fühlte sie sich nicht wohl dabei. Immerhin könnte einer der Männer plötzlich herein kommen. Sie wusch sich nur das Gesicht und die Arme mit einem Tuch, um nichts ausziehen zu müssen. Ihre Haare standen in alle Himmelsrichtungen von ihrem Kopf ab und liessen sich nicht bändigen.
Seufzend ging sie ins ‚Wohnzimmer‘ zurück und legte sich ins Bett. Wenn sie schlief, verging die Zeit schneller. Dann war es schneller Morgen und sie konnte schneller mit dem Präsidenten reden, der wiederum schneller dafür sorgen konnte, dass sie befreit wurde. Wenn er es wirklich tat.
Gleich mit ihrem Aufstehen war Lilly voll wach. Sie wusste, heute würde der Tag sein, an dem sie wieder wusste, wer sie war, oder es würde nie mehr sein. Voll neuer Energie half sie Grace beim Frühstück und beim Abwasch.
Sie hatte es nicht eilig. In den Nachrichten hatten sie gesagt, dass der Präsident erst gegen elf Uhr auftauchen würde. Vorher kam er nicht aus seinem Zimmer heraus. Die vielen Reporter, die trotzdem darauf warteten, dass er sich vielleicht am Fenster zeigte, waren die ganze Nacht vor dem Hotel gestanden und hatten gewartet. Das machte Lilly klar, dass sie nicht Reporterin werden wollte. Eine ganze kalte, lange Nacht lang auf etwas zu warten, das sowieso nicht kam, schien einfach nicht zu ihr zu passen. Jedenfalls dachte sie das, soweit sie es beurteilen konnte.
Mit dem riesigen Laster hielt Jack an und liess sie aussteigen. Lilly lächelte ihn vom Boden aus an.
„Vielen Dank für alles, Jack. Sie waren wirklich sehr nett zu mir. Richten Sie Grace einen Gruss von mir aus.“
Jack lächelte. „Das mache ich. Passen Sie gut auf sich auf, Lilly. Viel Glück.“
Lilly dankte noch einmal, schloss die Türe und machte ein paar Schritte zurück. Sie winkte Jack nach, bis er hinter der nächsten Ecke verschwunden war und ging dann auf das Hotel zu. Sie fühlte sich in frisch gewaschenen Kleidern wie neugeboren und hatte nun auch wieder mehr das Gefühl, dass der Präsident sie empfangen würde.
Der Portier am Eingang der Tür liess sie durch, ohne sie nach ihrem Ausweis zu fragen. Sie sah also auch nicht aus wie eine Reporterin. Oder vielleicht war er auch nur ein wenig unachtsam. Die riesige Halle war voll mit Männern in schönen Anzügen, die einen mit einer Waffe unter dem Arm und die anderen nicht, aber im Grunde sahen sie alle gleich aus.
Zögernd ging Lilly an die Rezeption.
Die Frau dort sah beschäftigt von ihrem Computer auf und musterte sie einen Moment ziemlich abschätzig. Sie fragte, was sie wolle. Lilly zögerte kurz.
„Ich möchte mit President Leard sprechen“, sagte sie nach dem Zögern.
Die Frau lächelte. „Das wollen viele“, meinte sie und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Als Lilly aber stehenblieb, schaute sie wieder auf.
„Sie können nicht zum Präsidenten. Er will keine Besuche. Gegen Sie um ein Uhr zur Pressekonferenz.“
Aber Lilly wollte nicht zur Pressekonferenz gehen, sondern jetzt mit ihm reden. Sie ging zögernd von der Rezeption weg und sah sich um. Mehrere Türen grenzten von der Eingangshalle ab. Allerdings sahen sie ziemlich verschlossen aus, vor allem diejenigen, vor denen ein Mann im Anzug stand.
Mit entschlossenen Schritten entschied sie sich für die Toilette. Sie stiess die Tür auf und hoffte, dass niemand anderer gerade drin war. Sie hatte Glück. Sie stiess das kleine Fensterchen auf und kletterte hinaus. Es war fast zu eng für sie, aber sie kam knapp durch. Der Hof, in den sie jetzt kam, war ein Vorraum für die Küche. Es roch ziemlich schrecklich nach verfaulten Lebensmitteln.
Ohne darauf zu achten schlich sie der Wand entlang zu der Tür der Küche. Es herrschte reger Betrieb. Die Mittagszeit begann bald. Lilly schlich sich hinein und packte einen der dreckigen Schösse, die an der Wand hingen. Dann ging sie durch die ganze Küche hindurch, vorbei an allen Köchen und Kellnern, bis in einen Gang hinaus. Niemand hielt sie auf oder sprach sie an. Alle waren zu sehr damit beschäftigt, das Essen für die noble Gesellschaft fertigzustellen.
Sie zog die Schoss wieder aus und ging den Flur entlang. Sie hatte keine Ahnung, in welchen Stock der Präsident seine Suite hatte, also musste sie ihn suchen. Dort, wo es am meisten Bodyguards hatte, würde er wahrscheinlich sein. Leise ging sie die Stufen der Feuertreppe hinauf und spähte durch die Tür. Sie konnte niemand sehen, also stieg sie weiter hinauf.
Das Hotel hatte fünfzehn Stöcke, es würde eine Weile dauern, bis sie alle abgesucht hatte. Sie schaute die Treppe hinauf und seufzte leise. Sie brach hier sozusagen ein und wollte zum Präsidenten, ohne Grund, nur wegen einem Gefühl. Sie würde nie an den Bodyguards vorbeikommen.
Trotzdem ging sie weiter hinauf, bis zum fünfzehnten Stock. Sie hatte unbewusst damit gerechnet, dass es der oberste Stock war. Dort seien immer die schönsten Zimmer, hatte sie gehört. Sorgfältig öffnete sie die Tür und versuchte, keinen Lärm zu machen oder Aufmerksamkeit zu erregen. Ein paar Meter vor der Tür sass ein Bodyguard, die Augen in eine Zeitung vertieft. Weiter vorne im Flur konnte sie noch weitere erkennen. Blitzschnell versuchte sie herauszufinden, wo das Zimmer des Präsidenten war. Vermutlich gehörte der ganze Stock ihm.
Mit langsamen Bewegungen trat sie in den Gang und schloss die Tür hinter sich. Die Wache sah nicht auf. In Zeitlupentempo machte sie mehrere Schritte zur Seite, um die Tür zu erreichen, die dort war. Wenn sie nicht offen war, hatte sie ein Problem. Ein wenig verwundert schlüpfte sie dann blitzschnell in den Raum hinein. Die Wache hatte tatsächlich nicht aufgepasst. Das ziemte sich aber nicht für einen Beschützer des Präsidenten.
Sie sah sich um. Es war ein ganz normales Hotelzimmer. Vor dem Bett war ein Fernsehapparat. Die Klimaanlage surrte vor sich hin. Die Vorhänge wehten wegen den offenen Fensters hin und her. Das war typisch Hotel. Die Klimaanlage einschalten und das Fenster offenlassen.
Ihr Blick fiel auf die Tür, die gleich neben ihr war. Es konnte nicht das sein, denn das war auf der anderen Seite des Eingangs. Es musste eine Verbindungstür sein.
Ihr Herz fing an heftig zu klopfen und trieb ihr den Schweiss aus den Poren. Sie brach hier ein, in die Zimmer des Präsidenten. Das machte sie schon fast zu einem Staatsverbrecher. Sie konnte verurteilt werden.
Ihre Hände waren schweissnass, als sie die Tür öffnete. Hier schien nichts abgeschlossen zu sein. Vorsichtig spähte sie in das Zimmer hinein. Es war ein Sitzungszimmer. Mehrere Blätter lagen verstreut auf dem Tisch herum. Aber niemand war hier. Sie ging hinein. Immer nervöser werdend betrachtete sie die Blätter. Es waren Notizen von der Rede, die er heute in der Stiftung halten wollte.
Uninteressiert wandte sie sich ab und ging auf die Tür zu, die dieses Zimmer mit einem weiteren verband. In diesem Augenblick wurde die Klinke hinunter gedrückt und ein Mann kam herein. Er hatte einen schwarzen Anzug an. Seine Haare waren schon ergraut und er trug eine Brille. Vermutlich war er schon gegen die sechzig, aber eigentlich sah er noch ziemlich jung aus.
Er starrte sie zuerst erschrocken, dann erstaunt und schliesslich verwirrt an. Aber er sagte kein Wort, rief nicht nach Hilfe. Er schloss die Tür hinter sich und musterte sie von oben bis unten. Lilly konnte auch nicht sprechen, weil sie wusste, dass dies der Präsident war.
Es war der Präsident, und trotzdem konnte sie sich nicht daran erinnern, wer sie war und woher sie kam. Es war alles ein bisschen näher gerückt, aber wenn sie danach zu greifen versuchte, wich es immer aus. Sie war sich mehr denn je bewusst, dass er eine wichtige Rolle in ihrem Leben spielte, aber welche wusste sie nicht.
„Ent ... Entschuldigen Sie bitte, ich ... ich wollte zu Ihnen, ... aber die Frau hat mich ... ich meine, sie hat ... sie meinte, dass ...“ Sie brach ab.
Das, was sie wissen wollte, war so verdammt nah, und trotzdem meilenweit entfernt. Sie kam einfach nicht an es ran. Es war zum verrückt werden.
„Setzen Sie sich doch“, meinte der Präsident mit ruhiger Stimme und deutete auf einen der Stühle.
Nickend nahm sie Platz. Sie bemühte sich, die richtigen Worte zu finden, für das, was sie sagen wollte, aber das war schwierig. Sie wusste ja gar nicht, was sie sagen wollte. Sie hatte keine Ahnung, was sie eigentlich hier machte.
„Sie wollten also mit mir reden“, sagte Leard und machte ein aufforderndes Zeichen, „Bitte, ich bin hier und ich habe sogar ein bisschen Zeit.“
Lilly schluckte einmal schwer und entschloss sich, einfach einmal zu erzählen beginnen.
„Vor zwei Tagen bin ich mitten im der Wildnis aufgewacht und wusste nicht mehr, wer ich war und was ich dort tat. Ich wusste nur, dass ich unbedingt mit dem Präsidenten reden musste, dass er ... das Sie mir sagen können, wer ich bin. Zufällig habe ich erfahren, dass Sie hierher kommen. Unten an der Rezeption wollten sie mich nicht zu Ihnen lassen, also bin ich einfach hier ‚eingebrochen‘.“
Der Präsident musterte sie mit einem Ausdruck in den Augen, bei dem sie ein wenig beschämt die Augen abwandte. Es war ein Blick, als könne er tief in sie hineinsehen, als wisse er alles über sie.
„Und Sie glauben, dass ich weiss, wer Sie sind?“ fragte er nach einer Weile.
Lilly nickte nicht, aber sie schüttelte auch nicht den Kopf. Sie konnte es nicht sagen. Sie wusste es einfach nicht.
„Ich weiss nicht. Ich kann an nichts mehr erinnern. Es war so ein Gefühl, das ich habe. Ich kann es nicht beschreiben.“
Der Präsident nickte. Er hörte nicht auf, sie anzusehen. Irgendwie schien er zu überlegen, ob er ihr sagen sollte, wer sie war, oder nicht. Etwas in seinen Augen kämpfte gegeneinander.
Er ging ein paar Schritte zur Seite und sah sie dann wieder an. „Ich bin zwar der Präsident dieses Landes, aber ich kenne nicht alle Bürger, das ist Ihnen klar, oder?“
Lilly nickte und fühlte sich ein wenig verarscht. „Natürlich. Aber ich glaube nicht, dass ich einfach irgendein Bürger bin. Irgend etwas muss doch gewesen sein, dass ich mich nur an Sie erinnern kann. Das ist doch nicht ohne Grund. Ich bin mir fast zu hundert Prozent sicher, dass Sie mich kennen.“
Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen. Seine Gedanken irrten hin und her und mussten blitzschnell überlegen, was er jetzt tun sollte. Vor ihm sass eine junge Frau, die nicht mehr wusste, wer sie war. Sie glaubte wirklich, dass er ihr helfen konnte, aber vielleicht konnte er es nicht. Er könnte, ja, aber konnte er es wirklich tun?
Am nächsten Morgen wurde Reggie von einem Mann, den sie noch nie gesehen hatte, geweckt. Er sagte, dass sie jetzt dann den Präsidenten wieder anrufen würden. Verschlafen ging sie vor ihm her in das Hauptzimmer. Dort waren alle Männer versammelt - ausser Donnie.
„Wo ist Donnie?“ fragte sie den Mann hinter sich.
Dieser zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Er ist heute morgen noch nicht aufgetaucht.“
Sorgenvoll runzelte sie die Stirn. Waren ihre schlimmsten Befürchtungen schon eingetroffen? War er tatsächlich nicht mehr hier, weil er zuviel für sie empfand? War er tot oder hatte er nur verschwinden müssen?
Der Mann, der hier nun scheinbar das Kommando übernommen hatte, seufzte, während er sie ansah. Er war nicht glücklich darüber, dass er nun den Befehl hatte, aber so war es schon immer abgemacht gewesen. Wenn Donnie einmal nicht hier war, musste er die Stellung halten. Bis jetzt war es noch nie vorgekommen, dass Donnie in einer brenzligen Situation einfach nicht aufgetaucht war.
Er ging unruhig hin und her und wartete scheinbar darauf, dass Donnie doch noch kam. Er konnte sie doch nicht einfach hier allein lassen. Sie hatten keine Ahnung von Politik und Verhandlungstechniken. Das hatte bis jetzt immer nur Donnie gemacht. Sie hatten nur die Geiseln bewacht. Das war ihr Gebiet, nicht das Verhandeln mit dem Präsidenten.
Das Telefon brach die Stille, die bis jetzt nur von den unruhigen Schritten unterbrochen worden war. Der Mann fuhr herum und starrte das Telefon an. Reggie konnte sehen, dass er wirklich nervös war.
Er nahm das Telefon ab und fragte: „Hallo?“ Er lauschte einen Moment und bestätigte dann. Er hängte ohne ein weiteres Wort wieder auf.
„Das war Mulroney“, antwortete er auf die fragenden Blicke der Männer, „er sagte, wir sollen sofort ins Lager 2 wechseln und dann den Präsidenten anrufen.“
Die Männer fragten nicht, warum oder wieso, sie gehorchten einfach. Ohne zu murren fingen sie an, ihre Habseligkeiten einzupacken und die Autos bereit zu machen. Der Leiter packte Reggie am Arm und brachte sie in den grossen Lieferwagen, den sie bereits kannte. Er legte ihr Handschellen um und fuhr dann sofort los, ohne auf die anderen zu warten.
Sie fuhren nur sehr kurz, aber dafür ziemlich heftig, vor allem in den Kurven. Der Mann holte sie wieder aus dem Wagen und brachte sie in ein Zimmer, das fast genauso aussah wie das Hauptzimmer vorher. Er befahl ihr, sich auf einen Stuhl zu setzen und still zu sein.
Nach und nach kamen die restlichen Männern herein und stellten alle möglichen Geräte auf. Sie machten das in einer Routine, die Reggie vermuten liess, dass sie das nicht zum ersten Mal machten.
Sie stellten alles auf und schliesslich nickte der Leiter. Er nahm das Handy und tippte die Nummer ein. Der Mann neben ihm fing wieder an auf seinem Laptop herum zu tippen, damit der Anruf nicht nach verfolgt wurde.
Er sagte: „Ich erwarte, dass Sie das Geld haben. Ihr Sicherheitschef wird es uns heute abend übergeben, allein, ohne Ihre Männer. Um genau sieben Uhr wird er das Geld in den Abfalleimer am Central Drive werfen. Und ich warne Sie: Sie bekommen die Geisel, darauf haben Sie mein Wort, aber Sie bekommen sie erst, wenn wir das Geld haben, klar?“
Reggie hörte, wie der Präsident seufzend einstimmte. Der Leiter hängte sofort wieder auf und sah ‚seine‘ Männer an.
„Okay, machen wir uns daran, alles abzusichern. Jeder weiss, was er zu tun hat. Sobald jemand stört, bringt ihr ihn weg. Ist er ein Regierungsbeamter, blasen wir die ganze Sache ab, klar?“
Die Männer nickten und gingen hinaus. Reggie wandte dem Blick vom Leiter ab. Er war nicht Donnie. Er würde sie erschiessen, wenn er es müsste.
„Was passiert, wenn der Präsident Ihre Forderungen nicht einhält? Werden Sie mich erschiessen?“ fragte sie leise.
Der Mann musterte sie. In seinen Augen war weder Zuneigung noch Abneigung. Es war nur ein Job für ihn, ein Job wie jeder andere auch. „Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.“
Das war Reggie nicht sehr hilfreich. Soweit war sie auch schon gekommen. Aber sie fragte nicht weiter. Sie wusste nicht, wie viel Geduld dieser Mann hatte, aber er sah nach einen Kerl aus, der nicht sehr viel davon hatte.
Er brachte sie in ein Zimmer. Es war kleiner als das vorher. Es hatte keine Badezimmer mehr und auch kein Fenster. Ein schmales Bett stand in einer Ecke und ein wackliger Tisch mit drei Stühlen in der Mitte des Zimmers. Eine Lampe, die lose von der Decke hing, erhellte den Raum. Der Teppich am Boden sah ein wenig abgenutzt aus. Er hatte eine Farbe zwischen blau und grau, so genau konnte man es nicht mehr erkennen. Die Wände waren weiss, aber an einigen Stellen splitterte die Farbe schon ab. Wenn es jetzt noch nach verfaulten Wasser und toten Mäusen gerochen hätte, hätte Reggie geglaubt, sie wäre in ein tiefes Kellerloch gesperrt worden. Aber eigentlich roch es nach gar nichts.
Es war so ein Zimmer, wie Reggie es sich vorgestellt hatte. Das Hotelzimmer vorher hatte sie schon ziemlich erstaunt. Das war wohl so etwa der Standard für die Unterkunft einer Entführten. Sie versuchte es sich auf dem Bett so bequem wie möglich zu machen.
Ihre Gedanken schweiften ab, aber sie wollte nicht nachdenken. Sie zwang sich, an ihre Adoptiveltern zu denken, die bestimmt fast verrückt vor Sorge um sie waren.
Der Präsident hatte Lilly bis jetzt nicht gesagt, was sie hatte wissen wollen. Er hatte ihr ein paar Fragen gestellt, aber sonst hatte er eigentlich nichts getan.
Plötzlich ging die Tür auf und ein Mann kam herein. Er hatte ein Telefon in der Hand, blieb aber erstaunt stehen, als sein Blick auf Lilly fiel.
„Wie ist sie hier herein gekommen?“ fragte er den Präsidenten und war schon dazu bereit, seine Waffe zu ergreifen.
„Nicht, Bob, es ist alles in Ordnung.“
Lilly starte diesen Mann an, an den sie sich nicht erinnern konnte, aber wusste, dass sie ihn schon einmal gesehen hatte. Irgendwo war er ihr begegnet. Ein paar der Bilder, die ohne Gesichter und Handlung blieben, nahmen Gestalt an. Sie sah Robert Mulroney, der Sicherheitschef der USA, und sie spürte Angst und Verwirrung.
Etwas mit ihm war nicht in Ordnung. Sie konnte es nicht in Worte fassen, aber es war ein sehr starkes Gefühl. Noch stärker, als das, das sie zum Präsidenten geführt hatte. Mulroney war nicht das, was er zu sein vorgab.
„Sir“, sagte Mulroney, nachdem sie intensiv gemustert hatte, „Es ist Zeit. Die Entführer werden bald anrufen.“
Der Präsident nickte und nahm das Telefon. Er schickte Lilly nicht hinaus, obwohl das eigentlich ‚vertrauliche‘ Gespräche waren. Wenn sie mit dem, was sie hier hörte, an die Öffentlichkeit ging, würden sie von den Medien nur so zerfetzt werden.
Genau in diesem Moment läutete das Telefon in die Stille hinein. Der Präsident nahm ab und lauschte.
Mulroney hatte eine Hand ans Ohr gehoben, von wo ein dünnes Kabel in den Kragen hinein verlief. Er lauschte ebenfalls dem, was am Telefon gesagt wurde.
Nach einer Weile sah der Präsident fragend auf Mulroney. Dieser nickte, also sagte der Präsident seufzend: „Okay, wir werden uns an die Forderungen halten.“
Er drückte auf den Knopf, um das Telefon abzuschalten.
„Sie werden ein paar Leute rund um den Ort herum postieren. Geben Sie normale Kleidung. Machen Sie Penner aus Ihnen. Was immer Sie wollen. Aber ich erlaube nicht, das Sie alleine gehen.“
Mulroney lächelte leicht, war aber vom Vorschlag des Präsidenten nicht begeistert. „Sir, diese Männer sind Profis. Vermutlich haben sie den Central Drive schon seit Wochen beobachtet. Sie wissen, wer dort hin gehört und wer nicht. Es wäre viel zu gefährlich, auch nur einen einzigen Mann zu postieren.“
Lilly hörte dem Gespräch zu und fing langsam an zu verstehen. Es ging um eine Entführung und nun liefen die Verhandlungen. Der Übergabeort war abgemacht, es ging nur noch darum, ob Mulroney das Geld alleine übergeben sollte oder nicht.
Ihr war es, als wäre sie ganz tief in diese Geschichte verwickelt. Es kam ihr alles bekannt. Eine Entführung und Mulroney passten aus ihrer Sicht gut zusammen. Ihr Gefühl sagte ihr, dass sie Mulroney von einer Entführung her kannte.
In ihrem Kopf setzten sich langsam die Puzzleteile zusammen. Wenn sie ihn von einer Entführung kannte, musste sie entweder selbst kriminell sein oder einmal eine Geisel gewesen sein. Mulroney musste ein Entführer oder ebenfalls eine Geisel gewesen sein. Das passte auf ihn wie zugeschnitten. Er war ein skrupelloser Entführung, der seine hohe Stelle schamlos ausnutzte, während sie als unscheinbares Mädchen eine Entführte gewesen war. Aber warum hätte er sie entführen sollen, wenn sie so unscheinbar war?
„Entschuldigen Sie, Mr. President. Ich glaube, ich habe irgend etwas mit dieser Sache zu tun, genauso wie Mr. Mulroney, oder?“ fragte sie.
Mulroneys Gesicht erstarrte zu Eis und seine Augen starrten sie an. Sie wich seinem Blick aus und konzentrierte sich dafür auf den Präsidenten. Er war erstaunt darüber, dass sie so etwas herausgefunden hatte, obwohl sie sich an nichts erinnern. Er war aber auch verwirrt, den was meinte sie damit, dass Bob auch etwas damit zu tun habe, ausser, dass er der Sicherheitschef war?
„Ich glaube nicht, dass jetzt der richtige Zeitpunkt dazu ist, Mr. President“, sagte Mulroney. Er meinte nicht das, er wollte nur vom Thema ablenken.
Lilly spürte immer deutlicher, dass sie nur noch einen ganz, ganz kleinen Schritt davon entfernt war, sich wieder an alles zu erinnern. Der Präsident musste nur diese eine Frage beantworten, dann würde sie alles wissen.
Der Präsident zögerte einen Augenblick. Sollte er auf den Rat seines Sicherheitschef hören oder auf die flehenden Augen dieser jungen Frau? Er war hin und her gerissen, denn wenn er es sagte, musste auch er sich sehr zusammen nehmen.
Sein Blick glitt hin und her und blieb dann beim Mädchen hängen.
„Bob, holen Sie die Zeitung von gestern.“
Mulroney wollte protestieren, aber der Präsident sah ihn so an, dass er ging. Lilly starrte auf die Tür, bis er wieder hineinkam. Er brachte eine Zeitung mit.
„Sir, wenn Sie erlauben, werde ich alles vorbereiten lassen.“
Abwesend nickte der Präsident, während er Lilly aufmerksam beobachtete.
Lilly sah die Zeitung an. Auf der Titelseite war ein Bericht über diese Entführung. Auf dem einen Bild war eine junge Frau etwa in ihrem Alter, auf dem anderen war sie selbst. Es erstaunte sie nicht besonders. Aber wenn sie gestern in der Zeitung gewesen war, warum war sie dann nicht als Geisel irgendwo gefesselt und geknebelt?
Sie musterte die andere Frau und wusste, dass sie sie kannte, sehr gut kannte.
Und dann wusste sie wieder alles.
Trotz aller Mühe, die sich Reggie gegeben hatte, musste sie dann trotzdem über ihre missliche Lage nachdenken. Donnie war nicht mehr hier und nun war irgendein Mann der Chef, dem sie egal war.
In ihrer Verzweiflung war sie davon überzeugt, dass Donnie doch kommen, und sie befreite, oder das zumindest die Polizei das Gebäude stürmten. Irgend wer musste einfach kommen.
Das schlimmste an sich war eigentlich nicht die Tatsache, dass sie sterben könnte, sondern die Zeit. Sie war jetzt schon seit Stunden in diesem Zimmer eingesperrt, konnte nichts anderes tun als nachdenken und musste warten. Niemand hielt es für angebracht, ihr zu sagen, was als nächstes passieren wird. Das einzige, was sie wusste, war, dass um sieben Uhr am Abend die Übergabe stattfand, das bedeutete, dass man sie vielleicht um acht Uhr frei liess. Bis dahin mussten noch fünf endlose Stunden vergehen.
Ihr Finger trommelten nervös auf dem Tisch herum. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Ihr war sterbenslangweilig. Irgendwie war es wie verhext. Einmal verging die Zeit viel zu schnell, man würde sie am liebsten anhalten wollen, und ein anderes Mal ging sie so schleppend vorbei, dass man nicht glaubte, dass sich überhaupt etwas bewegte.
Sie stand auf und drückte die Türfalle herunter. Natürlich ging sie nicht auf. Laut klopfte sie dagegen und rief: „Kann mir nicht mal jemand etwas zum Lesen bringen?“
Sie wusste nicht, ob jemand sie hören konnte. Das änderte sich aber schnell, als ein paar Minuten später eine Zeitung durch den Spalt unter der Tür durch geschoben wurde.
Ehrlich dankbar nahm sie sie auf und setzte sich an den Tisch. Es war die Zeitung von heute. Ihre Entführung stand immer noch auf der ersten Seite, sagte aber nicht mehr viel neues aus. Man wusste in der Öffentlichkeit noch immer nicht, was der Präsident tun würde. Er hatte noch keine Erklärung abgegeben.
Sie blätterte weiter, las alles durch, aus das, was sie nicht interessierte. Sie musste Zeit schänden. Wenn sie zu schnell fertig war, wurde es ihr wieder langweilig. Sie zwang sich dazu, langsam zu lesen und immer zu überlegen, ob sie wirklich verstand, um was es eigentlich ging. Sie machte sich selbst ein wenig zum Narren, aber das war besser als diese schreckliche Langeweile.
Einige der Artikel waren aber noch ziemlich interessant. Sie hatten in der Schule von den Kriegen geredet, von denen jetzt ein paar hier Schlagzeilen machten. Als sie sie durchlas, fiel ihr auf, dass der Lehrer einen ziemlich Schwachsinn erzählt hatte. Wenn sie wieder zurückkam, würde sie ihn darauf ansprechen. Das würde ihm schon peinlich werden.
Da blieb nur noch die Frage offen, ob sie jemals wieder auf das College gehen würde. Mit einem Vater wie Skeet McGowan würde sie auf eine Privatschule gehen, oder gleich einen Privatlehrer bekommen.
Es war ja eigentlich egal, ob sie dem Lehrer seinen Fehler noch zeigen konnte oder nicht, Hauptsache war, dass sie lebend aus diesem Desaster herauskam.
Es war ein herrliches Gefühl, auf einmal wieder ein neuer Mensch zu sein. Lee wusste alles wieder. Von ihrer ersten Erinnerungen an ihrem fünften Geburtstag, als sie ihren Hund Billy bekam, bis hin zu dem Zeitpunkt, als sie den Kopf anschlug und nicht mehr wusste, wer sie war. Alles war wieder da.
Auch das mit der Entführung und dem Geheimnis, das sie erfahren hatten. Sie starrte John Leard, ihren Vater an, als hätte sie ihn noch nie in ihrem Leben gesehen. Wenn man es genau betrachtete, hatte sie ihn auch noch nie gesehen, jedenfalls nicht mit diesen Augen und diesem Wissen, das sie jetzt hatte.
Er musterte sie und eine Liebe spiegelte sich in seinen Augen wieder, die vorher auch schon da gewesen war, die sie aber nicht bemerkt hatte. Er wusste, dass sie seine Tochter war. Bestimmt hatte er sie beobachten lassen, um sicherzugehen, dass es ihr auch wirklich gut ging.
Lees Augen füllte sich mit Tränen und sie umarmte ihren Vater. Sie hatte ihn fast achtzehn Jahre lang nicht umarmen können, jetzt wurde es langsam Zeit, dass sie einmal tat. Schliesslich war er ihr leiblicher Vater.
„Es tut gut, einmal eine Tochter im Arm zu halten“; flüsterte er leise und drückte sie fest an sich.
Lee freute sich so sehr, dass sie weinte. Sie verzieh ihm, dass er sie weggeben hatte. Irgendwie verstand sie ihn. Viele Eltern gaben ihre Kinder weg, damit sie es schöner hatten. Vielleicht hatte er das auch gewollt. Wenn er sie bei sich behalten hätte, wäre sie als Tochter eines Mannes gross geworden, der keine Zeit für seine Kinder hatte. Bei ihren Ersatzeltern hatte sie immer einen Vater und eine Mutter gehabt, die beide für sie da waren, wenn sie zu ihnen gegangen wäre. Leider hatte sie das selten ausgenutzt.
„Ich hatte gewusst, dass du ein wichtiger Teil meines zukünftigen Leben wärst“, sagte Lee und löste sich langsam von ihm. Es war ziemlich ungewohnt, den Präsidenten mit ‚Du‘ anzusprechen, aber es gefiel ihr.
Dann plötzlich war ihre Freude verflogen. „Mulroney ist einer von Geiselnehmern. Er hatte Reggie noch immer in seiner Gewalt. Wir müssen sie sofort befreien.“
John starrte sie entgeistert an. „Bob? Ein Geiselnehmer? Bist du sicher, dass du nicht noch einen Schock hast?“
Sie schüttelte heftig den Kopf. „Nein, mir geht es prächtig. Er hat Reggie und mich entführen lassen, um Geld zu erpressen. Ich weiss nicht, für was er es genau einsetzen wollte. Aber er ist es gewesen. Hast du sein Gesicht nicht gesehen, als er hereingekommen ist, und mich hier sitzen sah?“
Doch, das hatte er tatsächlich gesehen und er hatte sich gewundert. Aber wie konnte Mulroney, sein engster Vertrauter, ihn hintergehen? Er war nicht nur im Beruf ein Partner, sondern auch im privaten Leben ein guter Freund. Er und seine Frau hatten oft bei ihm und Michelle gegessen. Sie hatten sich immer köstlich amüsiert. Nützte er das etwas aus? Glaubte er dadurch besser davonzukommen, wenn man ihn erwischte? Was erhoffte er sich?
John konnte seinen eigenen Freund nicht verstehen, aber er glaubte seiner Tochter. Warum sollte sie Mulroney sonst beschuldigen? Sie hätte doch gar keinen Grund, so eine arge Beschuldigung gegen ihn zu richten.
John ging zur Tür und rief Mulroney herein. Dieser fühlte sich nicht mehr so wohl in seiner Haut. Er war sich nicht sicher, ob Lee ihn erkannt hatte oder nicht. Er wusste nicht, warum sie ausgerechnet zum Präsidenten gegangen war. Durch irgend etwas musste sie das Gedächtnis verloren haben. Wieso aber war sie zu Leard gekommen, wenn sie nichts mehr wusste? Es war alles vollkommen ... unlogisch.
Lee starrte Mulroney an und jetzt wusste er, dass sie sich an ihn erinnerte und dass sie Leard alles erzählt hatte. Auch dieser starrte ihn an und zweifelte noch an ihren Worten, jedenfalls in seinem Verstand. Mit seinem Herzen hatte er schon das erste Wort von seiner Tochter geglaubt und würde ihr auch immer alles glauben.
„Was haben Sie mit dieser Verbrecherbande zu tun?“ fragte Leard direkt und sah ihn dabei eisig an. Mulroney konnte seinem Blick nicht standhalten. Er sah zwischen ihm und Lee hin und her und er wusste, seine Verteidigung konnte er vergessen.
Der einzige Weg blieb die Flucht. Er drehte sich blitzschnell und rannte aus der Tür. Leard lächelte leicht und flüsterte etwas in seinem Hemdkragen.
Gleich darauf konnten sie hören, wie Mulroney schrie, dass sie ihn loslassen solle, er befehle es ihnen. Aber er wurde nicht losgelassen. John und Lee gingen hinaus und er sah ihn wütend und verletzt an.
„Bringen Sie ihn zur Polizei und lassen Sie ihn verhören. Sorgen Sie dafür, dass er mit allem auspackt. Ich will noch heute diese Entführung beendet haben, klar?“ Der eine Mann nickte und ging mit seinen vier Kollegen und Mulroney den Gang hinunter zum Personallift.
Lee war erleichtert. Jetzt wurde bestimmt alles wieder gut. Sobald Mulroney verriet, wo Reggie jetzt war, konnten sie sie befreien. Dann war sie wieder mit Reggie zusammen und sie konnten einander erzählen, was alles passiert war. Dann würde alles wieder gut werden.
Weitere Assistenten des Präsidenten hatten sich eingefunden und fragten sich nun, was eigentlich los war. Der Präsident liess sich zu keiner Erklärung herab, weder zu einer wegen Mulroney noch zu einer wegen Lee.
„Sagen Sie die Rede heute ab. Sagen Sie als Erklärung, dass wir wichtige Fortschritte im Fall dieser Entführung haben. Und rufen Sie endlich McGowan an. Er soll sofort hierher kommen!“
Damit schob er Lee wieder in das Zimmer hinein und durch eine weitere Zwischentür in ein gemütlich eingerichtetes Wohnzimmer. Lee sah ihn erstaunt an. Wegen ihr sagte er einfach eine Rede ab. Er hätte einen guten Vater abgegeben. Leider war ihm das nicht bewusst.
„Möchtest du etwas essen?“ fragte er.
Die Zeit verging ein bisschen schneller, aber immer noch nicht schnell genug. Die Zeitung war nicht so dick, um sich damit drei Stunden lang beschäftigen zu können. Also riss sie sorgfältig - und langsam - die Doppelseiten auseinander und häufte sie auf. Dann nahm sie ein Blatt nacheinander, faltete Papierflugzeuge und kleine Pferde und Hunde. Das hatten sie einmal im der ersten Klasse gemacht. Dort waren schaurige Monster und unerkennbare Figuren herausgekommen, doch nun ging es besser. Es dauerte einige Versuche, bis sie es perfekt hinkriegte, aber sie hatte ja Zeit und Papier.
Nach ein paar gelungenen Tests versuchte Reggie, die Hunde in Katzen abzuändern. Das war nicht ganz einfach. Hunde aus Papier sahen Katzen verdammt ähnlich. Doch schliesslich schaffte sie es und war stolz auf sich. So etwas hatte sie noch nie ohne Fremde Hilfe geschafft. Es war das erste Mal, dass sie in einer handwerklichen Angelegenheit so etwas wie Talent gezeigt hatte.
Vielleicht macht die Not auch erfinderisch, sagte sie zu sich selbst. Sie liess ein paar Flugzeuge durchs Zimmer fliegen, machte neue, die das Gewicht besser ausbalancierten. Die meisten flogen in einer Schraube direkt auf den Boden, aber einige schafften es durch das ganze Zimmer und prallten dann gegen die entgegengesetzte Wand.
„Verdammt noch mal“, tönte es plötzlich von der Tür her und jemand schlug mit dem Fuss dagegen. Er fluchte gleich noch einmal über den Schmerz, bis er die Türe aufgebracht hatte.
Reggie sah auf die Uhr. Es war fast sieben Uhr.
Der Mann, der herein kam, war der, der nach Donnies Abgang die Leitung übernommen hat. Er hinkte ein paar Schritte lang, bevor er sich von dem Schmerz erholt hatte. Sein Gesicht war mit Schweiss bedeckt und er sah müde aus. Verwundert betrachtete er die vielen Papierflugzeuge am Boden, vergass sie dann aber sofort wieder. Er nickte ihr zu.
„Wir gehen jetzt zum Übergabeplatz. Wenn alles glatt läuft, sind Sie in einer Stunde wieder ein freier Mensch“, sagte er und wollte dabei sicher klingen. In seiner Stimme schwang jedoch eine Unsicherheit mit, die Reggie sich nicht erklären konnte. Irgend etwas musste passiert sein.
Sie ging wortlos mit und wurde, sobald sie aus dem Zimmer war, von zwei Wachen flankiert, die beide entsicherte Waffen trugen. Es herrschte wieder reger Betrieb. Alle packten ihre Sachen ein, nun nicht mehr so hastig wie am Morgen. Sie machten sich bereit, um für eine Weile unterzutauchen und sich nicht mehr blicken zu lassen. Mit dem Geld, das sie von dieser Entführung bekamen, konnten sie es sich eine Weile gutgehen lassen. Die meisten der Leute waren aber schon am Übergabeort, wo sie mit gepackten Taschen darauf warteten, das Geld zu bekommen. Sie wollten nicht länger als nötig hier bleiben.
Der Mann legte Reggie Handschellen an und führte sie zum Lieferwagen. Er selbst und eine der Wachen stiegen vorne ein, während die andere hinten bei ihr blieb. So kurz vor dem Ziel konnten sie das Risiko nicht eingehen, dass sie es irgendwie schaffte, aus dem Wagen zu springen.
Aus der Fahrerkabine tönte ein Gespräch in den hinteren Teil. Es sprach aber immer nur jemand, lauschte einer Antwort und fragte wieder etwas. Der Leiter musste mit einem Handy oder einem Funkgerät mit jemandem sprechen. Vermutlich war der Jemand am Ort der Übergabe, während sie ein paar Strassen weiter warteten. Sie hörte ein ‚Okay‘ und dann herrschte Schweigen.
Reggie wagte nicht, die Wache anzusprechen und zu fragen, was nun passierte. Der Mann sah nicht aus, als habe er viel Geduld, sondern schien eher der Schlägertyp zu sein. Obwohl er ihr eigentlich nichts machen konnte, wollte sie das Risiko trotzdem nicht eingehen.
„He, Jungs, wie geht’s euch?“ fragte plötzlich ein Mann. Seine Stimme war tief und sanft und tönte wie die Stimme eines Engels.
„Hey, Donnie, wo warst du, Mann? Ich habe mir fast in die Hosen gemacht, als ich mit dem Präsidenten telefonieren musste. Wie konntest du uns einfach alleine lassen und mir die Leitung überlassen?“
Reggie hörte ein lautes Lachen. Donnie war also wieder da.
„Ich hatte eine wichtige Angelegenheit zu klären. Sorry, dass ich euch nicht informiert habe, aber es war wirklich sehr dringend.“
Reggie fragte sich, was wohl wichtiger als eine Entführung sein konnte.
„Ich habe eben mit Mulroney telefoniert. Er sagte, wir sollen die Aktion abbrechen und für eine Weile untertauchen. Ich nehme die Kleine mit. Wenn wir sie zappeln lassen, können wir unser Lösegeld verstärken.“
„Aber Mulroney wurde verhaftet. Die andere Kleine ist zum Präsidenten gelaufen und hat ihn dort identifiziert. Er sitzt im Knast. Wir müssen die ganze Sache ohne ihn durchziehen.“
Lee hatte es also geschafft. Wenigstens war sie in Sicherheit.
„Oh, das hat er mir nicht erzählt. Er muss schon wieder entkommen sein. Auf jeden Fall sagte er nur, es sei wichtig, dass wir sofort verschwinden. Der Präsident hat überall seine Männer postiert“, erwiderte Donnie.
Reggie glaubte zu hören, dass auch er unsicher war. Log er da etwa eine Geschichte zusammen?
„Okay. Ich ruf die Männer von dort weg. Wann treffen wir uns wieder?“
„Mulroney hat alle unsere Tarnidentitäten. Er wird uns zusammenrufen, sobald es soweit ist. Er will kein Risiko eingehen. Zuerst muss er wohl noch die Cops loswerden.“
Ja, das wäre sicher nützlich, dachte Reggie. Der Wächter öffnete die Türe, aber nicht ohne einen warnenden Blick auf sie zu werfen. Er stieg aus, nur soweit, dass er sie noch im Blickfeld hatte.
„Hey, Männer, was ist los?“ rief er nach vorne, obwohl auch er alles gehört hatte.
„Ich übernehme die Kleine. Am besten, ihr überlasst mir den Bus. Ich muss mit ihr so schnell wie möglich verschwinden“, tönte Donnies Stimme nun schon viel näher, „Die Gegend hier wimmelt nur so von Bullen.“
Der Wächter schloss die Türe zu und übergab Donnie die Schlüssel der Handschellen, obwohl er selbst hatte.
„Du bist der Boss. Lass dich von der Kleinen nicht unterkriegen, klar?“
Donnie lachte laut. „Okay, ich wird‘ mir Mühe geben.“
Sie klopften einander auf die Schultern, während die beiden anderen Männer ausstiegen. Der stellvertretende Chef gab ihm die Autoschlüssel. Sie verabschiedeten sich mit einer kurzen Umarmung. Dann stieg Donnie ins Führerhaus ein und fuhr davon.
„Donnie, warum machen Sie das?“ fragte Reggie. Sie wäre in ein paar Minuten vielleicht frei gewesen. Und er hatte sie doch nicht umbringen wollen. Sie hatte doch gespürt, wie er sie am liebsten befreit hätte.
„Ich rette Ihnen gerade das Leben. Die Abmachung mit Mulroney lautete, das Geld zu kassieren und Sie danach zu erledigen. Sie hätten Sie niemals freigelassen, ausser als Leiche.“
Für einen Moment war Reggie gelähmt vor Schock. Sie hatten sie umbringen wollen? Aber warum? Dadurch machten sie ihr Verbrechen doch nur noch schlimmer. Dadurch wären sie des Mordes angeklagt worden, wenn man sie erwischt hätte, nicht nur der Entführung. Die mussten vollkommen verrückt sein. Mulroney musste vollkommen verrückt.
„Ist Mulroney wirklich im Gefängnis gewesen und jetzt wieder draussen? Wie hat er das geschafft?“ fragte sie weiter. Es störte sie, dass sie durch die Wand miteinander redeten.
„Ich habe keine Ahnung, was passiert ist. Aber wenn er wirklich im Gefängnis gesessen hat, dann sitzt er jetzt auch noch. Ihre Freundin Lee hat bestimmt dafür gesorgt, dass der Präsident ihn wirklich gut einsperrt.“
Das erleichterte sie ein wenig. Allerdings war es fraglich, ob die anderen Männer dann nicht Verdacht schöpften. Irgendeiner hatte bestimmt Verbindung zu ihm und wenn sie erfuhren, dass Donnie sie angelogen hatte, würden sie ihn - und damit auch sie - bestimmt verfolgen.
„Was passiert, wenn die anderen Männer erfahren, dass Sie gelogen haben?“ äusserte sie zögernd ihren Verdacht.
„Ich weiss es nicht“, antwortete er, und schien besorgt zu sein. Er kannte die Männer, schliesslich hatte er mehr als nur ein paar Tage mit ihnen zusammengearbeitet, und das war das Problem. Sie konnten Verräter in ihrer Mitte nicht ausstehen. Ihre Arbeit beruhte auf gegenseitigem Vertrauen. Wenn jemand dieses Vertrauen missbrauchte, war er bei ihnen nicht abgeschrieben und vergessen, sondern im Gegenteil. Sie würden ihn bei der nächsten Gelegenheit umbringen.
Doch das sagte er Reggie nicht. Er wollte sie nicht unnötig beunruhigen.
„Hat Mulroney Sie weggeschickt? Oder hatten Sie wirklich eine wichtige Angelegenheit zu klären?“
Donnie lacht laut. „Glauben Sie, ich würde mitten in einer Entführung einfach so verschwinden, weil ich etwas anderes zu tun habe?“
Genau das hatte sie gedacht. Mulroney hatte ihn von diesem Fall hier abgezogen. Also stimmte es, dass er etwas für sie empfand. Und dieses Etwas war gross genug, um eine ganze Entführung in Gefahr zu bringen.
„Bringen Sie mich jetzt zum Präsidenten, oder zur Polizei?“ fragte sie hoffnungsvoll.
Zwar hatte sie Donnie gern, vielleicht sogar mehr als nur gern, aber trotzdem wollte sie lieber wieder ihre Freiheit haben. Wenn er sie gehen liess, konnte er sowieso besser fliehen und sich irgendwo absetzen. Sie könnte es vielleicht sogar arrangieren, dass er Geld bekam, mit dem er gut leben konnte. Mit ihr musste er immer für zwei zahlen und musste erst noch auf sie aufpassen, damit sie nicht weglief. Und immer konnte er nicht ein Auge auf sie haben.
„Das geht nicht. Es gibt einen Spitzel im Weissen Haus. Ich weiss nicht, wer er ist, aber ich weiss, dass es ihn gibt und dass er eine ziemlich hohe Position einnimmt. Sobald er erfährt, dass Sie frei sind, wird er alles daran setzen, Sie wieder als Geisel zu nehmen oder Sie umzubringen. Und ich weiss, dass er gut ist. Eine ganze Armee von Bodyguards könnte ihn nicht aufhalten.“
Donnie hielt den Wagen an und öffnete die Hintertüre. Sie sah ihn an. Er wirkte so gepflegt wie immer, aber dünne Sorgenfalten lagen auf seiner Stirn. Er machte sich wirklich Sorgen um sie.
„Kommen Sie, ich nehme Ihnen die Handschellen ab. Aber Sie müssen mir versprechen, nicht wegzulaufen. Es ist wirklich nur zu Ihrem Besten.“
Sie nickte. Donnie nahm die Schlüssel und öffnete die Handschellen. Erleichtert rieb sie die roten Abbrücke auf ihren Handgelenken.
Sie stieg aus und setzte sich auf den Beifahrersitz. Donnie fuhr wieder los. Der Verkehr ging nur stockend vorwärts, es herrschte ein reges Hupkonzert. Die vielen gelben Taxis stachen aus den übrigen, meist schwarzen oder grauen Autos heraus. Auf den Seiten jeder Strasse hasteten, spazierten und standen Menschen. Sie hatte ihre Regenmäntel an oder einen Schirm über ihren Köpfen gespannt, denn es regnete in Strömen.
„Sir, wir sind bereit. Wir warten nur noch auf Ihr Kommando.“
Der Mann hatte seine ganze schwarze Ausrüstung an. An seinem Gürtel waren kleine Taschen, die voll mit Sachen gefüllt waren, von denen Lee keine Ahnung hatte. Auf seinem Rücken stand in grossen, weissen Buchstaben ‚FBI‘ geschrieben. In seiner Hand hielt er locker ein voll automatisches Gewehr. Ein kleiner Lautsprecher hing in seinem Ohr und auf der Brust war das Mikrophon angemacht.
„Sind Sie sicher, dass sie Sie nicht bemerken werden?“ fragte der Präsident besorgt. Neben ihm stand Skeet McGowan. Er rieb sich immer wieder nervös die Hände an seinem schönen Anzug ab.
Er war vor etwa einer Stunde angekommen und seitdem war er nicht einen Moment lang ruhig gewesen. Immer hatte er irgend etwas machen müssen. Entweder ging er unruhig umher oder dann spielte er mit dem leeren Glas, in dem früher Wasser war.
Lee war zuerst berauscht gewesen. Sie traf diesen unbeschreiblichen Mann persönlich. Fast hätte sie dabei vergessen, warum er hier war und warum sie hier war. Sie war die Tochter des Präsidenten und die beste Freundin von Skeet McGowans Tochter. War sie nicht genauso berühmt wie er oder würde es zumindest bald werden?
Das liess sich leicht einreden, aber es war trotzdem ein überwältigendes Gefühl. Sie hatte ihm ein wenig von Reggie erzählt. Und je mehr sie erzählte, desto mehr Sorgen machte er sich.
„Haben Sie Jamie auch schon informiert?“ hatte er den Präsidenten gefragt, kurz nachdem er angekommen war.
Dieser musste verneinen. Sie hätten keine Ahnung, wo sie sei. Aber sie würden es immer wieder probieren. Irgend wann kam sie bestimmt wieder nach Hause und dann würden sie sie erreichen.
Jetzt war es fünf Minuten vor sieben. Jamie Campbell war noch nicht aufgetaucht. McGowan konnte es kaum mehr erwarten, seine Tochter zu sehen.
„Ja, Sir, ich bin sicher. Sie werden uns nicht entdecken. Sollte jemand ungewollte Blicke auf sich lenken, wird er weggehen, als sei er ein einfacher Spaziergänger. Wir haben genug Männer postiert“, antwortete der Mann selbstbewusst. Er wartete noch immer auf das Kommando des Präsidenten.
„Okay, dann beginnen Sie.“
Der Mann nickte und rannte davon, während ein paar Namen rief und sofort weitere Männer in voller Ausrüstung ihm nachrannten.
John musterte Lee und McGowan und seufzte. „Jetzt können wir nur noch abwarten.“
McGowan schnaubte leise. „Das ist das, was ich am meisten hasse. Warten.“
Lee lächelte leicht. Sie hatte schon von klein auf warten gelernt. Ihre Eltern - ihre Adoptiveltern - waren oft spät nach Hause gekommen. Als kleines Mädchen hatte sie Angst gehabt und gewartet, bis sie fast wahnsinnig geworden war. Später gab sie es auf und entspannte sich. Es hatte keinen Sinn, sich Sorgen zu machen, denn ändern konnte man ja sowieso nichts.
Es hatte ihr bis jetzt nicht viel ausgemacht, aber trotzdem spürte sie jetzt, wie auch sie langsam nervös wurde. Reggie würde bald wieder frei sein. Sie konnte ihren Vater kennenlernen. Wenn nur alles glatt lief. Wenn sie ihr nur nichts angetan hatten.
„Sir, einer der Geiselnehmer“, flüsterte ein Mann, der mit einem Telefon angerannt kam.
Lee starrte erschrocken auf ihren Vater. Warum meldeten sich die Entführer wieder? Es war doch alles klar. In einer Minute war die Übergabe und dann war die Sache beendet. Warum riefen sie jetzt noch an?
John Leard nahm das Telefon an sich und meldete sich. Er lauschte kurz und erblasste. Dann hängte er den Hörer auf und sah Skeet McGowan und Lee an, als hätte er gerade einen Anruf von seiner Urgrossmutter aus dem Jenseits bekommen.
„Sie sagen, die Sache stinke. Sie wollen alle untertauchen und Reggie mitnehmen. Sie werden sich wieder melden. Eine zweite Chance, sozusagen, aber eine dritte werde es nicht geben.“
Reggie hängte ihren Gedanken nach. Es erschien ihr unwirklich, dass ihr eigener Entführer sie befreite. Es war wie ein Märchen. Die Liebe hatte das Böse besiegt. Diese Geschichte würde einen guten, kitschigen Roman abgeben. Vielleicht sollte sie, wenn die Sache vorbei war, mit ihrer Mutter reden. Schliesslich war die ja Schriftstellerin. Sie könnte einen Roman schreiben.
„Wohin fahren wir jetzt?“ fragte sie Donnie nach einer Weile.
Sie waren noch immer mitten in der Stadt und es schien ihr, als kämen sie nicht von der Stelle. An jeder Ampel mussten sie anhalten und mindestens eine halbe Stunde lang warten, bevor endlich wieder fünf Meter fahren konnten. Jedenfalls kam ihr das Ganze so vor.
„Ich kenne jemanden, der ein wenig ausserhalb eine Wohnung besitzt. Zufälligerweise schuldet er mir noch einen Gefallen“, antwortete Donnie mit einem verschmitzten Lächeln.
„Sie wollen hier bleiben?“
Er lächelte wieder. „Wenn die anderen zu suchen anfangen, könnten wir bereits über alle Berge sein. Warum sollten sie dann ausgerechnet hier suchen? Niemand wäre so blöd und bleibt hier, oder?“
Reggie sieht ihn lächelnd an. An seinem Hals war eine kleine Wunde, die ihr erst jetzt auffiel. Sie war nur ein schmaler, roter Strich, aber sie war ziemlich lange. Sie ging von seinem Ohrläppchen bis unter den Kragen der Jacke, die er trug. Reggie nahm nicht an, dass sie von einer Katze stammte, die ihn einmal gekratzt hatte.
„Was glauben Sie, wie lange wir uns verstecken müssen?“ fragte sie ihn.
Das Licht wechselte gerade auf grün und Donnie gab Gas.
„Ich weiss nicht. Vermutlich nur, bis der Spitzel im Weissen Haus sich selbst eine Falle stellt. Wenn sie ihn erwischt haben, ist die Gefahr vorbei. Dann wird Ihnen niemand mehr etwas tun.“
Sie wusste nicht recht, ob sie das als Beruhigung ansehen sollte oder nicht. Donnie hatte gesagt, der Spitzel sei so gut, dass er sie selbst bei ständiger Bewachung umbringen könnte. Dann musste er doch auch fähig sein, die Person zu spielen, die er ausgab zu sein. Das dürfte doch dann kein Problem für ihn sein. Aber wenn er sie wieder als Geisel nehmen konnte, konnte er es dann nicht auch mit Lee?
„Wird er Lee etwas tun?“ fragte sie ängstlich.
Sie fühlte sich hier bei Donnie wohl und sicher, aber bei dem Gedanken, dass immer noch einer dieser Verbrecherbande um Lee herumschlich, bekam sie eine Gänsehaut.
„Nein, ich glaube nicht. Immerhin ist sie die Tochter des Präsidenten. Ausserdem handelt er nur auf Befehle. Und Mulroney hatte den Befehl gegeben, die Suche nach ihr einzustellen. Sie ist nicht mehr Teil unseres Planes. Aber Sie sind es noch immer. Wenn Sie jetzt also einfach auftauchen, obwohl Sie in meiner Obhut sein sollten, wird er versuchen, Sie in seine Gewalt zu bringen. Bei Lee wird er das nicht machen.“
Nach dieser Beschreibung musste der Mann ein ziemlicher Idiot sein. Er tat nur das, was man ihm befahl. Wie hatte er jemals ins Weisse Haus gelangen können? Er musste sich wahnsinnig gut verstellen können.
„Sind Sie sich sicher?“ fragte sie zweifelnd.
Donnie nickte lächelnd. „Vertrauen Sie mir, Reggie. Lee wird bestimmt nichts geschehen. Sie ist in Sicherheit, und wir sind es auch bald.“
Reggie würde das gerne glauben. Aber diese Männer, die ihnen bestimmt schon bald auf der Spur sein würden, waren Profis. Sie fanden heraus, welche Freunde Donnie hatte und wo diese wohnten. Sie würden diese Wohnung von diesem Freund auch finden und damit auch sie, da war sich Reggie ganz sicher. Wenn Donnie das nicht klar war, dann kannte er diese Männer, denen er einmal vertraut hatte, nicht sehr gut.
„Was werden Sie machen, wenn alles vorbei ist?“ fragte sie ihn.
Er hatte seine Arbeit verloren, wenn man das so sagen konnte. Vielleicht fand er eine neue Gruppe, bei der er mitarbeiten konnte, aber das war sehr unwahrscheinlich. Er musste sich selbst etwas neues aufbauen.
„Ich weiss es noch nicht. Vielleicht nehme ich mein Geld und setze mich irgendwo zur Ruhe.“
Sie lächelte. Viele liessen sich schon mit vierzig pensionieren, aber bei Donnie konnte sie sich das einfach nicht vorstellen. Er sollte irgendwo in der Sonne liegen und nichts tun?
„Das meinen Sie doch nicht ernst, oder?“
Er schüttelte lachend den Kopf. „Natürlich nicht. Um ehrlich zu sein, ich habe nicht darüber nachgedacht. Ich habe das hier einfach getan, ohne mir über die Folgen im Klaren zu sein. Vielleicht bereue ich es irgendwann.“
Schmunzelnd sah er sie an. Auch das meinte er nicht ernst. Sie konnte es in seinen Augen lesen.
Er war sogar einen guten Grund zu haben, um aus der Gruppe herauszukommen. Irgendwie hatte er nie dort hineingepasst. Er war immer anders als die anderen gewesen und jetzt stellte sich heraus, warum. Seine Geiseln beeinflussten ihn mehr, als ihm lieb war. Jede Geisel, die er getötet hatte, hatte ihm leid getan und er hatte sich gewünscht, es nicht tun zu müssen. Immer wieder hatte er nach einem Ausweg gesucht, aus dem Milieu herauszukommen. Aber es war klar gewesen, dass die anderen ihn finden und umbringen würden. Jetzt hatte er es trotz alledem gemacht.
Und es war ihm egal. Sollten sie ihn doch suchen, und vielleicht auch finden; Reggie war in Sicherheit. Ihr konnten sie nichts tun. Sie war noch viel zu jung, um zu sterben und begann gerade erst jetzt zu leben. Es wäre einfach nicht fair, wenn sie jetzt umgebracht würde, nur weil eine Bande an einem entflohenen Mitglied Rache üben wollte.
„Da vorne in diesem Block ist die Wohnung. Sie ist nicht besonders gross, aber sie wird reichen. Schliesslich ist es ja nur vorübergehend“, sagte er und zeigte auf ein etwa fünfstöckiges Wohnhaus.
Es war weiss, mit einem rötlichen Teint. Die Balkone waren verteilt, keiner war unter einem anderen. Das verlieh dem Haus die Art eines Kaktus oder eines Baumes. Auch die Fenster waren verteilt und keines war auf derselben Höhe wie ein anderes. Man konnte nicht genau sagen, wo der eine Stock anfing und wo der andere aufhörte. Das Ganze sah irgendwie lächerlich aus, aber auch anziehend. Warum sollte alles schön in Reih´ und Glied stehen, wenn man es auch anders haben konnte? Ein Architekt hatte hier sicher viel Freude gehabt.
Donnie fuhr den Wagen auf die Parkplätze, die vor dem Haus waren. Sie stiegen aus und Donnie nahm eine Tasche, die hinter dem Sitz lag, hervor. Sie gingen hinein. Im Lift drückte Donnie für den vierten Stock. Mit einem Ächzend bewegt sich der Lift. Bald funktionierte er nicht mehr. Er war schon ziemlich alt.
Auf jedem Stock waren zwei Wohnungen. Die rechte, vom Lift ausgesehen, hatte eher Sicht auf die Strasse und die Stadt, während die andere mehr auf das Bonzen-Viertel zeigte, wo die Reichen ausserhalb von New York ihre grossen Häuser mit den vielen Quadratmetern Land rundherum besassen.
Donnie hatte den Schlüssel für eine die Sicht auf die Stadt hatte. Er öffnete die Tür. Ein strenger Geruch schlug ihnen entgegen, der nach abgestandener Luft roch. Reggie öffnete automatisch die Fenster.
Sie waren im Wohnzimmer, das gleichzeitig auch als Esszimmer und als Küche diente. Es verfloss ineinander. Das Schlafzimmer war geschlossen, genau wie das Badezimmer. Die Möbel waren alle aus echtem Leder und sahen aus, als wären sie noch nie benutzt worden, so als stünden sie nur zur Verzierung hier. Die ganze Einrichtung sah ziemlich teuer aus. Eine verdorrte Pflanze, die Donnies Freund vergessen haben musste, stand am Boden. Neben ihr lagen Blätter, die auseinanderfielen, wenn man sie berührte.
„Ihr Freund scheint ziemlich reich zu sein“, stellte Reggie fest, als sie auch das Schlaf - und das Badezimmer gesehen hatte. Im Schlafzimmer war der Boden mit teuren Teppichen bedeckt, die nur gerade dort benutzt waren, wo man ging, wenn man von der Türe zum Bett und zum Schrank ging. Sonst schien auch hier alles nur Dekoration zu sein. Im Badezimmer war alles aus Marmor, sofern Reggie das beurteilen konnte und so sauber gepflegt, das es glänzte.
„Könnte man sagen, ja. Er benutzt diese Wohnung nur, wenn er in New York ist, und das kommt vielleicht einmal, oder wenn es gut geht, zweimal im Jahr vor“, antwortete ihr Donnie.
Er packte die Tasche aus und versorgte alles. Es waren hauptsächlich Lebensmittel, die er im Kühlschrank verstaute, aber er hatte auch an Sachen wie Seife und Duschmittel gedacht, die er ins Badezimmer brachte.
Reggie sah aus dem Fenster. Der Regen hüllte alles ein und liess es verschwimmen, aber trotzdem, oder gerade darum, sah es irgendwie schön aus. Hier drin war es warm und gemütlich, während es draussen kühl und regnerisch war. Es liess die Wohnung freundlicher erscheinen, als sie eigentlich war.
„Warum nimmt er sich dann nicht einfach ein Hotelzimmer, wo er es viel angenehmer hat?“ fragte Reggie. Sie kannte auch einige Leute, die ein Wohnung in einer anderen Stadt hatten, aber diese benutzten sie mindestens vier oder fünf Monate im Jahr.
„Wahrscheinlich damit er Freunden wie mir einen Gefallen zurückgeben kann“, antwortete Donnie und grinste wieder.
Reggie lächelte ebenfalls leicht und wandte sich vom Fenster ab. Ihr war langweilig und sie wünschte sich, sie könnte endlich ihren Vater kennenlernen. Lee hatte bestimmt schon das Vergnügen, mit ihm zu sprechen, während sie noch immer hier warten musste. Fast wollte sie schon das Risiko eingehen, trotz aller Warnungen zum Weissen Haus zu gehen, aber dann schob sie den Gedanken beiseite. Sie würde noch früh genug frei sein.
„Können wir nicht den Präsidenten anrufen und sagen, dass sie einen Spion in ihrem Team haben?“ fragte sie. Zögernd setzte sich auf die wertvollen Sofas und zog sich die Schuhe aus.
„Nein, das geht nicht. Ich bin sicher, er würde diesen Anruf auch hören und könnte ihn dann zurückverfolgen. Er würde uns finden.“ Donnie liess die Kaffeemaschine laufen.
„Wir müssen ja nicht von hier anrufen“, widersprach Reggie. Es gefiel ihr einfach nicht, untätig herumzusitzen.
„Dann könnte er sich anbieten, die Untersuchungen zu leiten und alles vertuschen, was ihn belasten könnte. Glauben Sie mir, Reggie, alles, was wir tun können, ist abwarten und darauf hoffen, dass irgend jemand einen Verdacht bekommt.“
Er gab ihr eine Tasse Kaffee und setzte sich in den Sessel vor ihr. Sie trank dankbar und fühlte, wie wieder ein bisschen Leben in ihr müdes Gehirn zurückkehrte. Den hatte sie seit Tagen vermisst.
„Wie sind Sie in diese Gruppe hineingekommen?“ fragte sie. Vielleicht konnte sie, wenn sie wusste, warum Donnie sie und die anderen vor ihr entführt hatte, ihm helfen, ein gutes Wort beim Richter einlegen oder so etwas. Falls man überhaupt jemals erwischen würde. Sie würde ihn nicht verraten.
Sobald sie frei war, würde man sie fragen, wer alles dabeigewesen war. Man würde ihr Verbrecherkarteien zeigen und sie musste dann alle identifizieren. Sie würde Donnie nicht der Polizei ausliefern. Schliesslich hatte er ihr Leben gerettet. Wäre er nicht gewesen, wäre sie schon lange tot und die Entführer mit dem Geld davon. Wenn man ihn gefangennehmen sollte, würde sie dafür sorgen, dass der Richter das erfuhr. Und dass er genügend berücksichtigte. Sie konnte auch ein wenig übertreiben. Lügen war noch nie ein grosses Problem für sie gewesen, vor allem nicht bei fremden Menschen.
Donnie seufzte leicht auf ihre Frage. „Meine Mutter ist schon früh gestorben, also lebte ich bei meinem Vater. Er war der Boss einer Gruppe, die sich anheuern liess und dann alle möglichen Geschäfte erledigte. Ich habe automatisch einen Platz dort eingenommen. Mit etwa zwanzig setzte ich mich ab und gründete meine eigene Gruppe. Bis jetzt hat es nur einen oder zwei Wechsel gegeben.“
Das war natürlich nicht die Antwort, die Reggie gerne gehört hätte. Mit dieser Vergangenheit musste er schon viele Vorstrafen gehabt haben, auch schon als Kind. Da würde ein gutes Wort beim Richter nicht reichen. Es müssten mindestens hundert gute Wörter sein.
Lee erblasste genauso Skeet McGowan. Sie wollten die Übergabe abblasen? Das konnten sie doch nicht machen. Sie konnten doch nicht einfach Reggie mitnehmen und verschwinden, für weiss wer wie lange Zeit? Man musste das doch irgendwie verhindern können. Sie durften das nicht machen!
Der Präsident erholte sich am schnellsten von diesem Schock wieder und gab einem Mann den Befehl, diese Spezialeinheit zu informieren. Dieser nickte und ging zum nächsten Telefon. Er sagte kurz etwas und hielt John den Hörer hin. „Er sagt, sie haben etwas entdeckt.“
Sofort nahm er den Hörer und lauschte. Das Lächeln auf seinem Gesicht wurde immer breiter und seine Augen fingen an zu leuchten. Lee hob fragend die Hände, doch er hörte immer noch zu.
„Beschatten Sie die Wohnung. Wenn Sie herauskommen, folgen Sie ihnen. Lassen Sie sich nicht abhängen.“
Er legte auf und lachte dann erleichtert. „Die Einheit hat einen Wagen verfolgt, in dem Reggie ist. Sie sind jetzt in einer Wohnung am Stadtrand.“
Erleichtert atmete sowohl Lee als auch McGowan auf.
„Dann lassen Sie uns sofort dorthin fahren und Reggie befreien“, sagte Lee und wollte schon zum Lift gehen.
Doch der Präsident hielt sie zurück. „Ich lasse meine Männer die Wohnung beschatten. Sie kommen also nicht heraus, ohne dass sie bemerkt werden. Wir können nicht dorthin fahren und die Wohnung stürmen. Vielleicht ist dort ja die ganze Bande versteckt und bringen Reggie sofort um, wenn wir ihnen zu nah kommen.“
Das gefiel Lee ganz und gar nicht. Sie konnten ja das ganze Haus stürmen und den Entführern eine Strafvermilderung oder so etwas anbieten, wenn sie Reggie freiliessen und sich ergaben. Sonst gab es bestimmt solche Spezialisten, die sich bis zur Wohnung schleichen und dort alle festnehmen konnten. Ausserdem war es ja gar nicht gesagt, wie viele es waren. Es könnten auch nur zwei oder drei sein. Mit denen würde diese Spezialeinheit wohl noch fertig werden.
Lee stellte fest, dass sie zuviel ferngesehen hatte. In einem Film funktionierte das, im richtigen Leben nicht. Sie mussten abwarten und Tee trinken, wie es ihr Vater sagte.
„Aber wann können wir dann etwas unternehmen?“ fragte Lee verzweifelt.
„Wenn wir sicher sind, dass nicht die ganze Bande dort ist. Wir können versuchen, mit ihnen Kontakt aufzunehmen, was ich aber nicht tun würde. Wenn wir sehen, dass nur ein Mann mit Reggie das Haus verlässt, werden die Männer natürlich sofort zuschlagen. Aber bis sie alles abgeriegelt haben, ohne dass die Entführer etwas merken, und bis sie herausgefunden haben, wie viele es sind, können wir nichts machen, nur hoffen, dass Reggie am Leben bleibt“, antwortete der Präsident und lächelte beruhigend, „Ich verspreche dir, dass die Männer als tun werden, was sie können, um Reggie sobald wie möglich zu befreien.“
Lee wusste, dass die Männer in der Einheit gut waren, aber reichte es, um Reggie zu befreien? Waren sie gut genug, oder würden sie versagen?
Sie seufzte leicht und versuchte, sich zu entspannen. Am besten würde es wohl sein, wenn sie sich alle ein wenig ausruhten. Heute meldeten sich die Entführer wahrscheinlich nicht mehr.
Skeets Gesicht gewann langsam wieder an Farbe. Er fasste sich und wurde ruhiger. „Ich denke, ich werde jetzt nach Hause fahren und mich ein wenig hinlegen. Vielleicht kann ich Jamie noch erreichen. Sie melden sich sofort bei mir, wenn Sie etwas hören?“
Der Präsident nickte und gab ihm die Hand. „Ruhen Sie sich aus, Skeet. Und machen Sie sich nicht zu viele Gedanken. Reggie wird bestimmt nichts passieren.“
Dieser beistimmte dem zweifelnd bei, nickte Lee leicht lächelnd zu und verschwand dann mit ein paar Männern im Lift für das Personal.
„Ich habe für dich ein Zimmer herrichten lassen, gleich neben meinem. Ich hoffe, du kannst ein wenig schlafen.“
Lee lächelte. Es war rührend, wie er sich um sie kümmerte. Als wäre sie noch ein fünfjähriges Mädchen, das in der Nacht bei den Eltern schläft, weil sie Angst vor den bösen Dämonen unter dem Bett hat.
„Wo ist eigentlich ... meine Mutter?“ fragte sie plötzlich, als sie schon fast in ihrem Zimmer war.
John lächelte. „Michelle ist in Washington. Ich habe sie schon informieren lassen, dass du hier bist. Willst du, dass sie hierher kommt?“
Lee schüttelte den Kopf. „Ich muss mich erst von dir erholen“, meinte sie grinsend und schloss dann mit einem ‚Gute Nacht‘ die Tür.
John setzte sich an einen Schreibtisch und starrte auf die Rede, die er heute nachmittag hätte halten sollen. Sie war gut, und es war schade, dass er sie nicht hatte brauchen können. Vielleicht kam er später noch dazu, wenn dies hier vorbei war.
Donnie war so freundlich gewesen und hatte Reggie das Schlafzimmer überlassen, während er selbst auf der Couch schlief. Er hatte ihr sogar ein Pyjama besorgt, das ihr allerdings ein bisschen zu gross war. Sie zog es trotzdem an, denn sie wollte nicht noch einmal eine Nacht in diesen verschwitzten Kleidern verbringen.
Das Bett war sehr bequem, vor allem im Vergleich zu dem, in dem sie letzte Nacht geschlafen hatte. Sie schlief auf der Stelle ein.
Donnie hingegen blieb noch länger wach und dachte nach. Er wusste, dass hier irgend etwas nicht stimmte. Er hatte ein ganz mieses Gefühl. Allein, dass er Reggie befreit hatte, machte ihm Kopfzerbrechen - er verstand sich selbst nicht - aber irgend etwas anderes war auch nicht richtig. Es war ein Gefühl, dass er nicht beschreiben und nicht erklären konnte, aber es war da. Ein Instinkt, der ihn warnte. Sein Vater hatte ihm immer gesagt, er solle auf seine Instinkte hören, aber er hatte es nie getan. Vermutungen und Gefühle waren ihm zu unsicher.
Aber seitdem er sich seine Gefühle für Reggie anmerken liess, war alles anders. Zum ersten Mal in seinem ganzen Leben hatte er einen Job nicht ausführen können, aus eigener und aus fremder Schuld. Er liess sich von seinen Gefühlen leiten, obwohl er wusste, dass es nicht richtig war. Er befreite eine junge Frau, die er selbst gefangengenommen hatte, trotz besseren Wissens, dass er sich dadurch sein Leben ruinierte. All das Wissen hatte ihm nicht helfen können.
Er stand auf und ging ans Fenster. Draussen war es dunkel, die Lichter der Stadt brannten. Durch den Regen hindurch war alles verschwommen. Autos fuhren trotz der Nässe mit einem Tempo durch die Strasse, dass jeden Moment ein Unfall passieren könnte.
Da sah er einen Lichtstrahl, der über seinen Lieferwagen fuhr. Er sah genauer hin. Jemand schlich um seinen Wagen herum und versuchte ihn aufzumachen, ohne dass die Alarmanlage losging. Sofort packte er seine Waffe, die er vor Reggie versteckt unter seinem Pullover in einem Halfter hatte und öffnete leise die Tür. Er sah sich um, aber niemand war hier. Schnell rannte er die Treppen hinunter und nahm die Hintertüre hinaus. Er rannte um das Haus und schlich dann auf den Parkplatz zu. Zum Glück hatte es hier keine Lampen.
Der Jemand hatte die Türe öffnen können und durchstöberte jetzt das Handschuhfach. Donnie kam langsam näher, und hoffte, dass er nicht bemerkt wurde. Er sah sich um, ob der Mann alleine hier war. Das war er nicht. Neben seinem Auto stand ein Personenwagen, in dem ein Mann an einer Zigarette zog. Die rötliche Glut schimmerte durch die Scheiben.
Donnie zog sich in den Schatten eines Baumes zurück. Im Wagen gab es nichts, was ihn verraten könnte. Es war ein ganz normaler, leerer Lieferwagen. Weder im Handschuhfach noch immer hinteren Teil war etwas. Der Mann zog sich aus dem Wagen wieder zurück und ging zum anderen Auto. Er öffnete die Türe, sagte etwas und ging auf den Eingang zu.
Donnie rannte lautlos zurück zum Hintereingang und hastete die Treppen hinauf. Bei der Wohnung zögerte er kurz schwer atmend und rannte dann noch ein Stück weiter die Stufen hoch.
Eine Sekunde später kam der Lift an und der Mann stieg aus. Er sah sich forschend um, aber um diese Uhrzeit war in einem Haus wie diesem nicht mehr viel los. Er musterte die Zimmertüre vom Apartment und prüfte den Flur. Einen Moment lauschte er an der Tür, schien aber nichts zu hören. Vorsichtig drückte er die Klinke hinunter. Verdammt, Donnie hatte nicht abgeschlossen.
Er ging mit gezückter Waffe hinein und bewegte sich dabei völlig lautlos. Genauso schloss er die Türe auch wieder. Donnie wusste, dass wenn der Mann Reggie allein hier vorfand, würde er sie sofort mitnehmen. Das konnte er nicht riskieren. Er musste es darauf ankommen lassen, ob der Mann wusste, wer er war oder nicht.
Mit versorgter Waffe ging er zum Lift und machte, dass sich die Türe öffnete. Dann machte er möglichst feste Schritte und wollte die Türe mit dem Schlüssel öffnen. Zögernd öffnet er sie, als er feststellte, dass sie nicht abgeschlossen war. Er zündete das Licht an.
Der Mann richtete seine Pistole direkt auf die Stirn. Sofort riss Donnie die Hände hoch und flüsterte ängstlich: „Bitte, nicht schiessen.“
Der Mann liess seine Waffe sinken, entsicherte sie aber nicht. „Wohnen Sie hier?“ fragte er mit dem Tonfall eines Polizisten bei einer Befragung.
Donnie nickte zitternd.
„Ich suche einen oder mehrere Männer, die mit einer jungen Frau hier wohnen. Sie sind erst heute abend gekommen. Haben Sie etwas gesehen?“
Er schüttelte den Kopf. „Ich war heute den ganzen Tag bei der Arbeit. Ich bin gerade erst jetzt heimgekommen.“
„Überstunden, wie?“
Donnie nickte lächelnd.
„Das kenn‘ ich“, meinte der Mann. Er nahm einen Schreiber und ein Stück Papier aus der Tasche seines Mantels und schrieb etwas darauf. „Das ist die Nummer, unter der Sie mich erreichen können, wenn Sie irgend etwas sehen. Melden Sie sich, auch wenn Sie denken, es ist nur etwas Banales. Es könnte sehr wichtig für uns sein.“
Donnie nickte wieder und nahm zögernd den Zettel entgegen. Der Mann nickte leicht lächelnd und verabschiedete sich. Donnie schloss die Tür sofort ab und sah auf die Nummer. Es war vermutlich eine Nummer, die zu einem Handy gehörte, das draussen auf dem Parkplatz war.
Er löschte das Licht aus, damit man ihn von aussen nicht sehen konnte und beobachtete den Wagen. Der Polizist kam aus dem Haus und setzte sich hinein. Donnie wartete ein paar Minuten, aber nichts rührte sich mehr. Er versorgte seine Waffe in einem Fach hinter dem Kühlschrank, das ihm sein Freund gezeigt hatte. Morgen würden sie von hier verschwinden müssen. Es ging bestimmt nicht lange, bis sie herausgefunden hatte, dass er nicht der brave Geschäftsmann war.
Er zog sich aus und legte sich auch schlafen.
„Der Kerl erschien mir ziemlich verdächtig. Ich habe ihn zwar nicht erkannt, aber trotzdem ... Ich bin mir ziemlich sicher, dass er nicht der war, den er ausgab zu sein“, sagte Dennis Hemingway zu seinem Kollegen Jean Simmons.
Dennis und Jean waren beide schon mehrere Jahre in dieses Spezialeinheit und sie waren sich darüber einig, dass ‚Leute beobachten‘ langweilig war. Dummerweise dachten noch andere in der Einheit so, also meldete sich nie jemand freiwillig. Es wurde ausgelost und sie hatten das Gefühl, dass immer sie gezogen wurden.
Jean zog noch immer an seiner Zigarette und blies den Rauch aus dem Spalt des halb geöffneten Fenster. Er langweilte sich. Man konnte nicht einmal lesen, weil niemand sehen durfte, dass sie in diesem Auto sassen.
„Du siehst doch Gespenster, Dennis“, gab er zur Antwort.
Dennis war anderer Meinung, aber Jean wusste, dass er nur Abwechslung suchte. Da konnte man schnell mal in einem braven Bürger einen Verbrecher sehen. War ihm ehrlich gesagt auch schon mehrere Male passiert.
„Nein, ich sag’s dir, ich hatte ein ganz mieses Gefühl bei dem Mann. Hast du ihn nicht gesehen? Er müsste doch hier hineingekommen sein. Wo ist überhaupt sein Wagen?“
Jean seufzte. Dennis glaubte, dass alle immer mit dem Auto herumfuhren, aber es gab tatsächlich Menschen, die den Bus benutzten.
Er stutzte. Den Bus? Die Bushaltestelle war doch vor dem Haus, aber er hatte keinen Bus gesehen. Nicht einmal im Vorbeifahren. Er hatte auch niemanden ins Haus gehen sehen.
Sich selbst beruhigend meinte er zu Dennis: „Es gibt noch einen Hintereingang. Er muss dort hineingekommen sein.“
Das beruhigte aber weder seinen Freund noch ihn selbst. Sein Herzschlag beschleunigte sich plötzlich. Es war unwahrscheinlich, dass der Mann den Hintereingang benutzte. Das Haus war von einer Steinmauer umgeben, die hinten keinen Ausgang hatte. Er musste also von vorne gekommen sein und sich an ihm vorbei geschlichen haben. Aber warum tat der Mann nicht, wenn nicht aus dem einfachen Grund, dass er einer der Verbrecher war?
„Am besten rufen wir Verstärkung und durchsuchen dann die Wohnung des Mannes“, schlug Dennis vor und legte schon die Hand an das Funkgerät.
Jean nahm sie wieder dort. „Wenn wir hier mit einem Kommando auffahren, wird der richtige Entführer das merken und verschwinden, während wir die Wohnung dieses Typs durchsuchen.“
Dennis starrte ihn an und ein Grinsen auf seinen Lippen wurde sichtbar. „Du meinst, wir sollen das ohne Verstärkung durchziehen?“
Jean nickte leicht. „Wir sagen es der Zentrale, aber wir ziehen es alleine durch. Du hast ja selbst gesagt, es war niemand anderer im Wohnzimmer. Ich denke, dass das Mädchen im Schlafzimmer ist. Und wenn sonst nur noch der Typ da ist, sollten wir es schaffen, oder?“
Dennis Grinsen wurde immer breiter. Er war froh darüber, dass er diesen eigentlich unerlaubten Schritt ins Haus gemacht hatte. Jetzt kamen sie von dieser Überwachung weg. Wenn sie Glück hatten, war die ganze Sache bald vorbei, dank Jean und ihm. Das gab ein Kompliment vom Chef, vielleicht sogar eine Gehaltserhöhung oder eine Beförderung. Na ja, das vielleicht nicht gerade, aber es würde bestimmt ihr Bild beim Chef ein bisschen verbessern.
Diesem lag die Sache nämlich ziemlich am Herzen. Alle wussten, dass der Präsident sich sehr persönlich darum kümmerte, aber niemand wusste, warum. Aber es musste ziemlich wichtig sein. Es ging ein Gerücht um, dass die Entführte irgend etwas mit dem Präsidenten zu tun hatte, dass sie verwandt mit ihm war oder so etwas in der Art. Die Gerüchte waren nicht so klar. Aber auf jedem Fall ging es dem Chef nicht mehr gut, wenn dem Mädchen etwas passierte.
In einem anderen Gerücht hatte er gehört, dass der Sicherheitschef Mulroney verhaftet worden war. Eigentlich war das sein oberster Boss, aber er bekam seine Befehle immer von seinem direkten Vorgesetzten. Er wusste auch nicht, ob die Gerüchte stimmten oder ob er wirklich nur wegen einer persönlichen Angelegenheit weggefahren war, wie alle sagten, die man fragte.
Das war jetzt aber nicht weiter wichtig. Sie würden es bestimmt noch früh genug erfahren. Jetzt gab es endlich mal wieder etwas zu tun.
Dennis hatte die Zentrale informiert und sie stiegen jetzt gemeinsam aus, um ins Haus zu gehen. Schweigend gingen sie in den Lift und fuhren hinauf. Im vierten Stock angekommen nahmen sie ihre Pistolen aus dem Halfter und nickten einander zu. Sie entsicherten die Waffen.
„Ich zähle bis drei. Du nimmt die linke Seite“, flüsterte Jean leise und zählte den Countdown hinunter.
Bei Null angekommen trat er die Tür mit einem lauten Kracher auf und Dennis richtete seine Waffe sofort auf die linke Seite. Der Mann, den er vorher kennengelernt hatte, sprang erschrocken auf. Er war nur noch mit dem Boxershorts und einem T-Shirt bekleidet. Sein Blick raste zwischen ihnen beiden umher.
„Was wollen Sie? Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ...“
Dennis warf ihm einen kurzen Blick zu und öffnete die Badezimmertür. Niemand war darin. Er deutete zur Schlafzimmer, ohne auf das protestierende Ausrufen zu achten.
In diesem Moment öffnete sich die Tür. Eine junge Frau kam heraus. Ihre Wellen fielen ihr ins Gesicht und standen ihr vom Kopf ab. Die Augen waren gegen des helle Licht zugekniffen. Sie hatte ein viel zu grosses Pyjama an und starrte die beiden Männer verschlafen an. Sie schien so müde zu sein, dass sie nicht bemerkte, wie erschrocken sie eigentlich sein müsste.
„Was ist denn hier los?“ fragte sie mit rauher Stimme.
„Wer sind Sie?“ fragte Jean. Er hatte ein Bild von der Entführten gesehen, das ein Jahr alt war. Das Haar war gleich, aber eigentlich sah sie nicht wie auf dem Foto aus.
„Sie ist meine Tochter“, antwortete der Mann und schien sich schon wieder ein bisschen gefasst zu haben.
Jean sah mit einem Seitenblick auf Dennis, warnend und strafend zugleich. Dieser achtete nicht auf ihn.
„Wo sind Sie vorhin hineingekommen, als Sie von der Arbeit kamen? Mein Freund hat Sie nicht durch den Eingang kommen sehen.“
Der Mann lächelte leicht, wie ein Junge, der erwischt wurde, wie er einen Apfel von einem Baum gestohlen hatte. „Es hat hinten eine Leiter stehen. Wissen Sie, ich habe kein Auto und mit dem Bus fahre ich nicht gerne, und da ich sowieso fast nebenan arbeite, kann zu Fuss gehen. Und ich will nicht immer um den ganzen Block herumlaufen, also klettere ich immer über die Mauer.“
Jean lächelte und sagte: „Entschuldigen Sie unser abruptes Eindringen, Sir, aber wir hatten Grund zur Annahme, dass Sie ein gesuchter Verbrecher seien. Tut uns wirklich leid. Die Tür werden wir natürlich bezahlen. Entschuldigen Sie vielmals. Wir wünschen Ihnen noch eine gute Nacht.“
Er lächelte entschuldigend und zog Dennis dann hinaus. Im Lift warf er ihm böse Blicke zu.
„Hey, Mann, es hätte doch wirklich gut zusammengepasst, oder? Ich meine, wer klettert schon mitten in der Nacht über eine Mauer?“
Noch immer ein wenig vom Schlaf betäubt sah Reggie auf die Tür, die von den beiden Männer wieder geschlossen worden war, sofern das überhaupt möglich war, denn das Schloss war zerstört. Sie hatte nicht die ganze Unterhaltung mitgekommen, war erst von Donnies Geschrei aufgeweckt wurden. Doch sie hatte verstanden, dass Donnie sie als seine Tochter ausgab und dass die beiden fremden Männer Polizisten waren, und vermutlich nicht normale Polizisten. Wahrscheinlich waren sie vom FBI.
Langsam sah sie zu Donnie. Er sah erschrocken aus, hatte sich schon wieder ganz gut unter Kontrolle. Er musterte sie kurz und wandte sich dann ab.
„Wir müssen sofort von hier verschwinden. Die werden mit einer ganzen Armee zurückkommen, wenn sie merken, dass nur ich allein hier bin, um Sie zu ‚bewachen‘. Es hat im Schrank Kleider und Unterwäsche in Ihrer Grösse, hoffe ich jedenfalls. Mein Freund hat das alles für uns besorgt. Packen Sie es sofort ein.“
Reggie schüttelte den Kopf, um den Nebel in ihrem Kopf zu vertreiben. „Sie meinen, die haben mich erkannt? Ich habe doch selbst das Foto in der Zeitung gesehen. Darauf sehe ich schrecklich aus. Niemand würde mich erkennen. Die werden nicht noch einmal kommen, und wenn, dann nur um zu fragen, ob wir etwas Verdächtiges gesehen haben.“
Donnie war überrascht, dass sie so schnell reagierte. Sie schien es hingegen gar nicht zu bemerken. „Ausserdem, wie wollen Sie an ihnen vorbeikommen. Einer sitzt jetzt bestimmt hinten auf der Mauer und wartet auf Sie. Oder sie haben Verstärkung angefordert, um beide Ausgänge zu bewachen.“ Sie setzte sich auf einen Sessel und zog die Beine eng an ihren Körper.
„Sie sehen zuviel fern, Reggie“, sagte Donnie lächelnd und setzte sich dann ebenfalls wieder hin. Es war ihm auf einmal peinlich, dass er in Boxershorts vor ihr stand. Er zog die Decke um sich, als habe er kalt.
Im Gegensatz zu vorher schien sie das zu bemerken. Doch sie hielt ihren Mund, während Donnies Gesicht sich leicht rot verfärbte.
„Das sagen meine Adoptiveltern auch immer“, gab Reggie zu. Sie stand wieder auf, stellte einen der teuren, perfekt geschnitzten Stühle unter die Türfalle und setzte sich wieder hin. „Wollen Sie immer noch abhauen, oder spielen wir eine Familie?“
Donnie konnte nicht so schnell denken, wenn er müde und nicht in Gefahr war. Also starrte er sie verständnislos an.
„Sie wissen schon, Sie sind der brave Geschäftsmann, der seine Tochter, die bei seiner geschiedenen Frau lebt, ungefähr einmal im Monat sieht.“
Vielleicht brachte es ja doch etwas, wenn sie zuviel in die Flimmerkiste starrte. Wenigstens hatte sie dann genug Ideen, um Verstecken mit der Polizei zu spielen. In den Filmen hatte das immer funktioniert. Mit den richtigen Ausweisen, die Donnie bestimmt beschaffen konnte, war es kein Problem. Theoretisch jedenfalls.
„Sie wollen hier bleiben und so tun, als wären Sie meine Tochter?“ fragte er fassungslos. Er konnte sie irgendwie nicht verstehen. Sie hatte die Chance, endlich nach Hause - oder zu dem, was davon übriggeblieben war - zurückzukehren, aber sie blieb bei ihm und wollte seine Tochter spielen.
„Jedenfalls will ich das lieber als umgebracht zu werden. Bei Ihnen weiss ich sicher, dass Sie mich nicht töten werden“, meinte sie lächelnd. Sie zögerte, als in ihrem Mund schon die Worte ‚Weil Sie mich mögen‘ lagen, und sprach sie dann nicht aus.
„Es würde mir wirklich gefallen, Ihren Vater zu spielen, wenn man bedenkt, wie berühmt Ihr wirklicher ist“, bemerkte er, „Aber es ist trotzdem gefährlich, hier zu bleiben. Die Agenten werden zum nächsten Computer rennen und dort mein Gesicht in den Verbrecherkarteien suchen. Und glauben Sie mir, sie werden es finden.“
Das war allerdings ein Argument. Früher oder später fanden sie heraus, dass Donnie nicht ein Geschäftsmann in dem Sinne war, in dem sie glaubten. Und früher oder später - möglicherweise eher früher - fanden sie auch heraus, dass sie nicht seine Tochter, sondern eigentlich seine Gefangene war. Das gäbe ihnen zwar bestimmt einiges Kopfzerbrechen, aber aufhalten würde es sie bestimmt nicht.
Also nickte sie. „Okay, dann werde ich jetzt meine Sachen packen. Aber Sie sollten überlegen, wie wir hier rauskommen.“
In ihrem Ton lag eine Schärfe, die beide vergessen liess, wer vor einiger Zeit noch der Chef gewesen war. Ein Grinsen unterdrückend meinte darum Donnie: „Jawohl, meine Gebieterin.“
Sie grinste ebenfalls und schlurfte mit müden Beinen in ihr Zimmer zurück. Der Schrank war tatsächlich voll mit Kleidern von ihrer Grösse. Sogar eine Jacke und eine Kappe hatte es, obwohl sie diese kaum brauchen würde. Sie nahm die Tasche am Boden auf und begann die Kleider, die teils nicht gerade billig gewesen sein durften, sorgfältig hineinzulegen. Die meiste von ihrer neuen Garderobe gefiel ihr. Der Mann, der das besorgt hatte - wenn es ein Mann gewesen war - hatte wirklich einen ausgezeichneten Geschmack.
Sie zog Bluejeans und ein T-Shirt an, darüber ein Hemd. Danach packte sie die Tasche und sah gerade noch, wie Donnie den Kühlschrank an die Wand zurück schob.
„Was machen Sie da?“ fragte sie verwirrt. Wer verschob schon seinen Kühlschrank?
Er warf ihr einen erschrockenen Blick zu und zeigte ihr dann die schwarze Waffe in seiner Hand. „Die musste ich verstecken, aber jetzt muss ich sie leider mitnehmen“, erklärte er und liess sie unter seinem Pullover, den er inzwischen angezogen hatte, verschwinden.
Reggie fühlte sich nicht besonders wohl mit dem Wissen, dass er eine Waffe unter seinem Arm trug. Doch er war ein Krimineller, und Kriminelle hatten meistens Waffen unter dem Arm, und manchmal auch noch welche an den Knöcheln.
Also sagte sie nichts und fragte statt dessen: „Und haben Sie einen Plan, wie wir hier herauskommen? Hat es an der Mauer wirklich eine Leiter?“
Donnie nickte. „Ich erzähle der Polizei nicht gerne Lügen, die nicht stimmen“, Reggie hob belustigt die Brauen, „Wenn an der Hintertüre eine Wache steht, machen Sie sich darauf gefasst, dass ich einfach zuschlagen werde. Das sage ich nur so als kleine Vorwarnung.“
Sie lächelte sarkastisch. „Vielen Dank, aber ich das schon im Fernsehen gesehen. Machen Sie sich also keine Sorgen um meinen Gemütszustand.“
Sie zeigte zur Tür und meinte, dass er vorausgehen müsse. Er nickte und ging leise rennend die Treppe hinunter. Reggie folgte ihm. Sie hatte grosse Lust, einfach zur Polizei zu rennen, aber sie wollte nicht sterben. Der Spion im Weissen Haus würde sie ihre Gefangenschaft, die jetzt sowieso keine mehr war, so schlimm machen, dass sie für einen psychischen Schock davontragen würde. Jedenfalls redete sie sich das ein, um keinen Unsinn zu machen. Der Spion könnte sie auch einfach umbringen, das war auch keine besonders angenehme Vorstellung.
Bei der Hintertüre hielt sich Donnie den Zeigefinger auf die Lippen. Sie nickte stumm. Er drückte den Lichtschalter und es wurde dunkel. Seine Hand lag auf der Türfalle und er sammelte sich kurz. Dann öffnete er die Tür langsam. Er spähte hinaus, seine Augen suchten die Dunkelheit ab. Gleich neben der Wand sass ein Mann, dessen Kopf auf seiner Brust lag. Besonders wach sah er nicht aus. Bevor Reggie draussen war und sehen konnte, was er tat, schlug er ihm mit der Handkante in den Nacken, damit er nicht aufwachte, sollten sie Lärm veranstalten. Schnell zog er Reggie hinaus und schob sie die Leiter hoch, die an der Mauer lag. Sie zweifelte an der Sicherheit dieses Aufstiegs, kletterte aber schnell hoch, um schnell wieder runter zu kommen.
Auf der anderen Seite hatte es keinen Abstieg, doch dafür war stand eine Bank gleich unter Reggie. Sie sprang hinunter und wartete auf Donnie. Dieser rannte weiter, während er sie hinter sich her zog. Sie rannte über ein Grundstück, das wie ein Schrottplatz aussah, und kamen zur Strasse. Dort bremsten sie ihr Tempo und benahmen sich wie normale Spaziergänger. Doch sobald ein Taxi an ihnen vorbeifahren wollte, streckte Donnie den Arm aus und hielt es an. Er nannte dem Fahrer als Ziel die Bushaltestelle der Busse, die sehr lange Fahrten machten.
Reggie fragte nicht, was ihr Ziel in einem der Busse war. Vermutlich irgendein entferntes Aussenviertel auf der anderen Seite von New York, oder noch weiter weg; ein Dorf, eine kleine Stadt, wo ein Freund, der ihm zufälligerweise einen Gefallen schuldete, eine Wohnung hatte. Es wäre für sie viel logischer, wenn sie auf den Flughafen fliegen, dort mit gefälschten Ausweisen in ein Flugzeug steigen und weit weg fliegen würden. Bis irgendwer herausgefunden hatte, dass die Ausweise gefälscht waren und die zuständigen Polizeistellen informierte, waren sie schon längst wieder weg und niemand würde je erfahren, wo sie wären.
Es klang so einfach, zumindest im Fernsehen. Im wirklichen Leben wurde es schwieriger und sie wusste, dass sie sich da mehr auf Donnie verlassen sollte. Er hatte zwanzig Jahre mehr Erfahrung als sie, dazu noch in diesem Geschäft. Sie war ein behütetes und wenn möglich verwöhntes Kind, das noch nie irgendwelche Gewalt gesehen hatte, ausser vielleicht Prügeleien unter zwei wütenden Jugendlichen. Das war nie etwas ernstes, es hatte nichts mit dem Leben in diesem Business zu tun, in dem Donnie lebte. Wenn es bei ihnen Unstimmigkeiten gab, starb jemand. Aber das glaubte sie auch wieder einfach so zu wissen, obwohl es eigentlich aus dem Fernsehen stammte.
Der Fahrer hielt an und Donnie bezahlte ihn. Sie stiegen aus. Schnurstracks hielt er auf eine Tür zu, über der in leuchtenden blauen Buchstaben ‚Tickets hier‘ stand. Der Mann hinter den Tresen sah müde, sehr müde aus und er gähnte fast ununterbrochen. Mit monotoner Stimme fragte er sie nach ihrem Ziel.
„Washington D.C.“, antwortete Donnie und Reggie horchte auf. Warum in Gottes Namen wollten sie ausgerechnet nach Washington? Das war bestimmt wieder so ein Gangstertrick. Geh dorthin, wo dich niemand erwartet. Sie folgten ohne jede Einschränkung diesem Trick.
Jetzt, da sie einmal erwischt worden waren, an einem Ort, der so auffällig war wie sonst nichts, glaubte die Polizei - und wohl auch die Entführer, sollten sie etwas mitkriegen, dass sie sich nun ein besseres Versteck aussuchten. Das war aber nicht nach Donnies Sinne, wie es den Anschein hatte. Er wollte alle noch einmal an der Nase herumführen.
Der Mann gab ihnen die Tickets und sagte, dass der Bus erst morgen um sechs Uhr fuhr. Er habe Verspätung, weil unterwegs ein Reifen geplatzt war. Sie gingen in den Wartesaal, wo schon mehrere andere Gäste auf den Bus warteten.
Ein junges Pärchen sass in einer Ecke und hielten sich schlafend an den Händen. Sie hatte ihren Kopf auf seine Schulter gelegt, während er wiederum seinen Kopf auf den ihren gelegt hatte. Gegenseitig stützten sich so beide. Auf dem Boden um sie herum lagen Krümel von den verteilten Brötchen. In der Hand des Mannes lag ein angebissener Apfel, der schon ziemlich gelb war.
In einer anderen Ecke hatte es sich ein Mann bequem gemacht. Er lag mit seinem Mantel bedeckt auf dem Boden und schlief. Er wälzte sich aber immer wieder hin und her. Wahrscheinlich war sein Bett zu Hause bequemer. Neben ihm lag seine Reisetasche, aus der ein Flaschenhals hervor schaute. Der Mann schlief wahrscheinlich gar nicht, sondern war so betrunken, dass er sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte.
Auf den Stühlen, die in der Mitte des Raumes aufgestellt waren, sassen etwa zehn Passagiere, die im hellen, stechenden Licht Zeitung lasen. Auch sie gähnten ab und zu einmal, aber sonst hatte es den Anschein, als seien sie noch recht wach.
Donnie steuerte ebenfalls auf einen der Stühle zu und zog Reggie einfach mit. Sie würde sich lieber ebenfalls auf den Boden legen und einschlafen, aber sie ahnte schon, dass dieses überaus helle Licht ihren Schlaf stören würde. Also setzte sie sich neben Donnie.
„Wieso gehen wir nach Washington? Wollen Sie den Spion selbst aufspüren?“ fragte sie leise, so dass es niemand ausser ihm hören konnte.
Donnie nickte. „Genau das habe ich vor. Ich fühle mich äusserst wohl in Ihrer Gesellschaft, Reggie, das muss ich zugeben“, sie spürte, wie sie errötete, „aber ich weiss, dass Sie sich in meiner nicht so wohl fühlen wie ich mich in Ihrer.“
Sie errötete noch mehr, und protestierte, wobei sie die Stimme erhob. Sofort legte Donnie den Finger auf den Mund. „Das ist nicht wahr. Ich fühle mich sicher bei Ihnen, sicherer, als ich es im Weissen Haus tun würde.“
Auffordernd sah er sie an. „Aber ...?“
„Aber Sie werden verstehen, dass ich auch nicht immer so leben möchte wie Sie. Es ist aufregend, für eine gewisse Zeit, bis man kapiert, wie gefährlich es sein kann“, antwortete sie leise. Sie wünschte, sie könnte ihm sagen, was sie wirklich für ihn empfand. Das war nämlich weit mehr als nur, dass sie sich sicher bei ihm fühlte.
„Natürlich verstehe ich das. Darum gehen wir auch nach Washington. Ich werde Informationen auftreiben, die uns helfen, den Spion aufzutreiben. Vielleicht kann ich der Polizei den Hinweis mit dem Spion zukommen lassen, so dass Mulroney selbst redet, wenn dadurch seine Strafe ein wenig gemildert wird.“
Reggie lächelt dankbar. Sie war wirklich erfreut, dass er ihr so helfen wollte und sie indirekt nicht zwang, nichts zu tun und zu warten, bis etwas passierte. Ganz bestimmt konnte er den Verräter besser finden als alle anderen. Und wenn er ihn fand, würde Reggie mit allem, was sie hatte, dafür sorgen, dass er schon gar nicht geschnappt, und wenn, dass er keine Strafe oder keine allzu hohe bekam. Er hatte ihr das Leben retten, da konnte sie dasselbe auch für ihn tun. Das war doch nur ein fairer Handel.
Sie sah auf die Uhr. Bis der Bus ankam, mussten noch über sechs lange Stunden vergehen. Was sollte sie bloss bis dahin tun?
„Glauben Sie, dass die Polizei uns finden wird, bevor wir hier weg können?“ fragte sie leiser als zuvor. Wenn jemand die Polizei erwähnte, wurden alle Leute sofort viel aufmerksamer und lauschten.
„Nein, ich denke nicht. Wir könnten uns auch einen Mietwagen genommen haben, oder einen anderen Bus, der früher fuhr. Wir könnten auch nur gerade im nächsten Motel sein. Es gibt so viele Möglichkeiten. Ausserdem, warum sollten sie uns suchen? Sie wissen nicht, dass wir nicht mehr da sind.“
Reggie lachte ein bisschen zu laut. Neugierige Blicke richteten sich auf sie, so dass sie sofort wieder ernst wurde. „Glauben Sie, ich habe nicht gesehen, wie Sie den Wachmann geschlagen haben? Der wird unterdessen schon längst Alarm geschlagen haben. Und der Verdacht wird logischer Weise zuerst auf uns fallen.“
Donnie war erstaunt über ihre Wachsamkeit. Eigentlich war er der Meinung gewesen, dass er sie überzeugt hatte, dass der Mann schlief, freiwillig. Das war falsch angenommen gewesen.
Als Jean und Dennis wieder beim Auto waren, spielte Jean eine Weile den Beleidigten. Dennis liess ihn und starrte statt dessen auf des Fenster seines Verdächtigen. Das Licht blieb und er konnte Schatten erkennen, die sich wenig bewegten. Er wurde einfach das Gefühl nicht los, dass irgend etwas nicht stimmte. Der Mann war noch nicht so alt gewesen, um eine Tochter zu haben, die schon um die zwanzig war. Es stimmte einfach nicht.
„Wir sollten Verstärkung rufen und den Hintereingang bewachen. Wenn sie zu fliehen versuchen, werden sie ihn benutzen“, sagte er zu seinem Freund.
„Sie sind nicht die, nach denen wir suchen, schon vergessen?“ erinnerte Jean ihn. Er glaubte immer noch nicht, dass sie es war.
Dennis wurde sich bewusst, dass er sicher war, dass sie es waren, dass er nicht nur ein schlechtes Gefühl bei ihnen hatte. Was machte ihn so sicher? War es die Art des Mannes? Er sah nicht so aus wie ein Geschäftsmann, der den ganzen Tag am Bürotisch sass. Im Gegenteil, eigentlich sah er ziemlich kräftig aus. Oder war es das Mädchen? Sie hatte die gleichen Locken wie die Entführte und obwohl ihr Gesicht nicht gleich aussah, könnte es doch sie sein. Sie hatte, als er sie sah, die Augen gegen das Licht zusammengekniffen und war vom Schlafen noch ganz ‚zerknittert‘. Wenn er sie am Tag gesehen hätte, hätte er sie bestimmt erkannt. Ausserdem war das Foto ja auch schon älter. Sie könnte sich unterdessen verändert haben.
„Wir sollten trotzdem Verstärkung rufen. Nur zur Sicherheit. Vielleicht haben die richtigen Entführer mitbekommen, was gelaufen ist und versuchen jetzt zu fliehen. Schaden tut es bestimmt nicht“, erwiderte Dennis wieder.
Jean seufzte, nahm aber trotzdem das Mikrophon in die Hand und bat die Zentrale um Verstärkung.
Am nächsten Morgen wachte Lee unerwartet früh auf. Es war gerade erst sieben Uhr. Sie hatte geglaubt, sie würde durchschlafen bis am Mittag, aber sie war viel zu beunruhigt dazu. Ihre Freundin war noch immer in den Händen dieser Entführer, und sie konnte ihr nicht helfen.
Sie stand auf und sah erstaunt einen Stuhl, auf dem Kleider in ihrer Grösse lagen. Sie duschte sich ausführlich in ihrem eigenen Badezimmer und zog dann die neuen Sachen an. Es war ein gutes Gefühl, wieder ganz sauber zu sein.
Eine der Verbindungstüren führte zum Wohnzimmer. John sass bereits dort, ass Frühstück und sah Berichte durch. Erstaunt sah er auf, als sie eintrat.
„Ich hätte dich noch nicht so früh erwartet“, meinte er und sie lächelte müde. Warum sie so früh auf war, konnte er sich wohl denken.
Sie setzte sich neben ihn und griff sich eines der Brötchen, die in einer Korb auf dem Tisch lagen. Sie schmeckten so, als wären sie noch nicht fünf Minuten aus dem Ofen heraus genommen worden.
„Hast du schon etwas von Reggie gehört?“ fragte sie hoffend.
Er schüttelte entschuldigend den Kopf. „Nein, die Entführer haben sich noch nicht gemeldet. Aber die Männer, die das Haus bewachen, in dem sie vermutlich sind, haben -“
„Vermutlich? Warum nur vermutlich?“ bemerkte Lee.
„Es könnte sein, dass sie schon wieder geflohen sind. Wir wissen es nicht genau. Es ist unwahrscheinlich, aber es könnte sein.“
Sie nickte leicht. Sie konnte ja nicht erwarten, dass diese Profis nicht gemerkt hatten, dass ihnen immer ein Wagen gefolgt war. Sie sah ihren Vater an, damit er fortfuhr.
„Die Männer haben einen Verdächtigen, der mit einer jungen Frau im Haus wohnt. Sie sagen zwar, dass das Mädchen seine Tochter sie, aber die beiden Männer sind die besten, die wir haben. Ich glaube ihnen, wenn sie sagen, dass sie nicht sicher sind, ob die wirklich die Wahrheit erzählen. Sie werden heute morgen noch hierher kommen, zusammen mit der Identifizierung. Du kannst uns sagen, ob er einer der Entführer ist.“
Sie stimmte sofort zu. Endlich konnte sie einmal etwas tun, sei es auch nur zu sagen, ob sie ihn kannte oder nicht.
„Ich habe allerdings nur zwei oder drei gesehen“, gab sie zu.
John winkte ab. „Wenn du ihn nicht kennst, werden meine Männer nach Verbindungen zu diesem Fall suchen. Das geht allerdings viel länger.“
In diesem Moment klopfte es an die Tür und zwei Männer im Anzug kamen herein. Sie gaben dem Präsidenten die Hand.
„Das ist Lee Peterson. Sie war eine der Entführten“, stellte er sie vor und warf ihr dabei einen bittenden Blick zu. Sie verstand den Wink. Noch niemand wusste, dass sie seine Tochter war.
„Das sind Jean Simmons und Dennis Hemingway. Sie haben das Haus heute Nacht überwacht.“
Sie gab den beiden die Hand und lächelte leicht. Sie sahen nicht so aus, wie sie sich Agenten des FBI vorstellte. Sie war sich zwar nicht sicher, wie sie sich vorstellte, aber so wie die beiden sicher nicht.
„Wir haben den Mann identifizieren können. Seine Name ist Donald Franco Marcano. Er wurde schon in mehreren Mordfällen als Verdächtiger aufgeführt, aber meistens wurde er nicht verurteilt. Man konnte ihm nie einen richtigen Beweis anhängen. Ausserdem ist er einer der führenden Unterwelt-Bosse. Über ihm ist nur noch einer, nämlich sein Vater“, sagte der Mann, der Lee als Jean vorgestellt worden war.
Er nahm ein paar Bilder hervor und zeigte ihm einen Mann in den Vierzigern. Seine Haare waren überall mit Gel nach hinten gekämmt, zeigten aber auf den schwarzweissen Bildern noch keine grauen Strähnen.
„Ja, das ist einer von ihnen. Er und ein anderer haben uns entführt. Er war aber sehr höflich zu uns. Ich glaube nicht, dass er uns etwas getan hätte“, sagte Lee.
Es war der Mann, den die anderen Donnie nannte, der eine Art zweiter Chef war, gleich hinter Mulroney. Vermutlich hatte er nach Mulroneys Verhaftung das Kommando übernommen und befohlen, dass alles abgebrochen wurde. Dabei kümmerte er sich selbst um Reggie, damit sie nicht davonlief.
Aber es machte keinen Sinn. Warum sollte Reggie sagen, sie sei seine Tochter? Sie war seine Gefangene, und hatte keinen Grund, Sympathien zu ihm zu hegen.
„Das Mädchen konnten wir nicht identifizieren, sie sah ziemlich ... verschlafen aus. Man sah nicht besonders viel von ihrem Gesicht, aber wir nehmen an, dass es Regina Cormack ist“, sagte nun Dennis.
Unwillkürlich musste Lee lächeln. Kurz nach dem Schlafen sah Reggie immer aus, als hätte sie sich eine Woche lang nicht mehr gekämmt. „Dann ist es Reggie“, meinte sie und grinste.
Die beiden Männer musterten sie kurz und nickten. „Das nehmen wir auch an. Wir haben eine Fahndung höchster Priorität eingeleitet.“
„Warum eine Fahndung? Sind sie denn nicht mehr im Haus?“ fragte nun der Präsident erstaunt. Ihm hatte schon die Erleichterung überfallen, dass nun alles wieder in Ordnung sei.
Jean schüttelte bedauernd den Kopf. „Sie müssen abgehauen sein, kurz bevor wir Verstärkung angefordert hat. Unser Mann am Hintereingang haben wir bewusstlos aufgefunden. Er wurde niedergeschlagen. Es ist vermutlich Marcano gewesen.“
Seufzend meinte John: „Haben Sie schon einen Verdacht, wo sie jetzt sind?“
Die Männer sahen einander an und wurden langsam nervös. Jetzt wussten sie mit Bestimmtheit, dass dem Präsidenten viel an der Sache lag. Wenn sie den Mann und das Mädchen nun nicht mehr fanden, würde es eine Katastrophe geben.
„Nein, Sir, wir haben keine Ahnung“, antworteten sie ehrlich, „Doch wir nehmen an, dass sie nicht dorthin wollen, wo man sie vermutet. Vermutlich gehen sie genau dorthin, wo wir glauben, dass sie nicht sind.“
„Und wo wäre das?“ fragte Lee neugierig. Es war ein guter Trick. Sie sollte ihn sich merken, falls sie mal etwas ähnliches machen müsste.
„Entweder blieben sie ganz in der Nähe des Hauses und haben sie irgendwo ein Motel genommen, oder dann sind sie nach Washington D.C. gegangen“, antwortete Jean sachlich. Er war sich sicher, dass es Washington war, aber New York konnte man nicht ausschliessen.
„Warum ausgerechnet Washington?“ fragte Lee.
„In Washington ist das Weisse Haus“, erklärte John ihr, „Ich hatte vor, morgen oder übermorgen wieder zurück zu reisen. Wenn ich dort bin, sind die Sicherheitsmassnahmen immer verschärft. Kein Krimineller würde mit seiner Geisel ausgerechnet nach Washington gehen, wo an jeder Ecke ein Polizist steht.“
Lee wusste, dass das ein bisschen übertrieben war, aber es wurde ihr jetzt klar. Nur war da etwas noch ziemlich faul. „Hat Reggie gesagt, sie sei Donnies Tochter?“ fragte sie die Agenten.
Dennis schüttelte den Kopf. „Nein, aber sie hat es gehört, als er es sagte. Sie hat nicht widersprochen.“
Warum sollte sie das tun? Hatte er ihr Drogen gegeben? Sie vielleicht mit Hypnose dazu gezwungen, so zu tun, als sei sie seine Tochter? Oder machte sie es freiwillig? Aber das war doch unsinnig. Sie war seine Geisel. Er hatte gedroht, sie umzubringen, wenn der Präsident nicht bezahlte.
Den anderen schienen die gleichen Gedanken durch den Kopf zu gehen. „Mr. President, wenn wir sie finden, was sollen wir dann tun?“ fragte Dennis verwirrt. Er war schon lange bei dieses Einheit, aber so ein Fall war ihm noch nie unter die Finger gekommen; eine Geisel, die freiwillig bei ihrem Geiselnehmer bleiben wollte.
„Verhaftet Marcano und bringt Reggie dorthin, wo wir dann sind. Wenn sie freiwillig bei ihm geblieben war, wird sie sich vor Gericht verantworten müssen“, antwortete John. Es war ihm nicht recht, so etwas zu befehlen, aber so sagte es das Gesetz.
„Was?“ rief Lee aus, „Du willst sie anklagen?“
Jean und Dennis warfen sich einen Blick zu. Warum sagte das Mädchen ‚du‘ zum Präsidenten? Das war nur ganz wenigen Menschen vorbehalten. Viele sprachen ihn mit dem Vornamen an, aber mit ‚du‘? Soweit sie wussten, sagte nur seine Familie zu ihm ‚du‘.
John fiel es auch auf, dass sie ihm ‚du‘ sagte, aber er liess sich nichts anmerken. „So ist das Gesetz. Irreführung der Behörden. Beihilfe krimineller Machenschaften. Was auch immer. Dagegen bin selbst ich machtlos.“
Lee schnaubte laut. Reggie sollte angeklagt werden, weil sie entführt worden war. Da konnte doch irgend etwas nicht stimmen. Lautlos fragte sie sich, warum Reggie freiwillig bei Donnie blieb. Klar, er war nett zu ihnen gewesen. Er hatte sich Sorgen um sie gemacht. Aber er blieb ihr Feind. Was war geschehen, seit sie hatte fliehen können? Hatte sich Reggie etwa verliebt?
Im Bus war es heiss. Obwohl es erst neun Uhr morgens war, schien die Sonne schon ziemlich stark. Alle schwitzten wahnsinnig, aber man konnte die Fenster nicht aufmachen. Manche fächerten sich mit einem Heft ein bisschen Luft zu, während die anderen schliefen, so dass sie die Hitze nicht spürten.
Reggie und Donnie sassen ziemlich weit hinten. Sie hatten genauso heiss wie ihre Umwelt. Reggie hatte soviel ausgezogen, wie sie konnte, aber trotzdem lief ihr der Schweiss noch immer in Strömen den Rücken hinab.
„Wir wären besser in New York geblieben“, flüsterte sie zu sich und wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiss aus dem Gesicht.
„Wir können beim nächsten Halt immer noch aussteigen. Das wäre vielleicht sogar klug. Wenn die Polizei darauf kommt, dass wir in diesem Bus sitzen, gehen sie nach Washington, während wir noch immer in New York sind“, meinte Donnie.
Reggie hatte sich während der Reise immer wieder gefragt, warum sie das tat. Hatte sie solche Angst vor diesem Spion? Er konnte ihr nichts tun, wenn sie nicht in seine Nähe kam. Zwar hatte sie keine Ahnung, wer er war, aber sie konnte den Kontakt auf ein paar Personen beschränken; auf Lee, den Präsident und seine Familie, ihren Vater und ihre Mutter. Wenn sie wüssten, dass sie einen Spion unter sich haben, würden sie nach ihm suchen. Aber sie wussten es ja nicht, also suchten sie nicht nach ihm. Es wäre doch besser, wenn man sie informieren würde.
Donnie hatte ihr gesagt, er würde sie entweder finden oder dafür sorgen, dass man ihn nicht fand. Wenn man nicht nach ihm suchte, würde man ihn noch weniger finden. Sie mussten der Polizei sagen, dass sie jemandem nicht trauen konnte. Das sagte sie auch Donnie, doch er schüttelte wieder nur den Kopf.
„Nein, das geht nicht, Reggie. Überlegen Sie doch mal: Wenn wir anrufen, dann wissen alle, dass ein Spion gesucht wird. Wenn wir aber nichts sagen und jemand auf den Verdacht kommt, wird er ganz diskret vorgehen und es in aller Stille erledigen, damit der Spion sich nicht der verstecken kann.“
Sie widersprach trotzig: „Ich kann mich ja direkt mit dem Präsidenten verbinden lassen und nur ihm sagen, dass es einen Spion gibt.“
Ein Lächeln erschien in Donnies Augen. Er bewunderte ihre Hartnäckigkeit und hoffte, ihm gingen die Argumente nicht aus. Sobald sie einen Grund hatte, anzurufen, war es vorbei.
„Glauben Sie, das fällt nicht auf, wenn Sie auf einmal anrufen, und nur mit dem Präsidenten sprechen wollen? Zumindest der Spion wird wissen, was los ist.“
Seufzend lehnte sich Reggie wieder zurück. Donnie hatte recht. Egal, was sie machte, der Spion würde es wissen. Es hatte gar keinen Sinn, darüber nachzudenken. Es liess sich nicht ändern. Sie würde abwarten müssen. Mehr konnte sie im Moment einfach nicht tun.
Sie legte den Kopf auf die Lehne und versuchte, ebenfalls zu schlafen, wie die anderen. Aber sie konnte nicht. Ihre Gedanken schweiften um eine Möglichkeit, den Präsidenten zu warnen und irgend etwas zu unternehmen. Sie wollten einfach nicht zur Ruhe kommen. Zwar fielen ihr die Augen fast im Stehen zu, aber schlafen war trotzdem unmöglich.
Donnie ging es ähnlich. Er hatte den Kopf an das Fenster gelegt und die Augen geschlossen, aber er schlief nicht. Er dachte darüber nach, was er hier eigentlich tat. Er zwang Reggie gewissermassen, bei ihm zu bleiben, indem er ihr Angst vor einem Spion machte, der vielleicht noch gar nicht wusste, was sich hier abspielte. Nur damit sie bei ihm blieb. Wie lange wollte er dieses Versteckspiel spielen? Sie konnte nicht bis an sein Lebensende bei ihm bleiben? Wollte er sie nur einmal verführen und sie sich abschminken? Was wollte er eigentlich von ihr? Er wusste es nicht. Sein Plan war gewesen, sie vor seinen Freunden zu retten, die sie umbringen wollten. Weiter hatte er nicht studiert. Er hatte angenommen, dass sich dann alles von alleine ergeben würde.
Der Bus fuhr auf einen grossen Parkplatz einer Autobahnraststätte. Der Fahrer sagte, dass sie eine halbe Stunde Zeit hätten, um Frühstück zu essen. Reggie und Donnie standen auf und gingen mit den anderen in das klimatisierte Restaurant. Aufatmend setzten sie sich an einen freien Tisch.
„Ich hoffe doch, Sie haben Geld, oder?“ fragte Reggie, als sie die Karte studierte. Die Preise waren alle vollkommen überteuert, aber für eine Raststätte, die ausserhalb lag, musste es wohl so sein.
Donnie lachte. „Natürlich habe ich Geld.“
Reggie fand das gar nicht so lustig. Sie waren so überstürzt abgehauen, dass Donnie im ganzen Ärger vielleicht das Geld vergessen hatte. Doch er war Profi, der seit seiner Kindheit im Geschäft war. Vermutlich dachte er bei einer Flucht immer als erstes ans Geld.
Sie bestellten sich beide etwas zum Essen. Die Kellnerin war unhöflich und gereizt. So wie sie aussah hatte sie wohl die ganze Nacht schon arbeiten müssen.
„Steigen wir jetzt wieder ein oder fahren wir nach New York zurück?“ fragte Reggie, als die Kellnerin wieder weggegangen war.
Donnie zuckte mit den Schultern. „Was ist Ihnen lieber? Wir können beides tun. Es ist mir eigentlich egal“, antwortete er.
Reggie war es eigentlich auch egal. Sie wusste, dass der Präsident bald wieder nach Washington zurück ging, aber sie wusste nicht wann. Es könnte auch erst in einer Woche sein. Wahrscheinlich war es das beste, wenn sie nach Washington gingen. Sie konnten sich ein wenig einleben. Vielleicht hatte Donnie irgendeinen guten Freund, der ihm einen Gefallen schuldete, so dass dieser sich ein wenig nach dem Spion umschauen konnte.
„Ich hätte da eine Idee, Reggie, aber Sie müssen damit einverstanden sein“, erklärte da Donnie und zögerte. Sie nickte ihm auffordernd zu.
„Der Sohn des Präsidenten, Christopher Leard, treibt sich oft ausserhalb der Reichweite seiner Bodyguards herum, wenn Sie verstehen, was ich meine. Es wäre kein Problem, an ihn heran zu gelangen. Ich könnte arrangieren, dass Sie ihn kennenlernen. Erklären Sie ihm Ihr Problem. Er könnte ohne Aufmerksamkeit zu erregen nach dem Spion suchen.“
Reggies Herz fing an zu klopfen. Sie sollte den Sohn des Präsidenten treffen, der Bruder ihrer besten Freundin. Das war phantastisch. Der Junge sah wirklich gut aus, man sah ihm nicht an, dass er eigentlich ein Jahr jünger als sie war. Sie hatte gehört, dass er gerne Risiken einging. Machte er das auch gerne für andere Personen?
„Was meinen Sie mit Kennenlernen?“ fragte Reggie, obwohl ihre Entscheidung eigentlich feststand.
„Er feiert gerne grosse Partys. Er kann nie alle Leute kennen, die dort erscheinen. Sie gehen einfach mit einem Freund von mir mit und beginnen dann ein Gespräch mit Christopher“, Donnie zögerte leicht, „Vermutlich werden Sie Ihre weiblichen Reize ein wenig einsetzen müssen.“
Reggie lief rot an und sah auf ihr Essen. Sie sollte sich an ihn heranmachen. Mit einem Auge bemerkte sie, dass es auch Donnie ein wenig peinlich war. In seinen Augen lag aber nicht nur Verlegenheit, sondern auch schon Eifersucht. Sie machte sich an Christopher heran, nicht an ihn. Es war ein gutes Gefühl zu wissen, dass man geliebt wurde. Vor allem dann, wenn man die Liebe erwidern konnte.
„Wie sehr muss ich sie einsetzen?“ fragte sie weiter, um ihm zu zeigen, dass sie nicht alles für das tun würde.
„Bis er sich bereit erklärt, Ihnen zu helfen. Wenn Sie Glück haben, hat er nicht von dieser Entführung gehört. Vielleicht erkennt er Sie nicht.“
Sie runzelte leicht die Stirn. „Und warum sollte er mir helfen? Nur um mir einen Gefallen zu tun?“
Donnie lächelte geheimnisvoll. „Sagen Sie ihm, Sie können ein Treffen mit Marcano arrangieren, wenn er den Spion hochgehen lässt.“
Wieder runzelte sie die Stirn. Sie wusste gar nicht, dass sie das konnte. „Wer ist Marcano? Warum sollte ihn das überzeugen?“
Donnie legte einen Finger auf den Mund. „Bitte, Reggie, nicht so laut. Marcano ist der Boss in der Unterwelt. Er ist über alles informiert, was im Verbrechermilieu vorgeht. Mir sind Gerüchte zu Ohren gekommen, dass der junge Leard sich sehr für Marcano interessiert.“
Sie überlegte kurz. Donnie kannte also den Boss der Unterwelt. Wenn er ein Treffen arrangieren konnte, dann bedeutete dies, dass Marcano wusste, was er hier tat. Und er tat nichts dagegen. Es war irgendwie nicht ganz klar.
„Also weiss dieser Marcano, was Sie hier tun?“ fragte sie zweifelnd. Vielleicht gab es doch etwas, was Marcano nicht wusste.
„Ja, er weiss es. Und er steht auf meiner Seite. Er ist nicht für das Töten, wissen Sie. Das würde man ihm nicht zutrauen, aber er vermeidet es so wie ich, jemanden zu töten, wenn es nicht unbedingt sein muss. Er hielt es für einen dummen Plan, Sie umzubringen, als ich ihm das mitteilte, doch er unternahm nicht. Er hat nur angedeutet, dass er mir helfen werde, wenn ich das ändern will.“
Die Verbindung von Donnie zu Marcano musste ziemlich eng sein.
„Er würde es für mich riskieren, dass er festgenommen wird? Ich meine, Christopher könnte doch der Polizei den Treffpunkt mitteilen und alle hochgehen lassen“, meinte Reggie. Wollte Marcano dieses Risiko wirklich eingehen, nur um einem Menschen das Leben zu retten?
„Christopher lebt nicht wie sein Vater. Bei allem, was er tut, überlegt er sich, ob es seinem Vater gefällt oder nicht. Wenn es ihm gefallen sollte, macht er es nicht. Er würde nie jemanden an die Polizei verraten, der seinem Vater nicht gefällt.“
Reggie lachte. Also stimmte es doch, wenn die Leute behauptete, dass Christopher ein Rebell sei. Allerdings hätte sie nicht gedacht, dass es so schlimm war. Sie war einverstanden damit, Christopher um Hilfe zu bitten. Es würde bestimmt ganz lustig werden, sein Gesicht zu sehen, wenn er jemanden begegnete, der ein Treffen zwischen ihm und seinem Vorbild vorbereiten konnte.
Lee und ihr Vater sassen schweigend am Tisch und assen. Ihre Gedanken kreisten um das gleiche Thema. Warum gab sich Reggie als Donnies Tochter aus? Die Drogen hatten sie ausgeschlossen, genauso wie die Hypnose. Man konnte keinem Menschen sagen: Du bist jetzt mein Kind, und dieser dachte dann auch, dass er das war. Mit irgend etwas musste Donnie sie dazu gezwungen haben, zu sagen, dass sie seine Tochter sei. Irgendeine Drohung musste sie überzeugt haben. Sie würde das doch nie freiwillig machen. Auch nicht, wenn sie sich verliebt hatte?!
„Wann willst du sagen, dass ich deine Tochter bin?“ lenkte sie sich selbst ab.
John sah erstaunt auf, überlegte kurz und gestand: „Ich habe noch nicht darüber nachgedacht. Es ist für einen Präsidenten ziemlich schwierig, Fehler zuzugeben.“
Lee hatte mit Politik nicht viel am Hut, aber sie konnte sich die Schwierigkeiten vorstellen. Die Presse würde über ihn herziehen. Sie würde in ihrem Leben jedes Missgeschick finden und ein riesiges Drama daraus machen. Der Präsident musste vielleicht auf seine Wiederwahl verzichten.
Die Entscheidung war schwer. Sie mussten einen guten Zeitpunkt abwarten. Am besten war es, wenn sie warteten, bis Reggie wieder in Sicherheit war. Die Erklärung, warum sie entführt worden waren, musste dann kommen.
„Einer meiner Berater hat mir gesagt, dass bereits Gerüchte über dich kursieren. Alle fragen sich, warum du hier untergebracht bist, und nicht in einem anderen Hotelzimmer. Die einen sagen, du seist die Freundin meines Sohnes, die anderen liegen richtig und sagen, du bist meine Tochter. Ein paar ganz freche Mäuler behaupten, ich habe ein Verhältnis mit dir.“
Lees Mundwinkel glitten nach oben. Sie war noch nicht einmal volljährig und sollte ein Verhältnis mit einem Mann haben, der über dreissig Jahre älter war. Da hatte die Gerüchteküche aber ein bisschen zuviel Phantasie verbraucht.
„Wissen deine Berater, wer ich bin?“ fragte sie neugierig. Es war bestimmt nicht einfach, diesen Beratern klar zu machen, dass Lee hier bleiben soll, ohne ihnen den Grund zu nennen.
John nickte. „Ja, sie wussten auch schon von der Adoption. Ich habe ihnen den Auftrag gegeben, dass sie dich während der ganzen Zeit beobachten sollen. Ich wollte sicher sein, dass du es wirklich gut hast, bei deinen Pflegeeltern.“
Gerührt glitt ein Lächeln auf ihr Gesicht. Es war gut zu wissen, dass immer jemand da gewesen wäre, wenn ihre Eltern sie misshandelt hätten, oder wenn es ihr schlecht gegangen wäre.
„Sir! Entschuldigen Sie die Störung, Mr. President, aber wir haben eine Spur. Wir sind sicher, dass der Verdächtige den Bus genommen hat, um nach Washington zu kommen. Der Nachtwächter hat eine Beschreibung bestätigt.“ Der Mann stürzte schwer atmend ins Zimmer.
Der Präsident stand auf und sah den Mann an. „Mit dem Bus nach Washington. Sind Sie ganz sicher, dass es wirklich der Verdächtige und seine Geisel sind?“
Der Mann nickte und schnappte nach Luft. „Der Mann sagte allerdings, sie hätte nicht so ausgesehen, als habe sie besonders viel Angst vor Marcano, Sir. Sie sei freiwillig bei ihm geblieben. Sie hätte genug Möglichkeiten zum Abhauen gehabt.“
Der Präsident sah auf Lee. Ihre Stirn war gefurcht, genau wie die seine. Dann nickte er dem Mann zu.
„Sorgen Sie dafür, dass die Verfolgung aufgenommen wird. Aber verhaften Sie niemanden ohne meinen ausdrücklichen Befehl. Ich will immer wissen, wo sie sich aufhalten und was sie tun, wenn möglich auch, was sie sagen.“
Der Mann nickte und ging wieder hinaus. Zu Lee sagte der Präsident: „Es macht einfach keinen Sinn, oder sehe ich ihn nicht?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Reggie lässt sich gerne von ihren Gefühlen beeinflussen. Aber ich glaube nicht, dass sie so weit gehen würde, um mit Marcano abzuhauen. Das ist nicht ihr Stil. Es hat bestimmt noch einen anderen Grund. Er muss sie mit etwas bedrohen, ihr solche Angst einjagen, dass sie nichts mehr zu tun wagt.“
John runzelte die Stirn. „Aber was könnte das sein? Wenn er sie umzubringen droht, könnte sie weglaufen, und er würde festgenommen werden. Vielleicht aber verspricht er ihr einen Anteil am Lösegeld, wenn sie bei ihm bleibt.“
Diese Möglichkeiten erschienen ihr vollkommen unwirklich. Reggie hatte genug Geld, schliesslich war ihr Vater ja Skeet McGowan. Es machte sie halb wahnsinnig, nicht zu wissen, warum ihre beste Freundin etwas tat. Sonst hatte sie immer im Voraus sagen können, wie sie sich entschied und was sie jetzt dann tat.
„Komm, Lee, es hilft nichts, wenn wir nachdenken, was es sein könnte. Es gibt Tausende von Möglichkeiten, die uns nie in den Sinn kommen würden.“
Sie setzte sich wieder hin und griff nach einem weiteren Brötchen, an dem sie aber lustlos knabberte. Der Hunger war ihr vergangen. Sie konnte nicht verstehen, warum Reggie das tat.
„Ich möchte dir einen Vorschlag machen. Christopher, dein Bruder, weiss nicht, wer du bist, aber er macht heute abend in Washington eine Party. Wenn du möchtest, kannst du hingehen und ihn kennenlernen. Danach kannst du mir sagen, ob mein Bild von ihm wirklich falsch ist oder nicht.“
Eigentlich hatte Lee keine Lust, auf eine Party zu gehen, aber ihren Bruder würde sie schon ziemlich kennenlernen. Sie fragte sich, was er tun würde, wenn er zuerst mit ihr so sprach, als sei sie eine Freundin, und danach erfuhr, dass sie in Wirklichkeit seine Schwester war.
„Wie ist denn dein Bild von ihm?“ fragte sie.
„Alles, was er macht, macht er, um mich zu ärgern“, antwortete er seufzend, „Michelle und ich haben versucht, ihm so viele Freiheiten wie möglich zu lassen, aber scheinbar ist das nicht so eingeschlagen, wie wir es gewollt haben. Auf öffentlichen Anlässen sorgt er regelmässig dazu, dass wir uns blamieren.“
Sie lächelte. „In den Zeitungen stand immer wieder, dass Christopher sich wieder einmal daneben aufgeführt hat. Und um ehrlich zu sein, ich habe mir immer gewünscht, dass ich ihn einmal kennenlerne.“
John lachte. „Dann hast du jetzt ja die Gelegenheit dazu. Pass nur auf, dass du nicht vergisst, wer du bist und wer er ist.“
Lee nickte lachend. „Keine Angst. Darauf achte ich schon.“
Es war erleichternd, wieder einmal zu lachen. Die Sorgen um Reggie verflüchtigten sich ein wenig. Ihr würde nichts geschehen, sonst wäre sie bestimmt schon lange abgehauen. Sie konnte sich auf ihr Treffen mit Christopher freuen.
„Übrigens, ich habe Skeet McGowan über die neusten Fortschritte informieren lassen. Er sucht noch immer nach Jamie Campbell. Vielleicht wird er gegen Mittag hierher kommen, aber dann bist du schon weg. Ich habe einen Jet für dich bereit machen lassen. In Washington wird dich dann jemand abholen und dafür sorgen, dass du Michelle kennenlernst und dass du ein paar Kleider bekommst, die sich für eine Party gehören“, erklärte John ihr.
„Und wann kommst du nach?“ fragte sie. Irgendwie fühlte sie sich nicht wohl bei dem Gedanken, ganz alleine mit ihrer richtigen Mutter zusammen zu sein. An John hatte sie sich unterdessen gewöhnt, aber an Michelle noch nicht.
„Vermutlich komme ich morgen. Keine Sorge“, sagte er, als ob er ihre Gedanken gelesen hätte, „Michelle wird dich nicht auffressen. Sie versteht, wenn du dich ein wenig unwohl fühlst. Aber ich versichere dir, dieses Gefühl wird schnell verschwinden.“
Der Flug nach Washington ging nicht sehr lange. Am Flughafen wartete eine ganze Eskorte von Wagen und Polizisten auf sie. Es war richtig aufregend. Noch nie sah sie so viele Polizisten, die allein für ihren Schutz hier waren. Die Freude wurde ein wenig gedämpft, als sie merkte, dass es nicht allein ihrer Anwesenheit zu verdanken war, dass alle hier waren.
Beim Wagen mit den Fähnchen der Vereinigten Staaten stand eine Frau. Sie war etwa fünfzig Jahre alt, genau wie John. Ihre Haare waren gefärbt, um die grauen Strähnen zu verbergen und hatten nun einen rötlich-braunen Schimmer. Sie trug sie sehr kurz, wie es in Mode war, für Frauen ihres Alters.
Lee ging zögernd auf sie zu. Während dem ganzen Flug hatte sie überlegt, was sie zu ihr sagen konnte, doch jetzt wusste sie auf einmal nichts mehr. Sie war nicht nur ihre Mutter. Sie war auch die First Lady, ein Vorbild für viele Frauen. Es war nicht ganz einfach, ‚Hallo‘ zu sagen.
„Ich freue mich so, dich kennenzulernen“, ergriff nun Michelle das Wort und umarmte sie ganz spontan.
Verblüfft liess sich Lee drücken. Sie hatte einen herzlichen Empfang erwartet, aber dass sie gleich umarmt wurde, hatte sie nicht geglaubt. Zuerst wäre ihrer Meinung nach ein vorsichtiges Annähern nötig gewesen. Doch sie erwiderte die Umarmung.
„Komm, Lee, John hat mir erklärt, warum du hier bist. Wir gehen jetzt ein bisschen shoppen, einverstanden?“
Lee nickte lachend. Ihre Mutter war ein richtiges Energiebündel. Das überraschte sie. Wenn sie im Fernsehen kam, war sie zwar auch immer aufgestellt und energiegeladen, aber dass sie im Privaten auch so war, hätte sie nicht gedacht.
Sie stiegen in die Limousine ein. „Ich habe mir erlaubt, ein Einkaufszentrum zu mieten, damit wir ungestört einkaufen können.“
Lee nickte. Natürlich, einfach schnell ein Einkaufszentrum mieten. Das hatte sie zu Hause auch immer gemacht.
Das Zentrum war nicht so gross wie amerikanische Einkaufszentren normalerweise waren, aber für eine Person sollte es eigentlich doch reichen. Die Verkäufer, die man nicht nach Hause geschickt hatte, waren überaus freundlich und stellten keine Fragen, warum die First Lady mit einer jungen Frau, die nicht aus ihrem Bekanntenkreis stammte, Einkäufe machte.
Zuerst sorgten sie dafür, dass Lee ein paar Kleider bekam, die sie für Zuhause - wo immer das dann auch war - anziehen konnte. Danach suchten sie sich ein Partykleid aus. Michelle drängte sie, nicht nur eines zu kaufen, so dass sie gleich mehrere hatte. Die Kleider waren ziemlich teuer. So teure Kleider hatte Lee noch nie gekauft, noch nicht einmal anprobiert.
Der Bus kam gegen vier Uhr abends in Washington an. Unterwegs hatte er immer wieder kleine Zwischenstops eingelegt, damit sich die Insassen die Beine hatten vertreten können.
Von einer Raststätte aus hatte Donnie einmal einen Freund angerufen. Dieser organisierte für sie einen Wagen und ein Hotelzimmer, in dem sie für einen Weile bleiben konnten. Der Wagen stand auf einem abgemachten Parkplatz und der Schlüssel lag in einem speziell angefertigten Fach über dem linken Hinterrad. Auf dem Fahrersitz lag die Adresse des Hotels.
„Ihre Freunde sind sehr fleissig“, bemerkte Reggie und stieg neben ihm ein.
Donnie nickte nur und fuhr auf die Strasse. „Wir fahren jetzt zuerst einmal zu einem Einkaufszentrum. Wir brauchen noch ein Kleid für Sie. Oder wollen Sie in diesen Kleidern zu Party?“
Er kannte sich in der Stadt gut aus, und wusste, wo die Einkaufszentren standen. Sie nahmen das Nächstbeste. Reggie hoffte, dass niemand sie erkannte. Doch die Leute interessierten sich nicht für die anderen, und sie wurden nicht gestört.
Sie nahmen sich Zeit, denn bis die Party anfing, waren es noch knapp drei Stunden. Zuerst schlenderten sich einfach den Schaufenstern entlang, bis Reggie etwas fand, das ihr gefiel. Sie probierte es an und Donnie gab sein Urteil ab. Mit dem ersten war er nicht so zufrieden, aber das zweite, dass sie anprobierte, gefiel ihm besser.
Nach dem Einkauf setzten sie sich an einen Tisch in einem Restaurant und assen etwas. Reggie sah sich immer wieder um und fragte sich, ob niemand sie bemerkte, aber Donnie war ruhig und gelassen.
„Haben Sie keine Angst, dass wir erkannt werden?“ fragte sie leise.
Donnie lachte und schüttelte den Kopf. „Nein. Ihr Gesicht ist einmal in der Zeitung erschienen, vor zwei Tagen. Das merkt sich niemand.“
„Und Ihres?“
„Mein Gesicht kennt niemand, der es nicht kennen sollte. Ich halte mich meistens im Hintergrund“, antwortete er und schien nicht weiter auf dieses Thema eingehen zu wollen.
Sie fuhren in das Hotel. Dort wurden sie mehr als höflich behandelt, denn ihre Unterkunft war nicht einfach ein Motel, sondern ein Hotel der höheren Klasse. Das Zimmer war auch dementsprechend gross. Es bestand eigentlich aus zwei Zimmer, je mit einem Bett versehen, die mit einer Verbindungstür verbunden waren.
„Ich habe meinen Freund gebeten, zwei Zimmer zu mieten. Ich habe gedacht, Sie fühlen sich dadurch etwas wohler“, erklärte Donnie.
Reggie dankte ihm und lächelte. Ihr Gewissen fühlte sich dadurch wohler, das stimmte, aber ihr Herz wollt etwas ganz anderes. An und für sich war sie dankbar, dass es zwei Zimmer waren. Dann kam wenigstens niemand von ihnen in Versuchung, etwas zu tun, was er später vielleicht bereuen würde.
Sie duschte sich zuerst einmal ausgiebig und zog sich danach für die Party um. Die neuen Kleider gefielen ihr sehr gut, doch als sie auf den Preis geschaut hatte, war sie doch ein bisschen erschrocken gewesen. Donnie hatte es nichts ausgemacht und hatte ohne mit den Wimpern zu zucken bezahlt.
Sie brauchte eine Weile, bis sie ihr Haar gebändigt und zu einer anständigen Frisur gebunden hatte. Um halb sieben fing Donnie sie langsam an zu drängen, und meinte immer wieder, dass sie jetzt dann gehen müssten. Reggie liess sich nicht stressen. Sie wusste, dass es um Eindruck zu schinden besser war, wenn man zu spät kam. Dann hatte der Mann, den man beeindrucken wollte, nicht das Gefühl, als könne man es kaum erwarten, ihn zu sehen.
Als sie dann endlich fertig war, blieb Donnie einen Moment lang staunend stehen und liess seinen Blick immer wieder über sie gleiten.
„Sie sehen ... phantastisch aus“, brachte er schliesslich heraus und versuchte, sich wieder zu fassen. Sie lächelte und liess sich von ihm die Tür aufmachen. Im Lift spürte sie immer wieder seine Blicke, verbot sich aber ein Lächeln.
Sie fuhren schweigend zum Haus, in dem die Party sein sollte. Es standen schon ziemlich viele Wagen am Strassenrand. Die meisten davon waren Cabriolets, die Lieblingsmodelle für Teenager mit reichen Eltern.
„Der Mann, mit dem Sie hineinkommen werden, wartet am Eingang. Er kennt Sie, keine Sorge. Ausserdem wird er Sie dem jungen Leard vorstellen. Ich hole Sie dann gegen elf Uhr wieder hier ab, einverstanden?“
Reggie überlegte kurz. Elf Uhr war ziemlich früh. „Ich würde sagen, Sie kommen gegen ein oder zwei Uhr. Vielleicht komme ich bis elf gar nicht an ihn heran.“
Donnie wollte protestieren, erinnerte sich aber noch rechtzeitig daran, dass er nicht ihr Vater war und nickte. „Ich warte um zwei hier. Wenn Sie früher ins Hotel wollen, fragen Sie meinen Freund.“
Sie nickte und stieg aus. „Äh, Reggie?“ sagt er da noch aus dem Wagen.
Sie beugt sich hinunter und sieht ihn fragend an.
„Beachten Sie einfach nicht, wenn Bobby sich aufdrängt. Bleiben Sie höflich, aber achten Sie darauf, dass er nicht zu weit geht.“
Sie bestätigte leicht verwirrt. Donnie fuhr wieder davon, während sie sich auf den Eingang zu wagte, zu dem die anderen, die ebenfalls erst jetzt ankamen, hinströmten.
„Reggie?“ fragte plötzlich jemand. Die Stimme gehörte einem jungen Mann. Er war nicht älter als sie selbst, doch man spürte, dass er von reichen Eltern war. Seine Verhalten zeugte von einer Erziehung, die nur den Reichen zugute kam.
„Hi, ich bin Bobby. Donnie hat mir erzählt, dass du Chris kennenlernen möchtest. Glaub‘ mir, ich kann dich verstehen. Wenn ich eine Frau wäre, möchte ich ihn auch kennenlernen. Wirklich, manchmal beneide ich ihn fast ein wenig. Aber wenigstens darf ich sagen, dass ich mit einer wunderschönen jungen Frau hier war.“
Reggie errötete ein wenig, lächelt, um ihre Verlegenheit zu übertönen und sagte: „Freut mich auch, dich als Begleiter zu haben, Bobby.“
Er lächelt und legt ihr ohne Scheu den Arm um die Hüften. Sie hob erstaunt die Brauen, liess sich aber nichts anmerken. Das war wohl das, von dem Donnie gesprochen hatte. Nun, solange er seinen Arm nur dort hatte ...
Er führte sie zum Eingang, sprach ein paar Worte mit dem Türsteher und nickte ihr dann zu. „Wir können hineingehen.“
Im Innern schlug ihnen sofort die Hitze entgegen. Obwohl die Party eigentlich erst angefangen hatte, war sie schon im vollen Gang. Der Bass der Musik dröhnte ihnen in den Ohren. Um miteinander zu reden musste man schon schreien. Der Raum war riesig. Vermutlich war das ganze Untergeschoss einfach ein Zimmer.
Bobby zwängte für sie einen Weg durch das Gewimmel aus fremden Leuten und zeigte auf einen jungen Mann. „Das ist Chris. Dort, in der Mitte.“
Reggie wusste, dass das Chris war. Sie sah ihn nicht zum ersten Mal, nur zum ersten Mal richtig. Seine langen Haare fielen ihm in sanften Wellen über die Schultern. Um ihn herum stand ein Kreis aus Frauen, die alle gleichzeitig auf ihn einredeten. Nur wenn er redete, waren sie still.
„Weisst du was, ich stelle dich jetzt ein paar Leuten vor. Dann kannst du deine Zeit besser vertreiben, bis du mit ihm reden kannst“, schrie Bobby ihr über die Musik hinweg zu.
Sie nickte und folgte ihm zu einer Gruppe von Jugendlichen.
Mit mehreren Säcken mit Kleidern kamen sie beim Weissen Haus an. Der Mann, der die ganze Parade von Autos begrüsste, lächelte Lee freundlich zu und führte sie zu einem Zimmer, das eine halbe Wohnung war. Er zeigte ihr das eigene Badezimmer, das Schlafzimmer und das kleine Wohnzimmer. Lee bedankte sich und wartete, bis er wieder draussen war. Sie fühlte sich ein wenig verloren in diesem grossen Zimmer und dem noch viel grösseren Haus.
Ihre Mutter hatte ihr gesagt, dass die Party von Christopher gegen sieben anfing. Sie würden gegen acht oder halb neun gehen. Also hatte sie jetzt noch zwei Stunden Zeit, um sich bereit zu machen. Sie fing an, die neuen Kleider in dem riesigen Kleiderschrank aufzuhängen. Danach duschte sie sich und zog dann das Partykleid an, das sie für das Fest gekauft hatten.
Ungefähr eineinhalb Stunden später war sie fertig. Sie suchte sich ihren Weg durch die Gänge zu einer Tür, die ihr Michelle vorhin gezeigt hatte, wo sie sein würde. Sie klopfte zögernd und öffnete die Tür.
Ihre Mutter sass an einem Schreibtisch und sah lächelnd auf, als sie eintrat. Ihre Blicke glitten musternd über Lee. Sie stand auf.
„Du siehst bezaubernd aus“, sagte Michelle beeindruckt. Ihr Lächeln wurde zu einem Grinsen und Lee konnte sich vorstellen, was das bedeutete. Sie dachte gerade daran, was Chris tun würde, wenn er erfuhr, dass sie seine Schwester war. Er würde in ihr vermutlich nur eine schöne, junge Frau sehen, die er unbedingt erobern wollte. Es war bestimmt eine grosse Überraschung, wenn er die Wahrheit hörte.
Sie gingen zusammen aus dem Haus. Ein schwarze Limousine wartete schon. Der Fahrer hielt die Tür für Lee auf. Michelle küsste sie auf die Wange. Ihr Grinsen war noch nicht verschwunden.
„Ich liebe meinen Sohn genauso sehr wie dich, Lee, aber eine kleine Abreibung wird ihm nicht schlecht tun“, flüsterte sie, damit der Fahrer sie nicht hörte.
„Wie komme ich wieder hierher?“ fragte Lee.
„Wenn du willst, kann unser Fahrer dich wieder abholen. Allerdings muss ich dir sagen, dass Chris ab und zu mit einem Mädchen nach Hause kommt, wenn es ihm gefällt. Ich glaube, du bist voll sein Typ“, sagte Michelle und sah sie geheimnisvoll und vielsagend an.
„Okay, dann werde ich anrufen, wenn Chris nicht mich mitnimmt“, grinste Lee und stieg in den Wagen ein.
Der Fahrer brachte sie zu einem grossen Haus. Die Musik tönte schon ziemlich laut hinaus und die meisten Parkplätze am Strassenrand waren besetzt. Der Fahrer öffnete ihr die Tür.
„Hier ist eine Einladung für Sie, Miss Peterson, ohne kommen Sie nicht hinein“, sagte er und drückte ihr ein Blatt Papier in die Hand.
Sie dankte ihm und ging auf den Eingang zu. Ein mit Muskeln besetzter Mann verlangte ihre Einladung und sie streckte sie ihm hin. Er musterte zuerst sie und dann die Einladung, aber er liess sie durch.
Die Luft war erhitzt von den vielen Leuten. Der ganze Raum war voll. Viele hielten ein Glas in der Hand, in dem vermutlich kein Wasser war. Lee ging langsam durch die Menge und fragte sich, wie sie in diesem Gewimmel Chris je finden sollte. Sie wusste zwar, wie er aussah, aber wenn er sich gestylt hatte, irgend eine komische Frisur gemacht hatte oder so etwas, dann erkannte sie ihn vielleicht gar nicht.
Sie ging zur Bar und musterte die Getränke, die dort serviert wurden. Das einzige nichtalkoholische Getränk war eine Cola, also nahm sie diese. Sie wusste, dass sie nicht viel Alkohol vertrug, und wenn sie sich betrank, vergass sie vielleicht, warum sie hier war.
Reggie hatte Bobby getanzt, mit fremden jungen Männern und mit solchen, die sie als Söhne Berühmtheiten erkannt hatte. Aber an Chris war sie noch nicht herangekommen. Er hatte immer seine Mädchen um sich, und sie wollte mit ihm reden, ohne dass alle zuhörten.
Bis etwa gegen elf Uhr hatte sie ihn nicht aus den Augen gelassen. Ein paar Mal hatte sie seinen Blick eingefangen und ihm zugezwinkert. Er hatte ihr jedesmal zugelächelt und ihr zu verstehen gegeben, dass sie zu ihm kommen soll, doch sie verschwand wieder in der Menge. Wenn er auf sie warten musste, würde er schneller bereit sein, irgend etwas für sie zu tun.
Chris‘ Glas leerte und füllte sich wieder, und meistens nicht mit Cola. Er hatte schon ziemlich viel getrunken, aber man merkte es ihm nicht an. Vielleicht, überlegte Reggie sich, war er es gewöhnt, soviel zu trinken, so dass er länger nüchtern blieb als andere.
Ziemlich genau um elf Uhr entschuldigte er sich bei seinen Anhänger, um aufs Klo zu gehen. Reggie drückte sich durch die Menge und wartete bei der Tür. Als er wieder heraus kam, bemerkte er sie sofort und kam auf sie zu. Sie lehnte sich gegen die Wand und musterte ihn.
„Hallo, ich bin Chris. Ich habe dich noch nie gesehen. Bist du mit einem Freund hier, den ich kenne?“ fragte er sofort und kam ziemlich nahe an sie heran.
„Ich bin mit Bobby hier“, antwortete sie und hoffte, dass er ihn kannte.
„Ah, Bobby, den ich kenne ich, ja. Ich hoffe du weisst, dass er nicht sehr treu ist? Ich meine, bis jetzt ist er noch nie auf zwei Partys mit der gleichen gekommen.“
Reggie hatte sich so etwas schon gedacht. So wie Bobby mit Frauen umging, konnte er sie bestimmt nicht lange halten. Chris drückte es zwar ein wenig anders aus, denn er war ein Mann.
„Ich bin nicht wegen ihm hier“, antwortete sie und liess dabei durchklingen, was er hören wollte.
Chris lächelte und lauschte einen Moment auf die Musik. „Willst du tanzen?“ fragte er höflich und bot ihr seinen Hand an. Sie nahm sie und sie gingen auf die Tanzfläche.
Die Musik war ausnahmsweise ziemlich langsam. Chris legte seine Arme und sie, während sie die ihren um seinen Hals schlang. Reggies Herz klopfte heftig, doch sie hoffte, dass er es nicht bemerkte.
Sie überlegte sich, wann sie mit ihm reden sollte. Der geeignetste Zeitpunkt wäre wohl jetzt.
„Chris, ich möchte dir ein Angebot machen“, flüsterte sie in sein Ohr. Er lächelte und sah sie fragend an.
„Weisst du, wer ich bin?“ Chris musterte sie kurz und schüttelte den Kopf. „Sollte ich dich kennen?“
Sie antwortete: „Nicht unbedingt. Aber ich weiss, wer du bist und was für Vorlieben du hast. Ich könnte ein Treffen mit jemanden arrangieren, der dich sicher interessieren wird, wenn du mir hilfst.“
Er blieb stehen und musterte sie interessiert. Reggie sah ihn auffordernd an. Er war ein Geschäftsmann, genau wie sein Vater. Doch wenn sie ihm das sagten, würde er sie sofort wegschicken.
„Lass uns woanders hingehen“, meinte er und zog sie mit sich. Sie gingen die Treppen hinauf, wo einige Leute standen und miteinander redeten. Die meisten grüssten Chris und machten sich ihre Gedanken, wo er mit Reggie hinging.
Er öffnete eine Zimmertür und schloss sie hinter sich ab. Für einen Moment dachte sie, dass er wolle, dass sie nicht mehr hinauskam, dann würde ihr bewusst, dass er wollte, dass niemand hineinkam.
„Also, was ist das für ein Angebot?“ fragte er.
„Mein Name ist Reggie McGowan. Ich wurde vor ein paar Tagen mit einer Freundin entführt“, begann sie, als Chris schon zu lachen anfing.
„McGowan hat keine Tochter, Reggie. Und ausserdem siehst du nicht so aus, als seist du entführt“, lachte er laut und konnte sich kaum mehr erholen.
Diese Reaktion hatte Reggie erwartet. Sie wartete, bis er wieder still war und fuhr dann ungerührt fort: „Meine Freundin konnte fliehen, ich nicht. Die Übergabe hätte gestern abend stattfinden sollen, doch einer der Entführer befreite mich. Sonst wäre ich jetzt tot. Das Problem ist jetzt, dass ich mich verstecken muss, weil es einen Spion im Weissen Haus gibt.“
Donnie runzelte die Stirn. Die Geschichte war viel zu märchenhaft, um wahr zu sein. Allerdings, wenn sie wollte, dass er ihr mit einer erfundenen Geschichte glaubte, hätte sie bestimmt eine bessere gewählt. Also musste sie stimmen.
„Die Zeitungen schreiben aber, dass die Entführer die Übergabe haben platzen lassen, weil Polizisten an Ort und Stelle waren“, widersprach er.
„Das stimmt auch. Die Entführer wissen vielleicht noch nicht, dass einer der ihren sie hereingelegt hat. Auf jeden Fall kommen wir nicht an den Spion im Weisen Haus heran. Und solange er nicht aus dem Weg ist, muss ich mich verstecken.“
Chris verschränkte die Arme. „Ich soll ihn also auffliegen lassen. Und was bekomme ich dafür?“
Reggie lächelte. „Ich kann ein Treffen mit Marcano, dem Unterwelt-Boss arrangieren“, antwortete sie und beobachtete seine Reaktion. Zuerst wollte er ihr nicht glauben. Dann wurde er blass, danach rot und schliesslich brach ihm der Schweiss aus. Ungefähr das hatte sie erwartet. Kaum zu glauben, dass der Präsidentensohn den Unterwelt-Boss als Idol hatte.
„Marcano? Bist du sicher, dass du nicht etwas verwechselst wie das mit deinem Namen?“ fragte er und versuchte, seine Unsicherheit zu übertönen.
Sie schüttelte lächelnd den Kopf. „Ich bin wirklich Skeet McGowans Tochter. Vielleicht weisst du es noch nicht, aber du hast ...“
Jemand klopfte heftig an die Tür und schrie dabei Chris Name. Reggie runzelte die Stirn und Chris machte auf. Ein Sohn einer Berühmtheit warf erstaunt einen Blick auf Reggie - vermutlich weil sie beide noch vollkommen angezogen waren - und deutete dann auf eine Person, die Reggie von ihrem Platz aus nicht sehen konnte.
„Du hast gesagt, wenn sie auftaucht, soll ich dich rufen. Sie ist hier, dort unten“, sagte der fremde Mann.
Chris sah seinem Arm nach und lächelte erfreut. Er winkte der Person, dass sie zu ihm kommen soll, wie er es auch schon bei Reggie getan hatte.
„Hi, ich bin Lee. Du bist Chris, nicht?“ fragte eine Stimme, die Reggie mehr als nur bekannt vorkam.
Als der Körper zu dieser Stimme in Reggies Blickfeld kam, verschlug es ihr schier den Atem. Sie starrte die junge Frau in dem teuren Partykleid an und konnte nicht glauben, was sie sah.
„Lee?“ fragte sie leise und trat einen Schritt nach vorne.
Lee wandte sich von Chris ab, starrte sie ebenfalls an und lachte dann vollkommen erleichtert. „Reggie! Geht es dir gut? Was machst du hier? Haben sie dir nichts getan? Wie bist du hierher gekommen?“ entfuhr es ihr und sie umarmte freudig ihre Freundin.
Reggie konnte Chris‘ verwirrten Blick sehen, doch irgendwie bemerkte sie ihn doch nicht. Sie traf Lee hier, ausgerechnet hier, wo sie sie am wenigsten erwartet hätte.
„Ich bin so froh, dich zu sehen, Reggie. Ich dachte eine Weile, du seist tot. Dann erfuhren wir, dass du mit Donnie zusammen bist, freiwillig und dann ...“ Sie holte tief Luft und Reggie unterbrach sie.
„Ich muss dir alles erklären. Aber warum stellt du dich Chris vor? Ich meine, er ist -“
Lee legte ihr sofort den Finger auf den Mund und flüsterte ihr ins Ohr: „Meine Mutter Michelle und ich wollen ihn überraschen. Ich mache ihn an und danach, im Weissen Haus, sagen wir, dass ich seine Schwester bin. Es soll eine Abreibung sein.
Reggie sah sie erstaunt an. Sie vergass einen Moment, warum sie hier war. Es war wie in alten Zeiten, als sie beide über Jungs redeten und sich fragten, wie sie ihnen am besten Zeigen konnten, dass sie nicht alles auf der Welt waren. Bei einigen war das manchmal ziemlich nötig gewesen.
Sie lösten sich von einander und sahen zu Chris. Er musterte sie verwirrt und straffte sich sofort, als sie ihn ansahen.
„Ich sehe, ihr kennt euch. Ich euch aber nicht. Also Lee, ich habe dich in der Zeitung gesehen. Dein Foto war darin abgebildet. Ich wusste, dass du irgend wann einmal zu meinem Vater kommen würdest und da habe ich immer gehofft, dass du auch auf meine Partys kommst.“
Lee lächelte erfreut. Reggie konnte sehen, dass das alles geplant war. Vermutlich hatte ihre Mutter sie aufgeklärt, dass sie voll Chris‘ Typ war und sie dementsprechend eingekleidet. Das Kleid, das trug, musste ja ein Vermögen gekostet haben. Aber wenn man es genau nahm, ihres war auch nicht viel billiger gewesen.
„Und Reggie, du hast mir ein Angebot gemacht, dass ich kaum abschlagen kann“, er holte tief Atem und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Er wirkte sehr aufgewühlt.
„Was für ein Angebot?“ fragte Lee.
„Es gibt einen Spion im Weissen Haus. Er wird dir nichts tun, aber mich wird er versuchen zurück zu bringen und zu töten, wenn ich dort auftauche. Donnie hat den Vorschlag gemacht, dass ich Chris dazu überrede, ihn aufzuspüren, weil wir es nicht können. Dafür habe ich ihm ein Treffen mit dem Marcano angeboten. Das ist der Mann im Verbrechermilieu.“
Lee runzelte die Stirn und musterte Reggie intensiv. Diese hielt ihrem Blick nicht stand und sah statt dessen auf Chris. „Wirst du mir helfen?“
Dieser atmete wieder tief ein. „Es wird meinem Vater nicht gefallen ... Also mache ich es“, fügte er mit einem breiten Grinsen hinzu. Reggie lächelte.
Lee stellte sich an Chris‘ Seite und sagte bestimmt: „Ich werde dir auch helfen. Vielleicht kann ich mehr herauskriegen als Chris, weil er nicht ein so gutes Verhältnis zum Präsidenten hat.“
Reggie unterdrückte ein Grinsen. Wenn Chris wüsste ... Sie stand auf und wollte sich schon verabschieden, als Lee sie zurückhielt.
„Du musst mir ganz genau erzählen, was passiert ist“, verlangte sie. Reggie warf einen Blick auf Chris, worauf Lee sofort reagierte. „Das ist ein Gespräch unter Frauen“, sagte sie zu ihm.
Er zog die Stirn zusammen und erholte sich langsam von seinem Schock. Er lächelte verführerisch und flüsterte: „Ich hoffe, du verschwindest nicht einfach.“
Lee schüttelt den Kopf und stiess ihn dann hinaus. Sie schloss die Tür ab und setzte sich dann neben Reggie auf das Bett im Zimmer.
„Also, was ist mit dir und Donnie? Du hast voll verliebt, was? Mann, Reggie, er könnte dein Vater sein! Ausserdem hätte er uns fast umgebracht.“
Reggie sah auf ihre Hände und spürte, wie sie errötete. „Donnie hätte uns nie etwas getan, Lee. Du hast ihn nur kurz gesehen, aber nachdem du fliehen konntest, hat er sich um mich gekümmert. Die Männer hätten mich umgebracht, wenn er mich nicht gerettet hätte. Sie hatten nie vor, einen Handel zu machen. Sie wollten nur ihr Geld, danach wäre ich überflüssig gewesen, also hätten sie mich beseitigen müssen.“
Lee betrachtete sie traurig lächelnd. „Es hat dich wirklich voll erwischt“, stellte sie zum zweiten Mal fest. „Was ist mit ihm? Liebt er dich auch? Oder spielt er nur mit dir? Hat er schon versucht, mit dir zu schlafen?“
Reggie lachte. „Nein, natürlich nicht. Er ist ein total anständiger Mensch. Er ist durch seinen Vater in diesem Milieu aufgewachsen. Sonst wäre er nicht anders als du und ich“, verteidigte sie ihn.
Lee nahm ihr das nicht ganz ab, aber wenn Reggie verliebt war, konnte man nicht mit ihr streiten. Sie fand immer wieder Argumente, um ihren Liebling zu verteidigen. Also liess sie dieses Thema fallen.
„Erzähl‘ mir jetzt alles von Anfang an. Was ist passiert, nachdem ich fliehen konnte?“ fragte sie und Reggie erzählte alles. Lee hörte stumm zu und unterbrach sie nicht. Es war interessant eine Geschichte zu hören, die sie aus einem ganz anderen Sichtwinkel mitbekommen hatte.
Sie redeten über eine Stunde lang miteinander. Alles, was passiert war, erzählten sie sich, mit allen Details. Es schien so, als hätte die Entführung niemals stattgefunden, als sei es nur ein phantastisches Gerücht, dass Reggie gehört hatte.
Lee musste Reggie versprechen, zu niemandem ein Wort zu sagen, dass sie sich getroffen hatten. Doch sie bestand darauf, Chris bei seiner Suche zu helfen, auch wenn Reggie sie überreden wollte, das zu lassen. Es war zu gefährlich für sie. Wenn der Spion merkte, dass Lee hinter ihm her war, würde er ihr vielleicht etwas tun. Doch Lee liess sich nicht abbringen, also musste Reggie nachgeben.
Gegen zwei Uhr verabschiedete sich Reggie. Lee wollte sie nicht gehen lassen, doch sie sah ein, dass sie es musste. Sie selbst ging zu Chris zurück, der sich fast sofort an sie heranmachte. Genau wie Michelle es gesagt hatte. Die Menge wurde, je näher sie dem Morgen kamen, immer kleiner. Um sechs oder sieben Uhr waren es nur noch ganz wenige, die miteinander herum schmusten oder sich noch einen Drink genehmigten. Niemand war mehr richtig nüchtern.
Lee hatte auf Chris‘ Wunsch hin ein bisschen getrunken, doch das war schon zuviel gewesen. Sie wusste, dass sie betrunken war, und konnte sich darum beherrschen, irgend etwas zu tun, was sie hinterher bereuen würde, aber ihre Gedanken waren trotzdem nicht mehr ganz so klar.
Christophers Chauffeur fuhr sie zum Weissen Haus zurück, wo sie durch einen Hintereingang hineinkamen. Lee hatte sich anstrengen müssen, um nicht zu sagen, dass sie seine Schwester sei. Jetzt wartete sie nur noch darauf, dass sie es endlich aussprechen konnte.
Das Zimmer von Chris lag am gleichen Ort wie das ihrer Eltern. Es war nicht besonders erstaunlich, als auf einmal Michelle herauskam, sie beide kurz musterte und dann lächelte.
„Guten Morgen, Chris“, sagte sie und lächelte Lee zu. „Guten Morgen, Lee.“ Ihr Augenzwinkern blieb von ihm unbemerkt.
„Du kennst Lee? Woher?“ fragte er. Wäre er ein bisschen nüchtern gewesen, hätte er vielleicht gedacht, da Lee ja eine Staatsangelegenheit war, hätten sie sich schon kennengelernt, aber in seinem Zustand dachte er nicht mehr soweit.
Michelle lächelte und unterdrückte nur knapp einen Lachanfall. „Das ist eine lange Geschichte. Lee wird sie dir bestimmt zum geeigneten Zeitpunkt erklären.“
Sie nickte zu und den Gang entlang die Treppe hinunter. Chris runzelte kurz die Stirn, vergass aber fast augenblicklich, über was er sich gewundert hatte. Er zog Lee in sein Zimmer und küsste sie heftig. Fast hätte Lee vergessen, was sie tun musste.
„Chris, ich muss dir unbedingt etwas sagen“, flüsterte sie in sein Ohr.
Er nickte, hörte aber nicht auf, sie zu küssen.
„Ich bin deine Schwester, Chris.“
Zuerst reagierte er fast gar nicht. Er blieb mit seinem Kopf auf ihrer Schulter, doch seine Lippen bewegten sich nicht mehr. Dann, langsam, als habe er Schmerzen, hob er seinen Kopf und sah sie an. Sein Gesicht war erbleicht und zeigte mehr als Erstaunen. Er öffnete ein paar Mal den Mund und schloss ihn wieder, bis er schliesslich etwas herausbrachte. „Das ist ein Witz, oder?“
Lee lächelte leicht und löste sich aus seiner Umarmung. Beiläufig bemerkte sie, dass sein Zimmer vollkommen ordentlich war. Das hätte sie nicht von ihm erwartet. Es aber vermutlich, dass er eine Putzfrau hatte, die ihm alles immer wieder aufräumte.
„Nein, das ist kein Scherz. Ich bin wirklich deine Schwester. Darum wurde ich ja entführt“, erklärte sie und beobachtete weiter seine Reaktion.
Er musterte sie genau. In ihren Augen lag kein Spott oder ein verstecktes Lachen, weil sie mit ihm ihre Scherze trieb, nur die Freude über sein Gesichtsausdruck. Er atmet laut die Luft auf und machte ein paar Schritte rückwärts zu einem Stuhl.
„Das haut mich voll vom Hocker“, erklärte er und versuchte - allerdings mit ziemlich wenig Erfolg - sich wieder zu fassen. Er atmete tief durch. Seine Stimme war zittrig, genauso wie seine Hände. Auf einmal waren sie ganz feucht. Von der Erregung, die sie vorhin bei ihm gespürt hatte, sah sie jetzt nichts mehr. Die Reaktion wäre nicht besser gewesen, wenn sie ihm einen Eimer mit kaltem Wasser über den Kopf geleert hätte.
„Okay, lass mich mal nachdenken. Du und meine - unsere - Mutter, ihr habt das abgemacht? Du hast dich an mich ´rangemacht, obwohl du wusstest, dass du meine Schwester bist?“ fragte er, auf einmal ziemlich nüchtern.
Sie nickte grinsend. „Michelle meinte, es würde dir gut tun. Aber eigentlich hat John mich geschickt. Er versteht dich nicht und hat gedacht, ich könne ihm dabei ein wenig helfen.“
Chris verdrehte die Augen. „Mein Vater! Ich hätte es wissen müssen.“ Er stand wieder auf, wischte sich seine nassen Hände an der Hose ab und musterte sie erneut. Er fasste es immer noch, dass sie seine Schwester.
Lee verzichtete darauf, die Friedensstifterin zwischen den beiden zu spielen. Sie war sicher, dass sie sich irgendwann aussprechen würden. Schliesslich hatten sie sich beide durch ihre Anwesenheit hier schon fest verändert. Chris würde vielleicht als erster nachgeben, wenn er sah, dass seine Schwester sich prächtig mit seinem Vater verstand.
Er stand auf und ging in einem Halbkreis vor ihr hin und her. Die Farbe kam langsam wieder in sein Gesicht zurück. „Ich kann’s nicht fassen. Ich habe eine Schwester! Einfach unglaublich. Wo hast du vorher gelebt? Hast du etwas gewusst? Was habt ihr über die Präsidentenfamilie gehört? Wer waren deine Eltern? Wie ist es, ein ‚gewöhnlicher‘ Mensch zu sein, ohne immer im Mittelpunkt zu stehen?“
Lee lachte auf und hob protestierend die Hände. „Nicht so schnell. Ich kann doch nicht alles auf einmal beantworten“, prustete sie vor Lachen. Zuerst sagte er kein Wort, und danach kam er kaum nach mit Reden.
„Soll ich dir etwas sagen? Ich stand voll auch dich. Ich fand es super, wie du dich deinem Vater widersetzt. Ich habe gewünscht, ich könnte das auch“, sagte sie und fürchtete gleich danach, dass damit sein Ego wieder zu gross würde.
Doch er lächelte nur dankend. „Vielen Dank für das Kompliment. Es ist mir eine grosse Ehre, von meiner Schwester geliebt zu werden.“
Sie grinste und gab ihm einen Schlag auf die Schulter. Er lachte und wich zurück. „Hast du gewusst, dass deine Eltern nicht deine Eltern sind?“
Lee schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe überhaupt nichts gewusst. Wir hatten in der Schule mal ein adoptiertes Mädchen, und ich habe mir schon überlegt, ob ich auch so ein Kind sein könnte, aber ich kam zum Schluss, wenn man ein Kind adoptiert, liebt man es mehr als ein normales. Allerdings hatte ich nie das Gefühl, als ob meine Eltern mich irgendwie besonders geliebt hätten.“
Er grinste wieder und setzte sich auf das Bett. Das Kopfweh eines Katers plagte ihn schon jetzt. Ausserdem war er schrecklich müde. Lee musterte ihn. Sie sollten jetzt beide schlafen gehen. Dann konnte er sich auch noch von seinem Schock erholen.
„Ich denke, ich gehe jetzt in mein Zimmer. Schlaf gut, Bruderherz“, sagte sie und ging zur Tür. Sie sah gerade noch, wie er die Stirn runzelte, bevor er kapierte.
Leise schloss sie die Türe hinter sich und begegnete Michelles grinsenden Augen. Sie lehnte sich im Morgenrock an die Wand und musterte sie fragend.
„Er hat seine Abreibung bekommen, glaube ich. Jedenfalls war er ziemlich blass, als ich es ihm sagte“, antwortete Lee auf die stumme Frage und wünschte ihrer Mutter dann eine gute Nacht, beziehungsweise einen guten Morgen. Bevor sie in ihr Bett fiel, hatte sie gerade noch genug Zeit, um die Kleider auszuziehen.
Reggie stieg schnell zu Donnie ins Auto. Er fuhr los und sah sie fragend an. Sie nickte leicht und zog ihre Jacke enger um ihre Schultern. Es war ziemlich kalt, obwohl es mitten in der Nacht war.
„Er wird es tun.“ Sie zögerte einen Augenblick. Sollte sie ihm sagen, dass sie Lee getroffen hatte?
„Aber?“ fragte er, als er ihr Zögern bemerkte.
„Nichts aber“, erwiderte sie und sah aus dem Fenster. Gelbe Lichter zogen leise an ihnen vorbei.
Er warf ihr einen Blick zu. In seinem Leben als Gangster hatte er schon viele Menschen lügen sehen. Auch wenn die einen es ziemlich gut machten, irgend etwas verriet sie doch. Reggie hatte sich durch ihr Zögern verraten. Etwas war passiert, das sie ihm nicht sagen wollte. Er hatte keine Ahnung, was es war. Doch er fragte auch nicht weiter. Sie würde es ihm sagen, wenn es wichtig wäre.
„Er war ziemlich überrascht, als ich ihm ein Treffen mit Marcano vorgeschlagen habe“, versuchte Reggie ihn von seinem Verdacht abzulenken, „Er hat mir zuerst nicht geglaubt, weil er dachte, ich lüge ihm irgendeine Geschichte zusammen, wegen meinem Namen und so. Aber ich denke, jetzt glaubt er mir. Er wird es mit Freuden tun.“
Donnie nickte und ging auf ihr Ablenkungsmanöver ein. Er tat so, als habe er nichts bemerkt. „Das ist gut. Wie schätzen Sie ihn ein? Wie lange braucht er?“
Reggie lachte. Sie glaubte, dass seine Zweifel wieder verstreut waren. „Keine Ahnung, darin sind Sie der Experte. Er wird es bestimmt so schnell wie er es kann, machen. Wie lange braucht man, um einen Spion zu entlarven?“
Donnie machte eine unbestimmte Geste. Der Schatten, der über ihrem Gesicht gelegen hatte, als sie eingestiegen war, war fast verschwunden. Sie dachte noch immer daran, was auf der Party passiert war, doch nun versuchte sie mit mehr oder weniger Erfolg, es zu unterdrücken, um ihn nichts merken zu lassen. „Es kann unter Umständen Wochen oder sogar Monate dauern. Ich weiss, dass der Spion, den wir suchen, sehr gut ist, also müssen wir mit mindestens ein paar Wochen rechnen.“
Sie stiess einen Seufzer aus, zum Teil aus Schock, zum Teil aus Erleichterung, dass er nichts bemerkt hatte. „Und was machen wir in dieser Zeit? Wir müssen immer für Chris erreichbar sein, damit er uns sofort anrufen kann, wenn er etwas herausgefunden hat.“
Er nickte ruhig. „Für so etwas gibt es ja Handys, oder? Ich denke, wir mieten uns irgendein abgeschiedenes Haus und warten dort. Irgendwo in den Bergen oder so. Dort gibt es keine Polizisten, die nach uns suchen.“
Reggie lächelte bei der Vorstellung, mit ihrem Schwarm allein in einem einsamen Berghütte zu leben. Es war richtig romantisch. Mit einem Feuer und Kerzen und einem gutem Essen ... So liess es sich bestimmt gut leben, sei es auch nur für ein paar Wochen.
Ihren Gedanken nachhängend fuhren sie zu ihrem Hotel zurück. Der Concierge, der dort Nachtwache hielt, begrüsste sie mit einem unterdrückten Gähnen. Er sah ziemlich gelangweilt aus und vermutlich hielt ihn nur noch die Aussicht auf einen guten Lohn wach.
Im Zimmer wünschte Reggie Donnie eine gute Nacht und legte sich hin, doch schlafen konnte sie nicht. Sie versuchte es, doch ihre Gedanken wirbelten noch immer durcheinander. Sie war erleichtert, dass Lee wusste, dass es ihr gut ging. Aber wenn sich einer von ihnen verplapperte? Wenn sie etwas verrieten? Dann würde das Ganze auffliegen. Vielleicht konnte der Spion sie finden, wenn er die Wahrheit erfuhr.
Sie beschloss, sich mit diesen Sorgen nicht wahnsinnig zu machen. Lee würde sie nie verraten und Chris war mit der Aussicht auf ein Treffen mit Marcano bestimmt stumm wie ein Grab. Und wenn doch es passierte, konnte sie nichts daran ändern.
Seufzend drehte sie sich auf die andere Seite und schlief nun fast sofort ein.
Gegen zwölf Uhr wurde Chris von dem schrecklichen Lärm von draussen geweckt. Er wollte aufstehen, fiel aber fluchend zurück ins Bett. Sein Kopf explodierte fast, wenn er sich auch nur einen Millimeter bewegte. In den Jahren, in denen er schon solche Partys feierte, hatte er nie auf den Kater hinterher geachtet. Doch er wünschte sich jedesmal, er würde es tun, aber er vergass es immer wieder.
Schwach erinnerte er sich an eine Frau, die mit ihm hierher gekommen war. Wo war jetzt? War sie schon wieder nach Hause gegangen? Er glaubte sich daran zu sich entsinnen, dass sie irgend etwas gesagt hatte, was ihn ziemlich überrascht hatte. Was war es gewesen? Er konnte sich nicht einmal mehr an ihr Gesicht erinnern, so betrunken musste er gewesen sein.
Kurz schloss er die Augen und startete einen erneuten Versuch. Der Kopf begann sofort wieder zu pochen, doch er verdrängte den Schmerz. Er stellte fest, dass er in den Kleidern, die er in der Nacht angehabt hatte, geschlafen hatte. Seufzend zog er sie aus und zog ein paar normale Jeans und ein Hemd an. Dann ging er hinaus, um zu sehen, was passiert war.
Auf dem Flur sass ein Dienstmädchen auf den Knien auf dem Boden und sammelte das heruntergefallene Geschirr auf. Sie sah erschrocken auf, als sie ihn bemerkte.
„Oh, es tut mir leid, Sir. Habe ich Sie geweckt? Ich wollte wirklich nicht, aber es hatte einen Rumpf im Teppich und da bin ich gestolpert und ...“
Er winkte ihr ab und meinte, dass es schon in Ordnung sei. Sie entschuldigte sich noch einmal, doch er ging schon die Treppe hinunter, um sich in der Küche nach etwas Essbarem umzusehen. Gerade, als er den Kühlschrank durchstöberte, kam seine Mutter hinein.
Sie sah lächelnd und fragte: „Gut geschlafen?“
Er wollte zuerst mit mieser Laune nicken, bevor er sich plötzlich an alles erinnerte, was gestern - heute morgen geschehen war. Das Mädchen - Lee - hatte gesagt, sie sei seine Schwester. Sie und Michelle hatten alles abgesprochen, um ihm einen Schrecken einzujagen.
Seine Laune verschlechterte sich noch mehr. Seine Mutter hatte ihn angelogen. Sie hatte ihm nie gesagt, dass sie schon einmal ein Kind geboren hatte. Genau wie sein Vater. Jetzt hatte er noch einen guten Grund, um ihm nicht zu gehorchen. Er starrte seine Mutter an, fixierte sie einen Moment lang und gab keine Antwort. Sie lächelte noch mehr und setzte sich an den Tisch.
„Wie gefällt sie dir?“ fragte sie und musterte ihn dabei genau. Ihr entging nicht, dass er kurz zusammen zuckte, als sie ‚sie‘ erwähnte.
„Wen meinst du?“ fragte er mürrisch und wandte sich der Kaffeemaschine zu.
„Du weisst genau, von wem ich rede. Was sagst du zu Lee?“ antwortete Michelle und versuchte, keinen aggressiven Ton anzuschlagen. Manchmal, wenn er ihr in diesem Ton antwortete, wurde sie richtig wütend. Am liebsten gäbe sie ihm eine Ohrfeige, aber er wäre imstande und würde sie dafür anklagen.
„Sie gefiel mir besser, als ich noch nicht wusste, wer sie war“, gab Chris zurück und sah dabei konzentriert auf das Glas, das langsam mit der schwarzen Flüssigkeit gefüllt wurde.
Michelle lächelte. Das war schon ein guter Anfang. Er antwortete ihr wenigstens. Er sprach von Lee, auch wenn es nicht unbedingt positiv war. Doch sie kannte ihn nun schon ganze sechzehn Jahre lang, und sie hatte gelernt, aus seinem Gesicht und seinen Bewegungen zu lesen. In Wirklichkeit fand er sie gar nicht so schlimm. Im Gegenteil, eigentlich freute er sich darüber, eine Schwester bekommen zu haben.
„Sie hat eine schwere Zeit hinter sich. Ich möchte, dass du nett zu ihr bist. Ich weiss, dass sie sich in der Gegenwart eines Gleichaltrigen wohler fühlt“, sagte sie und sah ihn erwartungsvoll an.
Er nahm seinen Kaffee aus der Maschine und trank einen Schluck. Seine Brauen zogen sich zusammen, als er sich dabei fast den Mund verbrannte. Eigentlich machte es ihm nichts aus, sich ein wenig um Lee zu kümmern. Sie gefiel ihm, mehr als sie es sollte, schliesslich war sie seine Schwester. Aber das würde vergehen, wenn er den Schock überwunden hatte, den sie ihm gestern abend bereit hatte.
Also nickte er seiner Mutter zu und ging dann aus der Küche. Mit dem Kaffee in der Hand schlenderte er durch das Weisse Haus, als hätte er es noch nie gesehen. Aus der Sicht eines Bruder - nicht aus der eines Sohnes - war alles irgendwie anders. Er konnte es nicht beschreiben, doch es schien schöner zu sein.
Er lächelte zu sich selbst. Diese Sicht war nur, bis sie den ersten Streit miteinander hatten. Diejenigen seiner Freunde, die Geschwister hatten, sagten, dass sie am liebsten auch ein Einzelkind wären. Vielleicht hatten sie recht, vielleicht lag es aber auch daran, dass sie schon ihr ganzes Leben lang Geschwister gehabt hatten.
Nach einer Weile kehrte er in sein Zimmer zurück und setzte sich an den Computer. Lees Freundin Reggie hatte ihm ein Angebot gemacht, dass er nicht ausschlagen konnte. Nur schon bei dem Gedanken an ein Treffen mit Marcano klopfte ihm das Herz bis zum Hals. Schnell klinkte er sich in das Netzwerk ein und ging in die Akten seines Vaters. Nur die wenigsten waren nicht abgesichert, doch bei vielen war der Code ziemlich einfach zu knacken. Er hatte von einem Freund ein Programm bekommen, das ihm dabei behilflich war.
Eigentlich wusste er nicht genau, was er eigentlich hier drinnen wollte. Der Spion war ziemlich schlau, hatte Reggie erzählt. Er verriet sich bestimmt nicht in Dokumenten, an die jeder zweitklassige Hacker kam.
Ein Lächeln schlich um seine Lippen, als ihm eine Idee kam. Er musste sich mit den Mitarbeitern seines Vater unterhalten. Er konnte als Ausrede vorgeben, dass er sich anfing, für Politik zu interessieren. Mit ein bisschen Geschick kamen sie bestimmt vom Thema ab zu seinem Vater und zu der Entführung.
Bevor er diese Idee verwirklichte, untersuchte er die Personalakten der Angestellten, die hier arbeiteten. Viele waren schon über fünfzehn Jahre hier, die schloss er gleich aus. Solange wollte sich doch nicht einmal der beste Spion verstecken. Einige der Angestellten waren erst seit ein paar Jahren dabei, die schloss er auch aus. Es war zuwenig, um eine wichtige Position einnehmen zu können.
Das Weisse Haus war nicht besonders klein, und der Regierungsstab auch nicht. Es blieben immer noch viel zu viele, um alle befragen zu können. Es war ziemlich auffällig, wenn auf einmal der Rebell sich an Politik interessierte. Also schloss er die Frauen auch noch aus. Reggie hatte erzählt, dass die Entführer alle Männer gewesen waren. Warum sollte dann ausgerechnet der Spion im Weissen Haus eine Frau sein? Er druckte sich die Liste, die nun auf etwa auf zwanzig Personen geschrumpft war, aus.
Die meisten der Personen kannte er zumindest vom Sehen her. Alle tauchten irgendwann einmal im Weissen Haus auf, auch wenn sie ihr Büro eigentlich ganz woanders hatten.
Chris fuhr den Computer herunter. In diesem Augenblick ging die Tür auf. Er sah sich um. Eigentlich war er sicher gewesen, dass er klargemacht hatte, dass niemand in sein Zimmer kam, ohne geklopft zu haben. Doch bei der Person, die hereinkam, war das ein wenig anders.
„Guten Morgen, Bruderherz. Wie geht es dir?“ fragte sie mit einem süssen Lächeln.
Das kurze dunkle Haar stand leicht vom Kopf ab. Der Morgenrock, den sie trug, gehörte eigentlich Michelle. Er war Lee ein bisschen zu gross. Die Ärmel kamen ihr über die Hände und liessen sie so ein wenig drollig aussehen.
„Vor zwölf Stunden ging es mir noch wesentlich besser“, antwortete er lächelnd.
Er stand auf, ging zur Tür, sah sich kurz um und schloss die Tür wieder. Lee runzelte die Stirn.
„Ich habe eine Liste der Personen, die hier arbeiten, untersucht und einige schon ausgeschieden. Das sind die, die noch übriggeblieben sind. Vielleicht könntest du mir helfen, sie zu befragen“, erklärte Chris und zeigte ihr die ausgedruckten Namen.
Lee sah sich die Liste an. „Und wie willst du etwas aus ihnen heraus bekommen? Willst du einfach fragen, ob er der Spion ist?“ fragte sie leicht spöttisch.
Er sah sie künstlich lächelnd an. „Halte mich nicht für blöder, als ich wirklich bin, Schwesterherz. Es ist ganz einfach. Wir gehen hin, unterhalten uns und kommen ganz zufällig auf diese Entführung zu sprechen. Der Spion wird anders reagieren als die anderen.“
Lee fragte ein bisschen besorgt: „Und wenn er nur wirklich so gut ist und sich nichts anmerken lässt?“ Chris‘ Plan tönte einfach, aber logisch, aber es war ein hoher Risikofaktor dabei. Sie konnten den Spion vielleicht erkennen, an dem, wie er sich verhielt, vielleicht konnten sie es aber auch nicht.
„Dann müssen wir eine andere Möglichkeit finden. Du kannst dir ja schon etwas einfallen lassen“, meinte er mit einem fröhlichen Lächeln. Sie schlug nach ihm, wie sie es schon am frühen Morgen getan hatte, doch diesmal wich er aus und grinste frech.
„Es tut mir leid, aber ich kann dir nicht helfen. Die Polizei ist hinter uns her und wir müssen uns verstecken. Ich weiss nicht, wie nahe sie uns schon sind, doch ich vermute, ziemlich nahe.“
Reggie erwachte von dem Gemurmel, das durch die geschlossene Tür zu ihr herüber drang. Sie war noch immer müde und wollte weiter schlafen, darum drehte sie sich auf die andere Seite. Doch die Stimme tönte noch immer zu ihr hinüber.
„Nein, es geht nicht! Wir müssen bald abhauen. Ich muss allen Kontakt abbrechen ... Ja, mein Vater weiss davon. Er hilft uns ... Was? Nein, er steht auf unserer Seite ... Nein, vergiss es. Du musst sofort von dort verschwinden. Wir sehen uns, sobald das alles hier vorbei ist ... Es wird nicht mehr lange gehen. Wir haben den jungen Leard auf unserer Seite ... Ja, bestimmt.“
Donnie sprach mit jemandem am Telefon. Reggie zog sich das Kissen über den Kopf. Sie war erst spät eingeschlafen und sollte jetzt schon wieder aufstehen? Es war erst zehn Uhr morgens.
„Wir müssen jetzt aufhören ... Geh dorthin, wo ich es gesagt habe. Ich komme, sobald ich kann ... Ja, ich weiss, dass ich es dir versprochen habe ... Aber ich kann jetzt nicht ... Okay, also dann bis bald.“
Er hängte den Hörer auf. Reggie drehte sich wieder um und setzt sich im Bett auf. Mit wem hatte er gesprochen? Was bedeutet ‚Bis bald‘? Wollte er sie verlassen?
Sie stand auf und zog schnell ein paar Jeans und ein Hemd an. Zögernd klopfte sie gegen die Verbindungstür. Donnie öffnete sie sofort und sah sie an. Nur schon an ihrem Blick schien er zu erkennen, dass sie mitgehört hatte.
„Wir haben ein Problem“, sagte er und setzte sich in einen Stuhl. Reggie ging langsam in das Zimmer hinein. Die Pistole lag unverdeckt auf einer Kommode und daneben lag das Handy, mit dem er vorher telefoniert hatte.
„Ist das etwas Neues?“ fragte Reggie und setzte sich so weit wie möglich von der Waffe entfernt auf das Bett.
„Ein Freund hat mich eben angerufen. Er steckt in Schwierigkeiten und leider hat er vor ein paar Jahren einmal einen Gefallen getan. Ich muss ihm helfen“, erklärte Donnie. Er klopfte mit seinen Fingern auf die Lehne des Stuhles und dachte nach. „Ich bringe Sie zu meinem Vater. Er wird sich um Sie kümmern, bis ich wieder zurück bin“, sagte er plötzlich und stand wieder.
Verwirrt erhob sich Reggie ebenfalls. „Aber was soll ich bei Ihrem Vater? Ich kann doch auch hier auf Sie warten, oder?“ fragte sie und bemerkte nicht, dass das Gesagte zweideutig war.
„Wenn Sie zur Polizei wollen, brauchen Sie das nur zu sagen. Ich werde Sie nicht daran hindern. Ich will Ihnen nur helfen, aber wenn Sie das nicht wollen, ist es mir auch egal, verstanden?“ reagierte er plötzlich sehr gereizt.
Reggie zuckte zusammen und schüttelte den Kopf. „Ich habe es nicht so gemeint. Ich sagte nur, dass ich nicht zu Ihrem Vater will. Ich kenne ihn nicht und ...“ Sie stockte, atmete tief und sagte dann ruhig: „Ich würde lieber bei dir bleiben.“
Donnie starrte sie erschrocken an. Sie hatte auf das ‚Du‘ gewechselt und gleichzeitig ein versteckte Geständnis abgelegt. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch er schloss ihn wieder, ohne es getan zu haben.
„Es tut mir leid“, reagierte Reggie automatisch, als sie sein erschrockenes Gesicht sah. Für sie sah es aus, als würde er gleich ausrasten.
Er fasste sich wieder und wehrte ab. „Ist schon in Ordnung. Du kannst mitkommen, wenn du wirklich willst“, sagte er lächelnd.
Sie nickte. „Und wohin gehen wir?“
„Nicht weit von hier gibt es ein Lagerhaus. Mein Freund versteckte sich dort vor jemandem, dem er auf die Füsse getreten ist. Doch dieser scheint ihn jetzt gefunden zu haben, also musste er abhauen. Wir treffen uns an einem geheimen Treffpunkt.“
„Und wie willst du ihm helfen? Willst du die, die ihn verfolgen, töten?“ fragte Reggie spöttisch und verschränkte die Arme vor der Brust.
Donnie stand auf, nahm die Waffe von der Kommode und sagte: „Nein, ich werde ihnen nur drohen. Sie werden es nicht wagen, sich mit mir anzulegen.“
Reggie hob die Brauen. „Ach ja? So furchterregend siehst du aber nicht aus.“
Donnie lachte und versorgte die Waffe unter seiner Schulter. „Ich selbst vielleicht nicht. Doch mein Name sagt einiges.“
Sie sieht ihn fragend an. Warum sollte sein Name soviel sagen? Vielleicht hatte er ihr ja verschwiegen, dass er sich einen Namen als Mörder oder Killer gemacht hatte, um sie nicht zu erschrecken.
„Ich bin Donnie Franco Marcano, der Sohn von Franco Marcano“, erklärte er leicht entschuldigend blickend.
Reggie öffnete erstaunt den Mund. Er war der Sohn von dem Marcano, den Chris unbedingt treffen wollte. Kaum zu glauben. Sie hätte sich den Sohn eines Unterwelt-Bosses irgendwie anders vorgestellt. Ausserdem hätte sie nicht geglaubt, dass der Unterwelt-Boss gegen das Töten sei. Im Fernsehen wurde die Mafia und die Kriminellen immer ganz anders dargestellt, viel brutaler und mörderischer.
„Vielleicht solltest du dich im Umgang mit einer Waffe üben“, wechselte Donnie das Thema, in dem er ihr das vorschlug, „Wenn du bei mir bleiben willst, wirst du noch ein paar schräge Typen antreffen, die nur auf eine Waffe reagieren.“
Reggie erschrak erneut. „Ich soll diese schrägen Typen erschiessen?“
Donnie lachte laut auf. „Nein, nicht erschiessen. Sie reagieren schon, wenn man eine Waffe in der Hand hat. Weisst du, Reggie, du siehst aus wie gewisse Undercover-Agenten von uns. Völlig unschuldig, wenn man nicht genau hinschaut, und doch stark“, sagte er und musterte sie dabei.
Reggie errötete leicht. „Ist das ein Kompliment?“
Er nickte lächelnd. „Komm jetzt, Reggie. Pack eine Jacke und etwas zum Wechseln ein. Vielleicht werden wir etwas länger weg sein.“
Sie seufzte und ging zu ihrem Zimmer zurück. Sie spielte gerne die Schurkin, aber nur in ihren Phantasien. Aber im wirklichen Leben eine Waffe auch nur anfassen, das war etwas viel verlangt. Sie würde zittern vor Angst, sich selbst zu erschiessen.
„Äh, Reggie?“ sagte da Donnie plötzlich, „Zieh irgend etwas schwarzes an. Das macht mehr Eindruck.“
Sie nickte lachend und schloss die Türe hinter sich. Sie zog schwarze Jeans und eine schwarze Bluse an. Danach nahm sie eine Tasche und stopfte ein paar Sachen hinein, vorwiegend schwarze, wie Donnie gesagt hatte.
Als sie wieder zu Donnie ins Zimmer ging, fingerte er gerade an seiner Waffe herum. Er hielt sie ihr hin. „Hier, die ist für dich.“
„Donnie, ich weiss doch gar nicht, auf welcher Seite man sie halten muss“, sagte sie und wich der Waffe aus.
„Dann werden wir das üben, sobald wir bei meinem Freund sind. Bis die kommen, die ihn verfolgen, haben wir bestimmt noch genug Zeit“, versicherte er ihr und zog die Waffe wieder zurück. Er legte sie in eine Tasche, schlüpfte in eine schwarze Lederjacke und zeigte zur Tür.
Sie gingen zu ihrem Auto und fuhren eine Weile lang durch die Stadt. Reggie hatte das Gefühl, dass Donnie im Kreis herumfuhr, aber absichtlich um potentielle Verfolger abzuschütteln. Sie sah immer wieder in den Rückspiegel, doch sie erkannte keine Beobachter. Im Fernsehen war das immer so einfach, doch jetzt nicht. Sie gab es auf und verliess sich darauf, dass Donnie sie erkennen würde, falls es überhaupt welche gab.
Sie fuhren auf einen grossen Parkplatz, der fast voll war. Donnie sagte ihr, sie solle ihm einfach folgen. Etwa fünf Minuten lang gingen sie durch die Strassen, bis sie in ein schlechtes Drittklasse - Hotel hineingingen. In den Gängen spielten ausländische Kinder mit kaputten Puppen, während aus den Zimmern das Geschrei ihrer Eltern tönte. Reggie hörte und sah nicht hin.
Donnie ging in ein Zimmer hinein. Ein Mann sprang sofort aus einem Versteck hervor und richtete eine Pistole auf ihn, die er aber sofort wieder herunter nahm.
„Ach, du bist’s, Donnie. Wie lange hast du den gebraucht? Ich habe schon gedacht, du kommst überhaupt nicht mehr.“
Sie umarmten einander. Der Mann entdeckte Reggie und lächelte. „Willst du mir deine Begleiterin nicht vorstellen, Donnie?“ fragte er mit einem Charme, der Reggie ganz und gar nicht gefiel.
Der Mann war etwa so alt wie Donnie, nur hatte er sich nicht so gut gehalten. Er hatte sich seit mehreren Tagen nicht mehr rasier oder gekämmt, genauso wenig hielt er etwas davon, sich zu waschen. Seine Kleider waren verschwitzt.
„Tommy, das ist Reggie. Reggie, das ist Tommy“, sagte Donnie und stellte sich neben sie, was so viel bedeutete wie: Lass die Finger von ihr.
Tommy gab ihr die Hand und grinste sie verführerisch an. Reggie lächelte leicht zurück und hoffte, er wurde nicht noch zu aufdringlich. Als hätte er ihre Gedanken gelesen, wandte er sich wieder Donnie zu.
„Mazzini hat mich vor ein paar Tagen aufgespürt. Ich konnte hierher flüchten, doch jetzt wird er mich nicht mehr freigeben. Du musst mir helfen, Donnie“, flehte er ihn fast an.
Donnie lächelte leicht. „Sonst wäre ich ja kaum hier, oder? Aber vergiss nicht, danach sind wir quitt, klar?“
Tommy nickte sofort. „Klar, Mann. Alles klar!“
Donnie hob die Brauen und wusste, dass Tommy wieder kommen würde, um ihn um Hilfe zu bitten. Doch das war nicht so schlimm. Er konnte Tommy gut leiden. Immerhin hatte man es bei ihm immer lustig.
„Du kannst hier schlafen, Reggie“, erklärte Tommy ihr und zeigte auf einen kleinen Raum. Er wirkte schmutzig, doch das sah nur so aus, weil der Putz von den Wänden fiel. Im Grossen und Ganzen war es sauber. Es hatte sogar frisches Bettzeug.
Reggie dankte ihm und stellte die Tasche auf das Bett. Donnie stellte seinen Rucksack auf das Sofa im Wohnzimmer, sofern man das so nennen konnte. Es hatte einen wackligen Tisch, ein paar noch wackligere Stühle und die Küche grenzte offen daran.
„Wie lange bleiben wir jetzt hier?“ fragte Reggie Donnie, als Tommy so höflich war, um ihnen etwas zu trinken anzubieten. Sie fühlte sich hier nicht besonders wohl.
„Bis Mazzini kommt. Das wird nicht sehr lange dauern. Vermutlich kommt er schon heute abend. Spätestens auf jeden Fall in zwei Tagen. Sonst enttäuscht er mich. Solange würde er nie brauchen, um Tommy zu finden.“
Reggie nickte. Aus dem Fenster sah man in einen schmutzigen Hinterhof, in dem noch schmutzigere Kinder mit einem kaputten Ball Fussball spielten. Sie wandte sich sofort wieder. Irgendwie schämte sie sich. Sie war in einem wunderschönen Einfamilienhaus aufgewachsen, das jede Woche von einer Putzfrau geputzt worden war und dessen Garten von einem Gärtner schön gehalten worden war. Nirgends war so viel Schmutz gewesen, dass es gestört hätte.
„Und was machen wir, während wir warten?“ fragte sie weiter. Sie spürte nämlich schon jetzt die Langeweile in sich hochsteigen.
„Du wirst schiessen lernen“, antwortete Donnie und plötzlich wieder eine Pistole in der Hand, die er ihr hinstreckte.
Argwöhnisch beäugte sie die Waffe. Ein mulmiges Gefühl stieg ihr in den Magen, als sie nach ihr griff. Sie lag schwer und kalt in ihre Hand. Reggie gab sich Mühe, um nicht zu zittern. Was war, wenn sie nun auf einmal losging?
„Sehr gut. Du hältst sie schon auf der richtigen Seite. Damit wäre die erste Lektion schon beendet. Wie wär’s mit der zweiten?“ scherzte Donnie. Er versuchte, sie ihre Unsicherheit vergessen zu lassen.
„Können wir das nicht verschieben?“
Donnie schüttelte den Kopf und nahm ihr die Waffe wieder aus der Hand. „Sieh zu. Das hier musst du zurückziehen, um sie zu entsichern. Dann musst du nur noch den Finger krümmen, um zu schiessen.“
Er führte es ihr vor, was sie tun musste. Es sah so einfach in seinen Händen aus, doch als Reggie es versuchte, klemmte es. Donnie meinte, das sei bei allen anfangs so. Er liess es sie wieder versuchen, bis es klappte. Dann musste sie den Revolver sichern und wieder entsichern und wieder sichern.
„Das machst du sehr gut. Heute nachmittag machen wir Zielübungen. Doch vorher müssen wir etwas essen gehen. Ich sterbe fast vor Hunger, du nicht?“
Reggie nickte, obwohl sie eigentlich keinen Hunger hatte. Die Waffe in ihrer Hand verdarb ihr jeglichen Appetit. Sie war von Grund auf nicht gewalttätig. Sie hatte schon Mühe damit, jemandem eine Ohrfeige zu geben, auch wenn er sie wirklich verdient hätte. Und jetzt spielte sie mit einer Waffe herum, die jemanden töten konnte.
Trotzdem gingen sie mit Tommy in ein Fast Food Restaurant. Tommy sah sich immer wieder nervös nach den Menschen um, die hereinkamen, während Donnie ganz ruhig seinen Hamburger ass. Reggie knabberte lustlos an einem Salat.
„Tommy, jetzt sitz doch endlich einmal still. Sie werden schon nicht hier hereinspazieren, dich umlegen und wieder abhauen, okay?“ bemerkte Donnie, als es ihm langsam zu bunt wurde.
Tommy nickte nur und versuchte, sich nicht mehr nach der Tür umzusehen. Seine Augen irrten jedoch immer noch im ganzen Restaurant umher, auf der Suche nach verdächtigen Bewegungen der Gäste. In seinem Gesicht glänzten Schweissperlen.
Nachdem sie gegessen hatten, fuhren sie in ein abgelegenes Gebiet der Stadt, wo es verlassene Lagerhäuser hatte, in denen man gut Zielübungen machen konnten.
Reggie bemerkte bei der Fahrt Donnies Blicke, die sich auf ein schwarzes Auto hinter ihnen geheftet hatten. Das waren bestimmt die Männer, die es auf Tommy abgesehen hatten.
Donnie sagte nichts von dem Auto zu Tommy, der viel zu nervös war, um es zu bemerken. In der Lagerhalle stellte er leere Bierdosen, die überall auf dem Boden herumlagen, auf einen Balken. Dann drückte er Reggie erneut die Waffe in der Hand und zeigte ihr, wie sie am besten zielte.
Nach mehreren Versuchen standen noch immer alle Büchsen an der gleichen Stelle. Donnie meinte, sie solle nur nicht aufgeben. Reggie wollte aber aufgeben. Sie hatte nicht vor, jemals einen Menschen mit einer Waffe umzubringen, also warum sollte sie lernen, wie man traf? Natürlich, es hatte seine Vorteile, wenn man es konnte, aber sie würde ja auch nicht ewig bei Donnie bleiben, nur solange, bis Lee und Chris den Spion gefunden hatten. Sie liebte Donnie und wünschte sich, es könnte für immer sein. Doch sie wünschte sich auch, dass sie dieses Ewig in einer kleinen Berghütte verbrachten, wo jeden Abend ein Feuer im Kamin brannte.
Sie wurde von ihren Übungen erlöst, doch anders, als sie es gewollt hatte. Mindestens ein Dutzend Männer kam plötzlich in die Lagerhalle. Alle waren mit Revolvern oder Maschinengewehren ausgerüstet. Sie stellten sich in einem Halbkreis vor ihnen auf. Dann kam der Chef, dieser Mazzini, herein. Er war nicht bewaffnet, das heisst, man konnte nicht sehen, ob er eine Waffe trug.
Donnie wandte sich ruhig von Reggie ab, die die Waffe sofort sinken liess, um nicht provozierend zu wirken. Er ging auf Mazzini zu, bis die Wachen ihre Pistolen ein wenig höher hoben.
„Wer sind Sie?“ fragte Mazzini streng.
Tommy stellte sich hinter Donnie, als wolle er sich verstecken. „Die gleiche Frage könnte ich Ihnen stellen“, antwortete Donnie, obwohl er ja wusste, wer er war.
„Mein Name ist Roberto Mazzini. Wer sind Sie?“ wiederholte er.
Donnie schien Freude daran zu haben, seinen Namen zu verheimlichen. „Was hat Tommy Ihnen getan, dass Sie ihn solange verfolgt haben?“
„Wer sind Sie, dass Sie es wagen, Fragen zu stellen? Ist Ihnen noch nicht aufgefallen, dass Sie nur ein Mann sind, der richtig schiessen kann?“
Donnie lächelte. „Von wo wollen Sie das wissen?“
Mazzini lächelte zurück „Von Tommy weiss ich, dass er kein guter Schütze ist.“ Er zeigte auf die Bierdosen. „Sie stehen alle noch“, meinte er. „Ihre kleine Freundin hat heute vermutlich zum ersten Mal eine Waffe in der Hand.“
Reggie hob reflexartig ihre Waffe und zielte damit auf die Stelle zwischen den Augen von Mazzini. „Wollen Sie darauf wetten, Mr. Mazzini?“ fragte sie. Donnie hatte ihr gesagt, sie sehe wie eine Spionin aus. Vielleicht konnte sie Mazzini überzeugen, dass sie eine Profischützin war.
Donnie musste sich beherrschen, um sich nicht überrascht zu ihr umzudrehen. Das hätte sie verraten. Mazzini starrte Reggie prüfend. Sie erwidert den Blick starr. Er machte ein kleines Zeichen mit der Hand, worauf alle Wachen ihre Gewehre auf Donnie und Reggie richteten.
„Sie können vielleicht beide gut schiessen. Doch es kommt trotzdem immer nur ein Schuss auf einmal aus der Waffe“, sagte er und wiederholte seine Frage: „Zum letzten Mal: Wer sind Sie?“
Donnie seufzte. „Ich bin Donnie Marcano.“
Mazzini reagierte zuerst nicht, bis er daran dachte, wer sonst auch noch Marcano hiess.
„Mein Vater wird es nicht gerne sehen, wenn sein einziger Sohn zusammen mit seiner Grossnichte tot in einer Lagerhalle aufgefunden wird. Glauben Sie mir, Mazzini, Sie hätten gerade noch solange zu leben, wie Sie brauchen würden, um zu verstehen, was Ihnen geschieht.“
Reggie unterdrückte ein Lächeln und versuchte, ihre Hand vom Zittern abzuhalten. Die Grossnichte vom Unterwelt-Boss persönlich. Warum eigentlich nicht? Das war doch ein schöner Titel und mit dem konnte man eine Menge machen.
Mazzini zögerte, machte dann aber wieder das Zeichen, so dass die Männer ihre Waffen herunternahmen.
„Sie sagen also, Tommy steht unter dem Schutz von Marcano?“
Donnie nickte. „Genau das wollte ich sagen. Ich würde Ihnen jetzt anraten, zu verschwinden und nie mehr in Tommys Nähe zu kommen. Krümmen Sie ihm auch nur ein Haar, sind Sie tot. Haben Sie das verstanden?“
Es war unglaublich, wie schnell sich Donnie von einem sanften, liebenswürdigen Menschen in einen kalten und erbarmungslosen Mann verwandeln konnte.
Mazzini starrte Donnie wütend an. Er war es sich nicht gewöhnt, so herum kommandiert zu werden, doch beim Sohn vom Boss persönlich musste man schon aufpassen, was man sagte. Einige böse Zungen behauptete, dass er besonders schiessfreudig war. Es war nicht gut, wenn man sich mit ihm anlegte.
Also winkte Mazzini seinen Männern zu und ging ohne ein weiteres Wort zu verlieren hinaus. Donnie drehte sich zu Tommy.
„Vielen Dank, Mann. Ich weiss nicht, was ich ohne dich getan hätte. Ich werde dir das nie vergessen“, sagte dieser und wollte Donnie umarmen.
Er wehrte jedoch ab. „Wir sind quitt, okay?“
Tommy nickte und sah zu Reggie. „Dein Auftritt war super. Mazzini ist richtig erblasst. Hast du es gesehen? Danke auch dir. Ich lasse euch jetzt alleine. Ich denke nicht, dass Mazzini wieder nach mir sucht.“
Er winkte Ihnen zu und rannte dann hinaus. Donnie sah zu Reggie und dann zu den Büchsen, die alle noch standen.
„Ich wette mit dir, dass du es nicht schaffst, vier Büchsen mit vier Schüssen hinunter zu schiessen“, sagte er.
Reggie grinste. „Und um was wetten wir?“ Sie wusste, dass sie es schaffen konnte, was sich aber auch bewusst, dass sie dazu noch mindestens ein Jahr lang üben musste.
Donnie überlegte kurz: „Um einen Kuss?“ Wenigstens war er fair. Es kam auf das gleiche heraus, ob sie gewann oder Donnie.
Sie nickte und hob die Waffe wieder hoch. Langsam kniff sie das linke Auge zu und peilte über den Lauf des Revolvers die Büchse an. Sie schoss und zu ihrer Verwunderung schepperte die Dose zu Boden. Grinsend sah sie Donnie an, der nur ‚Abwarten‘ meinte.
Sie schoss wieder, doch diesmal traf sie nicht. Jetzt grinste Donnie. Reggie seufzte. Sie ging zu ihm hin und küsste ihn fast überhaupt nicht auf die Wange.
Er protestierte sofort. „Das gilt nicht!“
Reggie küsste ihn auf den Mund. Er legte seine Arme um ihre Hüften und drückte sie fest an sich.
Chris und Lee wussten, dass sie nur eine Chance hatten, um den Spion zu finden. Wenn er erst einmal Verdacht geschöpft hatte, würden sie ihn nie mehr finden, vor allem nicht mit dieser Methode, die sie jetzt hatten. Sie setzten alles auf eine Karte, auf eine sehr schwache Karte. Wenn der Spion wirklich so gut war wie Reggie behauptete, reagierte er vielleicht gar nicht. Die Möglichkeit bestand.
Doch ihnen viel nichts besseres ein. Lee hatte den Vorschlag gemacht, ihren Vater einzuweihen, doch das hatte Chris strikt abgelehnt. Er hatte es begründet, dass sein Vater nichts tun könnte, ohne dass es von seinem Stab genehmigt wurde. Und der Spion war vermutlich in diesem Stab. Es hatte Lee überzeugt, doch sie wusste genau, dass es nicht der einzige Grund war. Chris konnte seinen Vater nicht ausstehen. Sie kannte seine Argumente nicht, aber sie wusste, dass es so war. Wenn Chris etwas mit John zusammen machen müsste, würde er lieber eine Woche lang nichts essen als es zu tun.
Lee regte sich darüber auf, dass Chris so einfach Reggies Leben riskierte, nur weil er John nicht mochte. Sie beschloss, ihn ohne Chris‘ Wissen einzuweihen. Er würde viel mehr tun können als sie beide zusammen, weil er an Daten herankam, zu denen Chris mit seinem Hackerprogramm keinen Zugriff bekam. Sie würde es tun, sobald sie Gelegenheit dazu bekam.
Aber jetzt war sie damit beschäftigt, das Weisse Haus zu erkunden und dabei gleich die Möglichkeit zu nutzen, sich die Menschen, die hier arbeiteten, ein wenig näher anzusehen. Nur wenige wussten, wer sie in Wirklichkeit war, doch sie vermutete, dass es viele ahnten. Alle waren auf jeden Fall sehr höflich mit ihr. So höflich, dass es schon fast nicht mehr schön war.
Gegen Abend war eine Pressekonferenz geplant, in der sich der Präsident John Leard und der Schauspieler Skeet McGowan zur Entführung und ihrer Verbindung dazu äussern wollten. Die Presse belagerte schon seit dem diese Meldung bekannt geworden war das Weisse Haus und liess sich auch nicht durch die Polizisten vertreiben. Sie glaubten tatsächlich, dass jemand herauskommen würde, der ihnen mehr Informationen lieferte. Lee freute sich jetzt schon auf ihre Gesichter, wenn sie erfuhren, dass der Präsident in Wirklichkeit noch eine Tochter hatte. Das gab bestimmt ein wahnsinniges Durcheinander.
Vielleicht aber würde es gar nicht so lustig werden, wie sie glaubte. Die Presse würde über sie herfallen wie ein Löwe über sein Opfer. Sie würden alles in ihrem und auch in Reggies Leben aufwühlen, bis sie etwas gefunden hatten, das sie als Schlagzeilen verwenden konnten. Das war die Schattenseite des Ruhms.
Sie verschob die Gedanken daran und sah auf die grosse Tür vor sich. Unbewusst hatte sie das Arbeitszimmer ihres Vaters angesteuert. Sie wollte ihn jetzt. Zögernd stiess sie die Türe auf. Die Sekretärin sah auf und lächelte.
„Ich möchte zu President Leard. Ist er hier?“ fragte Lee sofort und setzte dabei das freundlichste und unschuldigste Lächeln auf, das sie zustande brachte.
Die Sekretärin nickte und zeigte zur Tür. Lee dankte ihr, klopfte an und ging dann hinein. Ihr Vater sah erstaunt auf, als sie eintrat. Er sass am Schreibtisch, der überfüllt war mit Akten und Formularen, oder was es auch immer für Papiere waren. Es interessierte Lee nicht.
„Ich muss unbedingt mit dir reden“, erklärte sie ihm. Sie stellte sich vor den Schreibtisch und kam sich dabei ein wenig blöd vor. Sie war seine Tochter und trotzdem stand sie dort, wo alle anderen auch standen, als Gast, als Besucher.
John lächelte sie entschuldigend an. „Tut mir leid, Lee, aber ich habe jetzt wirklich keine Zeit. Die Pressekonferenz heute abend nimmt mich voll in Anspruch. Wir dürfen der Presse keinen Anstoss zum Spekulieren geben.“
Lee hörte aus diesen Worten einen deutlichen Rausschmiss heraus, doch sie bewegte sich nicht von der Stelle. Sie musste jetzt mit ihm reden, damit er möglichst bald etwas unternehmen konnte. Vielleicht hatte er ja schon einen Verdacht, dass etwas mit einem seiner Mitarbeiter nicht stimmte.
„Es ist aber wirklich wichtig“, beharrte sie.
Er zeigte auf die Papiere, die vor ihm lagen. „Ich muss das alles heute noch durch arbeiten. Es ist wirklich ein sehr ungünstiger Zeitpunkt. Vielleicht habe ich später Zeit“, erwiderte er. Seine Geduld schien nicht von sehr weit her zu kommen.
Doch Lee blieb noch immer stehen. Rasch sah sie sich um, ob die Türe geschlossen waren. „Ich habe gestern Reggie getroffen“, liess sie dann plötzlich verlauten.
Der Präsident hörte zuerst auf zu schreiben, hob dann den Kopf und musterte Lee ungläubig. „Wie bitte?“ fragte er.
„Reggie war gestern auch auf der Party von Chris“, erklärte Lee.
John legte den Stift weg und stand auf. Er zog sie mit zur Polstergruppe und bedeutete ihr, sich zu setzten. Auffordernd setzte er sich neben sie. Auf einmal hatte sie seine ganze Aufmerksamkeit. Wie viel so ein Name doch ausmachen konnte.
„Reggie wollte mit Chris sprechen, weil sie ihn um Hilfe bitten wollte“, begann Lee, als John sie schon unterbrach. „Hilfe wovor?“
„Donnie, also Donald Marcano hat ihr das Leben gerettet. Der eigentliche Deal der Übergabe bestand darin, das Lösegeld zu kassieren und sie danach umzubringen. Nun, der Zufall wollte es, dass sie sich ineinander verliebt haben. Donnie konnte nicht zulassen, dass man sie einfach umbringt.“
Das Erstaunen war John richtig anzusehen. „Verliebt? Sie haben sich ineinander verliebt? Aber Marcano könnte doch Reggies Vater sein!“
Ungerührt zuckte Lee mit den Schultern. „Na und? Die Liebe geht manchmal seltsame Wege. Auf jeden Fall ist sie nicht seine Gefangene und könnte gehen, wann immer sie möchte. Es gibt da nur ein kleines Problem.“
John musterte sie und versuchte herauszufinden, was das für ein Problem sein könnte. War Reggie etwa so sehr in diesen Donnie verliebt, dass sie sich nicht mehr von ihm trennen wollte? Aber wie könnte ihr Chris da helfen?
„Es gibt einen Spion im Weissen Haus. Vermutlich ist er einer deiner engsten Mitarbeiter. Er kann sich sehr gut verstellen und lebt vermutlich schon seit mehreren Jahren als diese Person. Donnie kennt den Spion nicht und kann ihn deshalb nicht selber unschädlich machen. Er weiss nur, dass er wirklich gut in seinem Job ist und dass er Reggie sofort wieder gefangennehmen würde, wenn sie auf einmal frei herum lief. Vielleicht würde er sie sogar umbringen.“
Der Präsident runzelte die Stirn. Ein Spion in seinem Stab? Das konnte er sich schwerlich vorstellen. Er hatte ein ziemlich gutes Gespür für Menschen und er vertraute seinem Stab vollkommen. Er kannte alle schon seit mehreren Jahren. Die meisten von ihnen waren schon seit seiner Wahlkampagne bei ihm, andere waren erst später dazugekommen, aber bei allen war er sicher, dass sie ihre Arbeit wirklich ehrlich meinten. Keinem von ihnen würde er einen Verrat zutrauen, geschweige denn einen Mord.
„Bist du dir sicher, dass das stimmt?“ fragte er zweifelnd.
Lee nickte. „Ja, ich bin sicher. Chris versucht, den Spion auf eigene Faust zu suchen, weil er dich nicht um Hilfe bitten will, doch ich glaube nicht, dass wir es schaffen. Wir brauchen deine Hilfe.“
Sie sah ihn so flehend an, dass er für einen Moment bereit gewesen wäre, alles für sie zu tun. Er hätte ihr jeden Wunsch erfüllt, bis er sich wieder unter Kontrolle hatte und nicht mehr Vater war, sondern Präsident. Er stand auf, warf ihr einen Blick zu und ging ein paar Schritte.
„Wie kann ich euch helfen?“ wollte er wissen und gab damit seine Zustimmung, dass er sie unterstützen würde.
Erleichtert atmet Lee auf und erzählte ihm den Plan, den Chris ausgearbeitet hatte. John war ebenfalls der Ansicht, dass es ein sehr gewagter Vorhaben war. Er schlug vor, die Personalakten aller Personen auf irgendwelche Hinweise zu prüfen.
„Du darfst aber niemandem davon erzählen. Nicht einmal Michelle, okay? Jede Person, die davon weiss, ist eine zuviel. Wir müssen das Risiko so klein wie möglich halten. Wenn der Spion einen Verdacht kriegt, sucht er nach ihr. Jetzt weiss er vielleicht noch gar nicht, dass Reggie gar keine Geisel mehr ist.“
Der Präsident nickte. Er war verpflichtet, seinem Volk zu helfen. Er würde auch Reggie helfen, so gut es ging, nicht nur, weil sie zu seinem Volk gehörte. Sie war die beste Freundin seiner Tochter und er könnte sich nicht verzeihen, wenn ihr etwas zustossen würde, obwohl er es hätte verhindern können.
Die Sirenen tönten von weit her. Sie hatten nicht das Gefühl, als ob sie ihnen galten. Sie achteten schon gar nicht auf sie. Ungeniert küssten sie sich und erkundeten den Körper des anderen. Die Welt um sie herum war vergessen. Sie waren hier allein, niemand würde sie jetzt stören können.
Ausser die Polizei.
Die Sirenen kamen immer näher und tönte von immer mehr Autos her. Als sie dann erste Bremsen quietschen hörten, merkten sie, dass sich etwas abspielte, das ihnen galt. Donnie flüsterte einen Fluch und zog sie hinter ein paar leere Kisten.
„Verdammt noch mal, das sind die Bullen. Wie kommen die hier her?“
Reggie verstand im ersten Moment gar nicht, was los war. Ihr Herz klopfte noch immer von Donnies Küssen, vor Erregung. Ihr Kopf war mit einem rosa Schleier umgeben, den auch die Sirenen nicht durchdringen konnte. Sie sah auf Donnie, der mit geübten Griffen seine Waffe lud und sie entsicherte.
Auf einmal konnte sie wieder klar denken und hielt ihre Hand auf den Revolver. „Nein, nicht“, flüsterte sie, „Wir tun so, als wäre das hier unser Liebesnest. Vielleicht erkennen sie uns nicht und glauben, sie hätten sich geirrt.“
Reggie wusste genauso wie Donnie, dass das nicht funktionieren würde. Doch es war ein Versuch wert. Vielleicht hatten sie es ja mit ganz besonders dummen Polizisten zu tun. Auf dem Boden lagen dreckige Decken herum, auf die sie sich legten und zu schmusen anfingen, als die ersten schnellen Schritte einer Spezialeinheit ertönten.
„Aufstehen! Hände über den Kopf! Keine falsche Bewegung.“
Reggie starrte den Mann erschrocken an und zog sich wieder das Hemd um die Schultern. Sie tat so, als hätte sie nicht damit gerechnet.
Donnies Augen weiteten sich ebenfalls und er begann zu stottern: „Was ... was soll das? Wir haben nichts getan. Ehrlich! Was wollen Sie?“
Die Polizisten in den schwarzen Uniformen hatten sich um sie herum aufgestellt. Alle Waffen waren auf sie gerichtet. Ein Fluchtversuch kam auf keinen Fall in Frage.
„Sind Sie Donald Franco Marcano?“ fragt der Mann, der ihnen schon den Befehl zum Aufstehen erteilt hatte.
Donnie, der die Hände zitternd hochhielt, schüttelte hastig den Kopf. „Nein, mein Name ist ...“
Er sah in ein nicht maskiertes Gesicht und erkannte es. Es war der Polizist, der in die Wohnung in New York gekommen war. In seinen Händen lagen Handschellen.
„Donald Marcano, Sie sind verhaftet. Sie haben das Recht zu schweigen. Alles, was Sie sagen, kann und wird vor Gericht gegen Sie verwendet werden. Sie haben das Recht auf einen Anwalt. Wenn Sie sich keinen leisten können, wird Ihnen vom Gericht einen gestellt. Haben Sie Ihre Rechte verstanden?“ ratterte Dennis Hemingway hinunter und dabei liess er die Handschellen um Donnies Hände klicken.
Reggie sah erstarrt zu Donnie. Wieso wollten sie ihn verhaften? Er hatte doch gar nichts getan? Er hatte ihr das Leben gerettet. Sahen sie das denn nicht? Sie konnten ihn doch jetzt nicht einfach einsperren.
Donnie sah man die Anspannung deutlich an. Er war erst wenige Male verhaftet worden und nie hatte man ihm etwas anhängen können. Doch nun hatte die Polizei richtige Beweise, sonst hätten sie ihn nicht bis hierher verfolgt. Sein Blick fiel in den von Reggie, die irgendwie noch immer nicht verstehen konnte, was passiert.
„Miss Cormack, kommen Sie bitte mit uns“, sagte einer der Männer und zog sie sanft, aber bestimmt von Donnie weg.
Sie wollte aber nicht gehen. Ihre Augen klebten an Donnies Blick. Er schaute sie traurig, gespannt und ängstlich an. Ja, er hatte angst und er gab es zu, ihr gegenüber. Sie durfte es wissen.
„Nein, ich will nicht“, widerstrebte sich da Reggie und zog ihren Arm aus der Hand des Mannes.
Sie rannte zu Donnie zurück und wusste, dass sie sich damit strafbar machte. Sie wusste es, weil sie genug fernsehen sah und es war ihr egal. Sie umschlang ihn und küsste ihn.
„Ich liebe dich“, flüsterte sie, als sie von den Polizisten wieder fortgezogen wurde. Sie lächelte ihn an und hoffte, dass sie auch verhaftet wurde. Dann wären sie zumindest zusammen.
„Ich liebe dich auch“, antwortete er ihr leise. Ein bisschen der Trauer und der Angst verschwand aus seinen Augen. Er spitzte die Lippen und hauchte ihr einen Kuss zu.
Dann wurde er weggezerrt und in ein Auto verfrachtet. Reggie wehrte sich gegen die Polizisten und gegen sich selbst. Ihr Verstand sagte ihr, dass sie Donnie nicht nachrennen durfte, aber ihr Herz sagte etwas ganz anderes. Sie wollte ihn nicht verlieren, auch wenn sie wusste, dass er ein Straftäter war.
„Miss Cormack, wir haben uns schon kennengelernt“, sagte Dennis auf sie zukommend. In seinem Blick lag deutlich Missbilligung für ihr Verhalten, „Sind Sie in Ordnung? Hat man Ihnen etwas getan?“
Reggie schüttelte den Kopf. Ihr Blick folgte dem Polizeiwagen, in dem Donnie sass, bis sie ihn nicht mehr sehen konnte.
„President Leard hat angeordnet, dass wir Sie sofort zu ihm bringen sollen. Würden Sie also mitkommen?“
Das war keine Frage, es war ein Befehl, aber Reggie nickte und folgte ihm zum Wagen. In ihrem Kopf spielte sich alles immer und immer wieder ab. Wie war die Polizei an ihre Spur gekommen? Woher hatten sie gewusst, dass sie hier waren?
Dennis beobachtete Reggie durch den Rückspiegel des Autos. Stumm sass sie da und sah aus dem Fenster. Er wusste, dass sie keine normale Geisel war, nicht nur wegen der Situation, in der sie die beiden gefunden hatten. Er wusste es seit ein paar Tagen, als sie vorgegeben hatte, Marcanos Tochter zu sein.
Sie redeten kein Wort miteinander, bis sie beim Weissen Haus ankamen. Dort wartete ein Empfangskomitee aus Polizisten und Wachen des Präsidenten. Reggie beachtete es gar nicht. Sie gingen die breite Treppe hinauf, durch die Haupttüre hinein. Plötzlich begann etwas zu piepsen.
Reggie schreckte hoch und bemerkte erst jetzt, dass sie durch einen Metalldetektor gegangen war. Alle Wachen war sofort aufmerksamer geworden und richteten ihre Blicke auf sie.
„Würden Sie bitte Ihre Taschen ausleeren, Miss?“ fragte ein Sicherheitsbeamter höflich, aber bestimmt.
Reggie griff sich in ihre Hosentasche, obwohl sie wusste, dass sie dort nichts drin hatte. Bestürzt erinnerte sie sich daran, dass sie noch immer den Revolver trug. Sie hatte ihn sich hinten in die Hose hineingesteckt, wie sie es immer in den Filmen sah. Zu spät dachte sie daran, dass sie ihn hätte verstecken müssen.
Zögernd nahm sie die Waffe heraus und hielt sie dem Beamten hin. Er starrte sie verwundert an, liess aber keine Bemerkung fallen. Dennis registrierte es, wie er schon alles anderes registrierte.
Er nickte in eine Richtung des grossen Flurs und öffnete eine Tür. Sie führte in ein Konferenzzimmer mit einem grossen Tisch. Ein paar Polizisten sassen dort, unter ihnen war auch der Präsident. Er hatte sich erhoben und lächelte leicht. Plötzlich kam von der Seite her Lee und umarmte Reggie.
„Wie geht es dir?“ fragte Lee leise und besorgt. Sie sah in allen Personen, die hier anwesend waren, den Spion, der Reggie umbringen wollte.
„Es ging mir schon besser“, gab diese leise zur Antwort, lächelte aber tapfer.
Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf John Leard, der zu ihr herangetreten war und die Hand ausstreckte. „Miss Cormack, ich bin sehr froh, dass wir Sie endlich gefunden haben. Ich hoffe, es geht Ihnen gut.“
Reggie nickte. Irgendwie beeindruckte es sie überhaupt nicht, dass sie dem Präsidenten die Hand schüttelte. Noch vor ein paar Tagen wäre sie ausgerastet, wenn sie überhaupt in seine Nähe gekommen wäre, aber jetzt war alles anders.
„Kommen Sie, setzen Sie sich. Möchten Sie etwas trinken? Oder etwas essen?“ fragte er gastfreundlich.
Sie schüttelte den Kopf. Sie hatte weder Hunger noch Durst. Oder vielleicht doch. Sie war hungrig und durstig nach Liebe, nach Liebe von Donnie. Doch das konnte ihr selbst die Küche des Weissen Hauses nicht bieten.
Die Polizisten entfernten sich aus dem Zimmer, bis nur noch Dennis Hemingway, Lee, der Präsident und sie da waren. Sie setzten sich auf eine Polstergruppe in einer Ecke.
„Es tut uns leid, wenn wir Sie jetzt schon mit Fragen durchlöchern, aber es muss sein. Wir wollen die Angelegenheit mit Marcano so schnell wie möglich hinter uns bringen“, begann der Präsident. Er ahnte nicht, wie sehr er Reggie damit verletzte.
Die Angelegenheit! War Donnie etwa nur eine abscheuliche Sache, die man am liebsten ganz verschwinden liess? Da hatte er ja Glück, dass es in Washington keine Todesstrafe mehr gab.
„Ich möchte, dass Sie mir jetzt genau erzählen, was alles passiert ist, nachdem Lee fliehen konnte. Erzählen Sie mir alles ganz genau“, verlangte der Präsident und sah Reggie dabei aufmunternd an.
Sie erzählte ihnen, was geschehen war, doch sie war nicht bei der Sache. Es kam alles ganz automatisch aus ihr heraus, so als wäre das nur eine Geschichte, die sie einmal irgendwo gehört hatte. Ihre Gedanken schwebten immer noch bei Donnie. Sie hatte angst um ihn.
„Glauben Sie, dass es wirklich einen Spion gibt, oder sagte er das nur, um Sie bei sich behalten zu können?“ fragte Dennis zweifelnd.
Reggie wollte aufbrausen und fragen, ob er Donnie einen Lügner nennen will, doch sie beherrschte sich. Sie wusste nicht, ob Donnie sie nicht angelogen hatte. Sie hatte ihn mehrmals gefragt, ob es nicht besser wäre, wenn man die Polizei informieren würde, doch er hatte immer neue Gründe erfunden, die zwar sehr überzeugend klangen, aber nicht unbedingt stimmen mussten. Sie waren zu überzeugend gewesen.
Eigentlich sollte sie sich darüber ärgern, dass er sie angelogen hatte, aber das tat sie nicht. Wenn er diese Geschichte nicht erfunden hätte, dann hätte sie nie dieses Gefühl kennengelernt, weder die Freude noch den Schmerz. Beides war musste man einmal gefühlt haben, das wusste sie.
„Nein, ich glaube nicht, dass es stimmt“, antwortete sie leise und sah dabei nicht in Lees Augen.
Sie konnte den kurzen Vorwurf trotzdem sehen. ‚Du hast uns die ganze Mühe umsonst machen lassen?‘ stand in ihren Augen geschrieben, doch das verschwand schnell wieder. Lee verstand sie, auch wenn sie vielleicht gar nicht wusste, um was ging.
„Sie glauben also auch, dass er Sie angelogen hat, damit Sie freiwillig bei ihm bleiben?“ fragte Dennis weiter.
Furcht stieg in Reggie hoch, als sie bemerkte, welches Ziel dieser Polizist verfolgte. Er wollte, dass sie Sachen sagten, die Donnie belasteten. Alles, was sie bis jetzt vielleicht gesagt hatte, konnte gegen ihn verwendet werden. Warum hatte sie das nicht früher gemerkt?
„Hören Sie, vielleicht denken Sie, Donnie ist ein skrupelloser Mörder, doch das stimmt nicht! Er hat mir das Leben gerettet! Ohne ihn wäre ich jetzt schon lange tot. Haben Sie das vergessen?“ wandte sie mit erhobener Stimme ein.
Dennis schüttelte den Kopf. Nein, vergessen hatte er es bestimmt nicht, aber es zählte für ihn nicht. Er hatte Leute ermordet und entführt und dafür musste er ins Gefängnis. Es kam nicht darauf an, ob er einmal jemanden gerettet hatte. Vielleicht wurde dadurch seine Strafe von lebenslänglich auf vierundzwanzig Jahre verkürzt, aber darauf kam es auch nicht mehr an.
„Nein, Miss Cormack, natürlich habe ich das nicht vergessen. Es wird vor Gericht bestimmt auch lobend erwähnt werden“, antwortete Dennis.
Reggie war plötzlich müde. In letzter Zeit hatte sie einfach zuwenig geschlafen. Sie unterdrückte ein Gähnen und stand auf. „Dürfte ich mich vielleicht kurz irgendwo hinlegen? Ich bin ziemlich müde“, fragte sie.
Der Präsident stand sofort auf und wollte sie hinausbegleiten, aber Lee sagte ihm, sie werde das machen. Sie legte Reggie einen Arm um die Hüften und zog sie mit sich. Schweigend gingen sie die Treppe hoch zu Lees Zimmer.
„Ich kann nicht sagen, dass ich weiss, wie du dich fühlst, doch ich hoffe, morgen geht es dir besser“, sagte Lee einfühlsam und gab ihr ein Pyjama von sich.
Dankend lächelte Reggie. „Weisst du, er ist fast über zwanzig Jahre älter als ich, aber trotzdem habe ich das Gefühl, als ob er auch erst so alt wäre wie ich. Ich sah den Unterschied zwischen uns beiden gar nicht.“
Lee sah zu, wie Reggie sich umzog und sich ins Bett legte. Sie deckte sie zu wie ein kleines Kind. „Vielleicht kommt Donnie ja nicht ins Gefängnis. Ich meine, er hat dir das Leben gerettet. Das kann bei Geschworenen ziemlich viel Eindruck machen, meinst du nicht?“
Es war schön, dass Lee versuchte, sie aufzumuntern, allerdings brachte es leider so gut wie nichts. „Du siehst zuviel fern“, zitierte sie Donnie.
Lee lächelte leicht. „Morgen lernst du deinen Vater kennen“, wechselte sie das Thema, „Ich hatte schon das Vergnügen. Er wäre fast gestorben vor Angst um dich, ehrlich. Ich glaube, er ist in Ordnung.“
Ihr Vater! Den hatte Reggie fast vergessen. Sie hatte gar nicht mehr daran gedacht, dass sie die Tochter von Skeet McGowan war. Es war so viel geschehen, seit sie das erfahren hatte. Sie hatte das Gefühl, als seien unterdessen Jahre vergangen.
Lee lachte über Reggies Gesichtsausdruck, aber sie hütete sich davor, etwas zu sagen. Es wäre nur wieder darauf hinausgelaufen, dass sie Donnie erwähnte. Also wünschte sie ihr nur eine gute Nacht, obwohl es eigentlich erst nachmittag war und ging hinaus.
Vor der Tür wartete ihr eigener Vater, den sie auch erst seit wenigen Tagen kannte.
„Sie liebt diesen Donnie wirklich, nicht wahr?“ fragte er leise.
Lee nickte. Ja, das tat sie wohl. Sie wusste zwar nicht warum, aber es war so. Eigentlich sollte sie ihn hassen. Er hatte sich anheuern lassen, um sie beide zu entführen; er hatte sich dazu bereit erklärt, sie zu töten, sobald sie das Geld bekommen hatten; er hatte ihr das Leben gerettet.
„Ich möchte ihr gerne helfen, aber Marcano ist einer der schlimmsten Verbrecher, die es gibt. Sein Vater ist der Mann in diesem Milieu. Ich denke nicht, dass das Gericht bei ihm Gnade kennt“, bekannte er.
In seinen Augen sah Lee, dass es ihm wirklich leid tat. Nicht um Donnie, denn ihm wünschte er das Gefängnis, aber um Reggie.
Das Licht im Verhörsraum war gedämpft und hatte eine fast hypnotische Wirkung. Es schien wie Nebel, der alles verschleierte. Es hatte eigentlich keine Fenster, nur eines, das aber nicht nach draussen führte. Hinter dieser schwarzen Scheibe sassen mehrere Männer oder Frauen, die sich das Verhör mit anhörten und alles aufzeichneten. Sie beobachteten jede Geste, die Donnie machte und nahmen jedes Zucken seiner Wimpern wahr.
Der Mann, der ihm gegenüber am Tisch sass, war Dennis Hemingway, der Mann, den er zusammen mit Reggie an der Nase herumgeführt hatten. Er hatte ein Tonband vor sich, auf dem er die Aufnahme - Taste gedrückt hatte.
Donnie hatte seinen Platz auf einem Holzstuhl. Seine Hände waren noch immer mit den Handschellen gefesselt und schnitten ihm ins Fleisch. Aber er klagte nicht. Vielleicht lenkte ihn der Schmerz ein wenig von der Trauer in seinem Innern ab.
„Mr. Marcano, Ihre Schuld steht ziemlich unzweifelhaft fest. Mit einem Geständnis würde sich das Gericht sicher zu ein wenig zu Ihren Gunsten wenden“, stellte Dennis fest und sah ihm dabei fest in die Augen.
Donnie hatte schon die ganze Geschichte erzählt, die sich ereignet hatte. Er hatte nichts verschwiegen, aber sehr auf seine Wortwahl geachtet, um sich nicht unnötig selbst zu belasten.
„Für was wollen Sie ein Geständnis, Mr. Hemingway? Ich habe doch zugegeben, dass ich an der Entführung beteiligt war.“
Dennis seufzte. „Natürlich haben Sie das. Aber ich möchte ein Geständnis dafür, dass Sie der Anführer waren, dass Sie die Geiseln hatten töten wollen und dass Sie ausserdem eine Minderjährige sexuell genötigt haben.“
Donnie musste lachen. „Ich habe keine Minderjährige sexuell genötigt!“
Dennis blieb ernst. „Regina Cormack wird in etwa einem Monat achtzehn. Das bedeutet, sie ist jetzt siebzehn, also minderjährig.“
Ein schwaches Lächeln ging über seine Lippen. Das waren juristische Details. Egal, ob Reggie nun achtzehn oder erst siebzehn war, er hatte sie bestimmt nicht sexuell genötigt! Er hätte sich gehütet, sie anzurühren, wenn sie es nicht auch gewollt hätte. Und das hatte sie wirklich. Er verstand es nicht, warum sie einen so viel älteren Mann wie ihn begehrte, aber sie tat es.
„Ich gebe zu, dass wir die Geiseln töten wollten und dass ich die Gruppe anführte, nachdem der Sicherheitschef der USA Robert Mulroney mich angeheuert hat“, gestand er und liess dann seinen Blick kalt werden, „doch ich habe nichts mit sexuellen Missbrauchs zu tun. Das können Sie mir nichts anhängen.“
Dennis blieb ruhig. „Bei Ihrer Verhaftung haben wir gesehen, wie Sie sie ziemlich eindeutig berührt haben.“
Donnie verkniff sich ein Lächeln. Langsam wanderte sein Blick zu der schwarzen Scheibe, hinter der noch immer die anderen sitzen mussten. Was dachten sie, wen sie vor sich hatten? Einen Mörder? Einen Vergewaltiger? Oder vielleicht einfach ein weiter Krimineller in einer langen Reihe?
„Würden Sie mir bitte mal ‚Missbrauch‘ definieren? Ist es nicht so, dass Missbrauch nur dann zutrifft, wenn nur eine Person den Kontakt will? Wenn sie die andere dazu zwingt, mitzumachen?“
Dennis starrte Donnie leicht stirnrunzelnd an. Wenn eine frühreife Zwölfjährige mit einem Volljährigen schlief, wurde das oft als sexueller Missbrauch angesehen, auch wenn es auch die Zwölfjährige gewollt hatte. Doch bei einer fast Achtzehnjährigen konnte man nicht mehr einfach jemanden einsperren. Dann war sie selbst fähig zu entscheiden, ob sie es tun wollte oder nicht.
„Reggie wurde von mir bestimmt nicht missbraucht, Agent Hemingway“, sagte Donnie, „Ich bin sicher, das wird sie auch bezeugen, wenn Sie mir nicht glauben.“
Musternd für Dennis‘ Blick über Donnies Gesicht. Er starrte ihn an. Plötzlich nickte er und drückte auf die Stop-Taste des Aufnahmegerätes.
„Der Termin für die Voranhörung wurde noch nicht angesetzt, doch ich vermute, dass sie etwa in zwei oder drei Wochen sein wird. Bis dahin werden Sie in Gewahrsam bleiben“, informierte ihn Dennis und stand auf, „Haben Sie einen Anwalt?“
Donnie nickte, worauf Dennis hinausging und zwei Polizisten wieder herein kamen. Sie hoben ihn vom Stuhl auf und brachten ihn aus dem Verhörsraum.
Der Präsident der Vereinigten Staaten stand vor dem Fenster und sah hinaus. Die Presse wartete schon sehnsüchtig darauf, endlich herein zu dürfen, aber die Sicherheitsbeamten liessen sie noch nicht herein. Noch war es im Haus ruhig, aber das würde sich bald ändern.
Skeet McGowan war vor ein paar Minuten gekommen. Er war ein richtiges Nervenbündel gewesen. Der Presse zu sagen, dass man früher einmal einen Fehler gemacht hatte, war nicht besonders einfach. Sie würde über ihn herfallen und alles zerreissen, was sie konnten. Dann hatte er Reggie schlafen gesehen und war ruhig geworden. Er hatte gemeint, für so etwas lohne es sich, zerrissen zu werden. Kaum zu glauben von Skeet, der eigentlich nur seine Schauspieler - Karriere im Kopf hatte.
Es war nicht trotzdem nicht einfach, weder für Skeet noch für ihn. Vermutlich konnte er seine Wiederwahl vergessen. Aber er hatte sich einmal für seine Karriere als Politiker entschieden, und hatte sein Kind weggeben. Jetzt stand er wieder vor der gleichen Wahl und traf die andere Entscheidung. Man musste im Leben alles ausprobieren, wie sein Vater ihm immer gesagt hatte.
Leise seufzend wandte er sich vom Fenster ab. Er hatte seine Rede, die er halten wollten, sorgfältig vorbereitet. Kein Journalist sollte hinterher irgend etwas aus seinen Worten interpretieren können, was gar nicht stimmte.
Jemand klopfte an die Tür. Sie wurde geöffnet und sein Assistent kam herein. Er zeigte nur auf die Uhr, ohne ein Wort zu sprechen und John nickte. Keiner seiner Angestellten hatte eine Ahnung, warum genau eine Pressekonferenz stattfand. Sie waren alle wahnsinnig gespannt, das konnte man direkt aus ihren Gesichtern ablesen.
„Ich komme gleich. Lassen Sie die Journalisten schon rein“, sagte er und der Mann ging wieder hinaus.
John nahm seine Rede und überflog noch einmal den Anfang. Er kannte sie fast auswendig, aber es war doch besser, wenn er einen Spickzettel dabei hatte. Dann ging er zögernd hinaus. Sobald er die Tür öffnete, konnte er schon das Gerede der Journalisten hören. Sie diskutierten darüber, was der Präsident ihnen sagen wollte. Seine Leibwächter standen vor der Tür und sahen ihn fragend an.
„Gehen wir“, sagte John und ging voraus.
Sobald sie in das Konferenzzimmer kamen, schrien die Männer und Frauen schon ihre ersten Fragen. Die Fotoapparate blitzten und die Kameras wurden auf ihn gerichtet. John bewahrte seine ernste Miene auf und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.
„Bitte, Ladies und Gentlemen, setzten Sie sich“, sagte er ins Mikro. Innerlich fasste er sich und versuchte, ruhig zu werden.
Nur widerstrebend liessen sich die Reporter sinken und wurden still. Sie alle suchten in seiner Miene nach einem Anzeichen danach, was er ihnen gleich sagen wollte. Doch sie fanden nichts, wie immer. Dem Präsidenten sah man nie an, was er dachte oder fühlte.
Als alle still waren, begann John mit seiner Rede.
Die Gefängniszellen der Untersuchungshaft waren klein, aber gut eingerichtet. In einem richtigen Gefängnis würde Donnie keine solche Luxuszelle mehr haben. Er sollte sie jetzt eigentlich noch ein wenig geniessen. Doch es fiel ihm schwer, an etwas anderes als an Reggie zu denken. Er wusste, sie liebte ihn, und auch wenn es ihm schwer fiel, es sich einzugestehen, war ihm klar, dass er sie auch liebte, wie er noch nie eine Frau geliebt hatte. Sie war etwas ganz Besonderes.
Er war sich aber auch bewusst, dass sie dadurch in Schwierigkeiten geriet. Er kannte die Verfassung Amerikas gut und sie konnte wegen Mittäterschaft angeklagt werden. Es war unwahrscheinlich, aber theoretisch möglich. Auf jeden Fall würde sie aber eine Menge unangenehmer Fragen beantworten müssen.
Unruhig wanderte er in seiner Zelle hin und her, sofern ihm das der Platz erlaubte. Er machte sich wirkliche Sorgen um sie. Was machte sie ohne ihn? Hatte sie ihren richtigen Vater endlich kennengelernt? Verstand sie sich mit ihm? Donnie wünschte ihr, dass sie glücklich war. Sie war noch so jung, und hatte noch ihr ganzes Leben vor sich. Irgend wann fand sie einen anderen Mann, den sie lieben konnte.
Vor den Zellen redeten und lachten die Polizisten, die Wache hielten. Er wusste, dass sie alle verheiratet waren. Hatten sie dieses Gefühl, das er jetzt hatte, schon einmal gefühlt? Dieses Gefühl, als ob man innerlich zerrissen würde? Vermutlich nicht. Sie konnten ihn nicht verstehen.
Er zwang sich, sich zu setzen. Morgen würde sein Anwalt kommen, der von seinem Vater geschickt worden war. Er war ein wirklich guter Jurist, der alle Gesetze kannte und wusste, wie man sie biegen konnte, aber auch er konnte ihn nicht vor dem Gefängnis bewahren.
Und das war es, was er wirklich wollte. Es kam ihm nicht darauf an, ob er fünf Jahre bekam oder fünfzig. Er wollte nicht ins Gefängnis. Sein Leben fing - so hatte er das Gefühl - erst gerade jetzt an. Er hatte gelernt, was Liebe und Vertrauen hiess. Vorher hatte er niemandem vertraut, nur seinem Vater, und das auch nicht immer. Jetzt vertraute er Reggie. Und er war sicher, dass er noch vielen anderen vertrauen könnte, denn nicht alle waren so, wie er vor ein paar Tagen noch gewesen war.
Gedanken kamen und gingen wieder, so schnell, dass er sie fast nicht erfassen konnte. Das war so neu für ihn. Noch nie hatte er darüber nachgedacht, einen ehrlichen Beruf auszuüben. Er hatte nie die Chance dafür bekommen, doch dafür gab er nicht seinem Vater die Schuld. Er war ein geborener Verbrecher. Irgendwann wäre er sowieso in den Untergrund geraten, auch wenn sein Vater nun ein ehrlicher Geschäftsmann gewesen wäre.
Aber jetzt war alles anders. Vielleicht wäre sein Leben anders geworden, wenn er Reggie früher getroffen hätte. Doch das hatte er nicht und nun war es zu spät, um sich zu ändern. Er musste ins Gefängnis.
Das Lachen der Wachen wurde leiser und verstummte dann schliesslich ganz. Schritte näherten sich rasch und energisch. Die Tür der Vorraums der Zelle wurde aufgestossen und hastig wieder geschlossen. Dennis Hemingway kam in Donnies Blickfeld. In seiner Hand hatte er eine gelbe Aktenmappe.
„Mr. Marcano, Ihr Anwalt konnte die Erlaubnis für Sie erkämpfen, dass Sie Besuch bekommen können. Es ist jemand für Sie hier, der Sie sprechen möchte“, erklärte er hastig und nickte den Wachen zu.
Donnie stand auf und seine Augen wurden grösser. War etwa Reggie hier? Kam sie, um ihm ‚Lebe wohl‘ zu sagen? Es war eine Frau, die eintrat, aber es war nicht Reggie. Es war Lee.
Sie dankte Hemingway höflich und sah dann Donnie an. In ihren Augen war immer noch ein bisschen der Angst zu sehen, die sie empfunden hatte, als sie von ihm entführt worden war. Doch sie hatte sich unter Kontrolle.
„Ich hoffe, wir haben Ihnen nicht einen allzu grossen Schock bereitet“, begann Donnie, bevor sie etwas sagen konnte. Sie sollte sehen, dass es ihn kümmerte, ob es ihr gut ging oder nicht.
„Ich werde es überwinden, denke ich. Aber es geht nicht um mich. Ich bin nicht gekommen, damit Sie sich entschuldigen können“, erwiderte sie und kam einen Schritt näher an das Gitter heran.
„Wie geht es Reggie?“ fragte er leise und hielt seine Stimme unter Kontrolle.
„Sie ist gleich schlafen gegangen. Ich weiss nicht, ob es ein sehr erholsamer Schlaf wird, aber ich vermute, wenn sie aufwacht, geht es ihr nicht gut.“
Donnie nickte. Er wusste, wie Reggie sich fühlte, weil er genauso empfand. Doch er war älter und konnte seine Gefühle besser beherrschen als Reggie. Für sie war es schlimmer.
„Ich habe nicht gedacht, Sie einmal hinter Gittern zu sehen. Vor ein paar Tagen habe ich mir das gewünscht, aber jetzt nicht mehr“, sagte Lee und stockte. Donnies Blick durchbohrte sie, und er wusste, dass sie nicht die Wahrheit sagte. „Ich sehe jetzt, wie Reggie leidet, weil sie Sie wirklich liebt. Ich habe sie schon mehrmals verliebt gesehen, aber dieses Mal hat es wirklich schlimm erwischt. Ich möchte nicht, dass sie unglücklich ist.“
Ihre Stimme war gegen Ende immer leiser geworden. Sie sah sich leicht um. Die Wachen sahen immer wieder zu ihnen herüber, aber sie lachten wieder. Besonders aufmerksam waren sie nicht. Lee ging zum Gitter und nahm Donnies Hand in die ihre. Sie blickte ihn lächelnd an.
„Ich weiss nicht, ob ich das Richtige tue. Aber Reggie ist meine beste Freundin und für sie würde ich durchs Feuer gehen, wenn es sein müsste“, flüsterte sie so leise, dass er sie fast nicht mehr verstand.
Dann zog sie ihre Hand zurück und verabschiedete sich. Der Agent öffnete ihr die Tür und versperrte sie hinter eigenhändig wieder, aber nicht ohne einen misstrauischen Blick auf Donnie geworfen zu haben.
Donnie zog seine Hand hinter das Gitter zurück und presste sie fest zusammen. Das kühle Metall schmiegte sich hinein.
Kurz vor fünf Uhr morgens schlug Reggie die Augen auf und sah an eine Decke, die sich weit über ihr befand. Sie war weiss und hatte irgendwelche Verzierungen. Verwirrt dreht sie den Kopf und blickte in ein grosses Zimmer, das sie vorher noch nie gesehen hatte. Wo war sie bloss?
Gleich darauf erinnerte sie sich wieder. Donnie war verhaftet worden und sie befand sich im Weissen Haus. Gestern abend war einmal ihr Vater gekommen, ihr richtiger Vater, Skeet McGowan, und hatte sie lange einfach nur angesehen. Er hatte nicht bemerkt, dass sie noch wach gewesen war.
Sie war lange wach gelegen und hatte nachgedacht. Es war ihr klar, dass sie Donnie vergessen musste. Er könnte ihr Vater sein, er war ein Verbrecher und er kam ins Gefängnis. Ihre Liebe hatte einfach keine Zukunft. Und trotzdem tat es weh, so weh, dass sie glaubte, ihr Herz müsse jeden Augenblick zerspringen. Es zerriss sie innerlich. Sie konnte sich nicht wehren, obwohl sie den Schmerz so gerne einfach vergessen möchte.
Zögernd stand sie auf und schlang einen Bademantel um sich, den jemand auf einen Stuhl gelegt hatte. Das Zimmer war so gross, dass sie sich noch mehr verloren vorkam. Es war so gross und so leer, wie das Loch in ihr.
Sie ging zur Tür und öffnete sie vorsichtig. Sie spähte hinaus, ob jemand draussen war. Leise tappte sie durch den Gang zu dem Zimmer, das Lee gehörte. Sie klopfte an, doch als sie keine Antwort bekam, öffnete sie langsam die Tür. Ihr Blick fiel auf das Bett, in dem Lee schlafend lag.
Lächelnd schloss sie die Tür hinter sich. Lee sah immer so friedlich aus, wenn sie schlief, so als ob sie vollkommen sicher sei und niemand ihr etwas tun könnte.
Reggie nahm eine Jeans und ein T-Shirt aus dem Schrank und zog sie an. Lee hatte bestimmt nichts dagegen, wenn sie sich von ihr Kleider borgte, bis sie eigene hatte. Danach band sie ihre buschigen Haare zusammen und ging wieder leise aus dem Zimmer hinaus.
Sie hatte keine Ahnung, wo sie sich in diesem riesigen Haus befand, als ging sie einfach einmal den Gang entlang. Sie traf auf niemanden. Scheinbar waren hier alle Langschläfer. Sie ging die Treppe hinunter.
„Hallo Reggie“, sagte eine Stimme hinter ihr.
Erschrocken drehte sie sich um. Sie stand ihrem Vater gegenüber. „Hallo“, antwortete sie ganz automatisch.
Skeet lächelte leicht. Er musterte sie von oben bis unten, doch sie hatte nicht das unangenehme Gefühl, das sie bei anderen Männern manchmal verspürte.
Er war ein weltbekannter Schauspieler und sie ein einfaches Schulmädchen. Trotzdem war er ihr Vater. Eigentlich sollte sie sich unglaublich freuen. Alle Mädchen aus ihrer Klasse würden ihren Arm dafür hergeben, um Skeet als Vater zu haben.
Als sie es erfahren hatte, war das auch ihre Reaktion gewesen. Doch jetzt war es ganz normal. Sie liebte den Sohn des Unterwelt-Bosses, warum sollte sie da nicht auch einen berühmten Schauspieler als Vater haben?
Sie erwiderte Skeets Lächeln. „Ich freue mich, dich kennenzulernen“, sagte sie, aber eigentlich log sie. Sie freute sich nicht wirklich, vielmehr hätte sie sich gefreut, wenn anstelle von Skeet Donnie gestanden hätte.
„Ich freue mich auch sehr. Ich habe schon fast die Hoffnung aufgegeben, dich überhaupt einmal zu sehen“, erwiderte er ruhig. Sein Lächeln war einfach wunderschön. Kein Wunder, dass da so manche Mädchen schwach wurden. „Möchtest du mit mir frühstücken?“ fragte er.
Reggie nickte sofort, denn sie hatte seit gestern mittag nichts mehr gegessen. Sie folgte Skeet, der sie, als wäre er hier zu Hause, zur Küche führte.
Donnie wartete geduldig. Er durfte kein Risiko eingehen, denn dann hatte er seine einzige Chance verspielt, die er hatte. Er musste es beim ersten Versuch schaffen; oder er schaffte es nicht. Mit dem Schlüssel, den Reggies Freundin Lee ihm gebracht hatte, konnte er seine Zelle aufschliessen und fliehen. Nur die Wachen vor der Tür des Verhörraums störten. Sie würden das Geräusch der sich öffnenden Türe sofort hören, also musste er warten, bis sie weggingen.
Ein paar Mal waren sie schon vom Fenster der Türe weggegangen und Donnie hatte gedacht: ‚Jetzt ist es soweit‘, aber dann waren sie wieder zurückgekommen. Sie hatten nur einen Schritt zur Seite gemacht, so dass er sie nicht mehr hatte sehen können.
Er wartete bis in die Nacht. Er tat so, als würde er schlafen, doch in Wirklichkeit war er hellwach und lauschte. Schritte kamen näher und gingen wieder weg. In der Nacht war bis zu Mitternacht hin noch ziemlich viel Leben. Doch gegen drei Uhr war es so leise geworden, dass er die Wachen draussen fast atmen hören konnte. Irgendwann verschwand eine der beiden. Der andere Polizist sass aus seinem Stuhl, wo Donnie ihn nicht sehen konnte, und las Zeitung. Er führte leise Selbstgespräche, als er den Sportteil las.
Donnie stand langsam auf und sah durch das Fenster. Das einzige, was er dort sehen konnte, war die entgegengesetzte Wand des Ganges. Aber er konnte den Mann noch immer reden hören. Leise nahm er den Schlüssel aus seiner Hose und steckte ihn ins Schloss. Es knackte leise, als es sich öffnen liess. Die Tür dagegen ging lautlos auf. Er schlüpfte hinaus und stellte sich neben die Tür. Wenn die Wache etwas bemerkt hatte und hinein kam, konnte er sie bewusstlos schlagen. Aber sie blieb sitzen und las die Zeitung. Donnie legte die Hand an die Tür. Er hatte beobachtet, wie die Tür aufgemacht und geschlossen wurde, ohne dass jemand sie auf - bzw. abschliessen musste.
Er atmet ein paar tief ein, lauschte noch einmal den Geräuschen und öffnete blitzschnell die Tür. Der Wachmann hatte keine Chance, auch nur einen Schreckensschrei auszustossen. Donnie schlug seinen Kopf gegen die Wand hinter ihm. Sofort packte er ihn unter den Schultern und zog ihn in seine ‚frühere‘ Zelle hinein. Er zog ihm die Kleider ab, die er sich selbst anzog. Sie waren ein bisschen zu klein, aber das fiel nicht besonders auf. Er schloss die Zelle ab, ging hinaus und versuchte, sich ruhig zum Ausgang zu begeben. Vielleicht gab es Kameras, die von einem aufmerksameren Wächter beobachteten wurden. Allerdings, wenn es Kameras gäbe, dann hätte man ihn schon lange entdeckt und die Alarmanlagen würden aufheulen.
Der Wachmann am Eingang schlief seelenruhig. Er schien nicht damit zu rechnen, dass ausgerechnet heute ein Gefangener entfliehen würde. Die Tür der Polizeistation war offen, und Donnie spazierte hinaus, als wäre er wirklich ein Polizist. Sobald er draussen war, rannte er, so schnell er konnte. Im Kopf überlegte er sich, wer hier in Washington lebte, zu dem er gehen konnte.
Kaum hatte er einen Namen gefunden, wechselte er die Richtung und rannte weiter. Er hatte Glück, dass es nicht weit war, sonst hätte er ein Taxi nehmen müssen. Doch in einer Polizeiuniform und ohne Geld war das nicht besonders unauffällig.
Immer wieder sah er sich verstohlen um, doch um diese Zeit war niemand mehr in den kleinen Gässchen, und wenn schon, dann waren es irgendwelche Wesen, die nicht mehr zu einer Reaktion fähig waren.
Er kam bei der Wohnung seines Freundes an und klopfte an die Tür. Niemand öffnete. Er versuchte es noch einmal, diesmal lauter, aber es machte noch immer niemand auf. Vielleicht war sein Freund ja gar nicht zu Hause. Er drückte als letzter Versuch auf die Klingel, aber es gab kein anderes Resultat. Also nahm er die Polizeimarke von seiner Brust und benutzte die Nadel, um das Schloss aufzubrechen.
Er wollte keine unnötige Zeit hier drin verlieren, also suchte er das zusammen, was er brauchte. Zum Glück war der Freund etwas gleich gross wie er, so dass ihm ein Paar Jeans und ein Hemd passten. Dann durchsuchte er die ganze Wohnung nach Geld ab, bis er es endlich fand. Er schrieb eine kurze Notiz, dass sein Freund die ausgeliehene Summe von seinem Vater zurückfordern solle.
Schnell verschwand er wieder aus der Wohnung und hielt auf der Strasse einen verschlafen aussehenden Taxifahrer auf und nannte ihm sein Ziel. Er wollte in die Nähe des Weissen Hauses. Wäre der Fahrer nicht so müde gewesen, hätte er sich gewundert. Wer wollte schon mitten in der Nacht zum Weissen Haus? Doch nur, um etwas zu tun, was nicht legal war.
Sobald er dort war, setzte er sich erst einmal in den Schatten und dachte nach. Was wollte er eigentlich hier? Hatte er geglaubt, er könne mitten in der Nacht zum Weissen Haus fahren und Reggie herausholen? Das hier war schlimmer bewacht als ein Hochsicherheitsgefängnis. Niemand kam unbemerkt herein. Er hatte nur zwei Möglichkeiten: Entweder er gab auf und verlor damit vielleicht die letzte Chance, Reggie jemals wiederzusehen, oder er versuchte, ins Weisse Haus zu kommen, wobei er aber ziemlich sicher erwischt wurde. So oder so, er würde wieder im Gefängnis landen, ohne Reggie gesehen zu haben.
Warum war er überhaupt geflohen? Damit wurden die Geschworenen, die seinen Fall behandelten, bestimmt nicht nachsichtiger. Er hatte sich da ganz schön in etwas hinein geritten. Aber Lee hatte ihm eine Möglichkeit gegeben und er hatte sie wahrgenommen. Warum hätte er es auch nicht tun sollen? Er war ein liebeskranker Narr, der nicht mehr ganz klar denken könnte. In jeder anderen Situation hätte er sich bestimmt die Vor - und Nachteile überlegt, aber jetzt war er stundenlang einfach nur dagesessen und hatte darauf gewartet, dass sich eine Möglichkeit zur Flucht ergab. Seine jahrelange Erfahrung hatte ihn einfach im Stich gelassen.
Vielleicht hatte er noch eine Chance, wenn er jetzt sofort zurückging. Vielleicht hatte noch niemand bemerkt, dass die Wache bewusstlos war. Es war ein schöner Wunschtraum, aber Donnie wusste, dass es nicht sein konnte. Er war seit etwa einer Stunde weg; der Wachmann hatte das Bewusstsein längst wiedererlangt.
Es gab eine dritte Möglichkeit: Er könnte für ein paar Jahre untertauchen, warten, bis der Fall zu den ungelösten Fällen verschwand. Doch auch das änderte nichts an der Tatsache, dass er Reggie nicht mehr wiedersehen würde.
Warum war er nur weggelaufen? Er hätte sie dann zumindest beim Prozess gesehen und sie hätte ihn bestimmt auch besuchen dürfen. Aber wenn er verschwand, sah er sie überhaupt nicht mehr, weil niemand ihn mehr sehen durfte. Wenn er versuchte, ins Weisse Haus einzudringen, wurde er sicher wieder verhaftet und es fand auf diesem Weg auch ein Prozess statt. Er verschwand auf jeden Fall, auf die eine oder andere Art.
Dennis Hemingway wurde vom schrillen Läuten seines Telefons aus dem Schlaf gerissen. Er wollte sich sein Kissen über den Kopf ziehen, erinnerte sich aber daran, dass er Polizist war. Vielleicht war irgend etwas Schlimmes passiert, wobei er gebraucht wurde.
Noch mit geschlossenen Augen tastete er nach dem Hörer neben seinem Bett und meldete sich.
„Entschuldigen Sie die frühe Störung, Agent Hemingway, aber wir haben eine schlechte, eine sehr schlechte Nachricht für Sie“, sagte ein Mann am anderen Ende der Leitung stockend. Er schien zu zögern, weil er angst vor einem Wutausbruch von Dennis hatte.
„Was ist passiert?“ fragte dieser und war sofort hellwach. Schlimm! Da klingelte in seinem Kopf immer etwas.
„Donnie Marcano ist geflohen.“
Dennis reisst unwillkürlich die Augen auf. Ein Adrenalinstoss fährt durch seinen Körper und lässt seinen Puls rasen. Alles dreht sich in seinem Kopf, so dass er fast in Ohnmacht fällt. Plötzlich fasst er sich wieder. „Wie konnte das passieren?“ fragt er den Polizisten scharf.
„Das wissen wir noch nicht. Vermutlich hat er von draussen Hilfe bekommen. Aber wir haben noch keine genauen Informationen. Die Fahndung nach ihm ist schon eingeleitet worden, aber bis jetzt gibt es noch keine Spuren.“
Dennis rieb sich die Schläfe. Der Mann, der es am zweitmeisten verdient hätte, ins Gefängnis zu kommen - nach seinem Vater - hatte fliehen können, nur weil ein paar Polizisten unfähig gewesen waren. Er warf einen kurzen Blick auf die Uhr. Es war zwanzig nach vier am Morgen.
„Ich komme gleich ins Präsidium. Informieren Sie den Präsidenten“, befahl Dennis und legte den Hörer auf.
In einem rekordverdächtigen Spurt wusch er sich, zog sich an und ass sogar noch etwas, bis er mit überhöhter Geschwindigkeit im Hauptquartier ankam. Er stürmte durch die Gänge. Jene Polizisten in der Frühschicht, die noch nichts mitbekommen hatten, starrten ihm verwundert nach. Im Büro wartete eine Delegation von Polizisten, darunter auch der Wachmann, der niedergeschlagen wurde. Er hielt sich ein nasses Tuch mit Eis in den Nacken.
Dennis grüsste niemanden, knallte nur ein paar Akten, die er von zu Hause in aller Eile hatte mitgehen lassen, auf den Tisch und stemmte die Hände in die Hüften.
„Würde mir jetzt bitte einmal jemand erklären, was hier eigentlich los ist?“
Einer der Polizisten erzählte seine Theorie, aber Dennis beruhigte sich dadurch nicht. Im Gegenteil, er wurde nur noch aufgebrachter. Wie konnte man nur einen solch wertvollen Häftling einfach fliehen lassen? Warum war der zweite Wachposten abgehauen? Warum hatte er nicht einen Ersatz gesucht? Wie hatte Marcano die Zellentür aufgekriegt?
Es gab so viele Fragen, die nicht - noch nicht - beantwortet werden konnten. Das machte ihn rasend, aber er wusste, dass er in diesem Zustand nicht klar denken konnte. Also zwang er sich selbst, sich zu beruhigen und nachzudenken. Warum war Marcano geflohen? Wenn er abhaute, bekam er eine höhere Strafe als ohnehin schon. Konnte er aber den Suchtrupps entkommen, war er frei, dafür müsste er sich immer verstecken. Es machte keinen Sinn. Was trieb diesen Mann dazu, trotzdem zu fliehen? Was konnte es sein?
Plötzlich wusste er es. Es war dieses Mädchen, diese Regina Cormack - McGowan - wie auch immer sie sich jetzt nennen mochte. Er war so vollkommen in sie vernarrt, dass er unbedingt zu ihr kommen wollte.
Ein Grinsen glitt über seine Lippen. Wie stellte dieser Typ sich das eigentlich vor? Sie war noch immer im Weissen Haus. Wollte er einfach anklopfen und fragen, ob Reggie zu Hause sei? Zuzutrauen wäre es ihm.
Sofort befahl er jemanden, das Weisse Haus zu informieren und eine Einheit dorthin zu schicken. Ein Polizist stürmte sofort aus dem Zimmer, sichtbar erleichtert, aus Dennis‘ Blickfeld zu kommen.
„Okay, Leute, wir haben ein Problem, ein grosses Problem, das wir lösen müssen, und zwar jetzt auf der Stelle. Wir werden nicht wieder schlafen gehen, bis wir Marcano gefunden haben, ist das klar?“ fragte Dennis, obwohl es eigentlich mehr ein Befehl war.
Alle nickten sofort und machten sich aus dem Staub, um die noch notwendigen Dinge in die Wege zu leiten. Dennis stürmte erneut durch das ganze Präsidium und folgte mit seinem Wagen den Polizeiautos, die mit Blaulicht und Sirene mehr aus der Garage geschlittert als gefahren kamen.
Um fünf Uhr morgens waren zum Glück nur wenige Autos unterwegs, so dass niemand sie aufhielt. Hinter einander fuhren sie dem Weissen Haus entgegen, während Dennis durch den Polizeifunk die Befehle durchgab, wo die einzelnen Wagen hinfahren sollten. Es war ein schlecht organisierter Plan, doch da Marcano sich auch nicht richtig vorbereiten konnte, glich es sich wieder aus. Ausserdem waren sie ihm zahlenmässig vollkommen überlegen. Dennis hatte alle verfügbaren Männer aufgerufen, um an dieser Aktion mitzuhelfen. Wenn die übrigen des FBI aufgestanden waren, würden sie auch noch dazukommen. Bestimmt bekam er auch noch Unterstützung von der Polizei von Washington
Es würde eine kurze Verfolgungsjagd geben - falls Marcano wirklich so dumm war und zum Weissen Haus gegangen war. Es war eigentlich nicht logisch, das anzunehmen, aber ein Gefühl in Dennis sagte ihm, dass es trotzdem so war. Donnie hatte keine Chance zu entkommen.
Dennis befahl allen Wagen, die Sirenen abzustellen. Wenn Marcano sie hörte, konnte er eventuell ein gutes Versteck suchen, das sie nicht finden würden. Er sollte aber keine Möglichkeit zur Flucht haben.
Das Adrenalin schoss durch seine Adern und vertrieb den letzten Rest Müdigkeit in ihm. Sein Boss war bestimmt froh, wenn er ihn zurückbrachte. Das machte einen guten Eindruck.
Schon sah er durch die Beleuchtung das Weisse Haus. Zweifel regten sich ihm. Was war, wenn Marcano gar nicht hier war? Was war dann? Das brachte ihm bestimmt nicht das Wohlwollen seines Chefs ein. Aber jetzt konnte er nicht mehr zurück. Er musste die Sache durchziehen.
Die Strasse, die sich vor Donnie erstreckte, begann auf einmal blau zu blinken. Durch jahrelange Erfahrung war ihm sofort klar, dass es sich dabei nur um Polizeiautos handeln konnte. Er sprang in den Schatten und hoffte, dass man ihn noch nicht entdeckt hatte.
Er musste schleunigst hier weg. Die waren bestimmt nicht hier, weil irgendwo ein Überfall passiert war. Er duckte sich an die Mauer, die um das ganze Weisse Haus herumging, und rannte daran entlang. Die Büsche deckten ihn bis zu einem gewissen Grad.
Sein Puls raste, als er aus seiner Deckung kommen wollte, um vom Weissen Haus wegzukommen. Wenn er hier blieb, hatte er keine Chance, zu entkommen. Doch auch hier waren die Blaulichter. Reifen quietschten überall und Polizisten sprangen aus den Autos.
Schnell duckte er sich wieder hinter die Büsche zurück. Zum ersten Mal seit am Nachmittag hatte er wieder einen klaren Kopf. Er hatte nur zwei Möglichkeit, nein, eigentlich waren es drei.
Die erste war, dass er sich stellte. Das war wohl die vernünftigste. Als zweite könnte er versuchen zu entkommen, was aber ziemlich schwachsinnig war. Das FBI hatte bestimmt alle Männer zusammengerufen, die verfügbar waren. Da gab es keinen Ausweg. Die dritte Möglichkeit war seinen Fähigkeiten entsprechend, aber ziemlich schwierig auszuführen. Er könnte eine oder mehrere Geiseln nehmen. Bestimmt würden sie die Büsche durchsuchen, und wenn er so nahe an den Polizisten heran kam, dass er ihn festhalten konnte, könnte es klappen.
In jedem seiner Möglichkeiten gab es höchstens einen positiven Punkt. Alles andere war unangenehm und für ihn äusserst verheerend. Am besten wäre es, würde er sich ergeben. Aber er war nicht der Typ, der einfach aufgab. Er war es als Kind nie gewesen und jetzt bestimmt auch nicht. Er entschied sich für die Flucht über die Mauer des Weissen Hauses. Bestimmt waren dort schon alle Wachen informiert worden, aber es war trotzdem einen Versuch wert.
Die Frauen und Männer der Polizei schwärmten aus. Durch Mikrophone ertönten verzerrte Stimmen, die Befehle gaben und entgegennahmen.
Donnie versuchte bei seinem Rückzug an die Mauer keinen Laut zu machen. Im schwachen Morgenlicht erkannte er ziemlich schnell, dass er nicht über die Mauer klettern konnte. Oben waren Stacheldraht und Elektrozäune angebracht. Er musste einen anderen Weg nehmen.
Er rannte der Mauer entlang. An einigen Stellen war kein Busch vorhanden, der ihn deckte, so dass er sich entblössen musste. Irgendwie schien ihm das Glück aber beizustehen und sorgte dafür, dass er nicht entdeckt wurde.
Etwa zwanzig Meter von ihm entfernt war der einzige Eingang in der Mauer. Die Nachtwächter waren aus ihrem kleinen Wachhaus herausgetreten und hatten ihre Waffen schussbereit in der Hand. Ein Polizist stand bei ihnen und informierte sie vermutlich über das, was hier ablief.
Donnie sah sich schnell um. Das Wachhaus war direkt an der Mauer ‚angemacht‘. Der Teil, der offen war, war durch eine Barriere abgesperrt, unter der man jedoch hindurch kriechen konnte. Wenn einen dabei niemand erschoss.
Er kroch so nahe an den Durchgang heran, wie es ihm seine Deckung erlaubte. Er hatte keine andere Wahl als es zu versuchen. Solange die Zöllner noch mit dem Polizisten beschäftigt waren, bemerkten sie ihn vielleicht nicht. Einmal tief einatmend robbte er vorwärts so schnell er konnte.
Eigentlich hatte er nie gedacht, dass er nicht bemerkt werden würde, aber ein kleiner Hoffnungsschimmer war trotzdem da gewesen. Er war ein wenig enttäuscht, aber nicht überrascht, als plötzlich ein lauter Schrei ertönte.
„Er ist hier!“ schrie der Polizist, nahm gleichzeitig seine Waffe aus dem Halfter und schoss auf ihn. Donnie nahm seine eigene Pistole und schoss zurück, worauf sich die drei Männer in Deckung begeben mussten, was ihm die Zeit verschaffte, sich selbst wieder zu verstecken.
Doch jetzt waren alle gewarnt. Er hörte die Schreie, die alle sagten, dass er hinter der Mauer sei. Er spürte die vielen Schritte, die den Boden zum Vibrieren brachten. Er sah die Taschenlampen, die jetzt nicht mehr viel brachten, und trotzdem noch eingesetzt wurden. Wie ein gehetztes Tier schoss er aus seiner Deckung heraus, um in der nächsten zu verschwinden. Schüsse aus unendlich vielen Pistolen wurden abgefeuert, während er keine Deckung hatte. Die Luft schien nur so von Kugeln zu schwirren, als er endlich wieder Schutz hatte.
Reggie lauschte angestrengt. Diese Geräusche, die von draussen kamen, waren sehr sonderbar. Ihr Vater Skeet schien sie nicht zu hören, denn er redete weiter und erzählte aus seinem Leben. Aber was waren das bloss für Geräusche? Sie musste nachsehen.
„Hörst du das?“ fragte sie.
„Was?“ entgegnete Skeet, während er lauschte. Er runzelte die Stirn. „Du meinst, dieses ... dieses Knallen?“
Reggie nickte und stand auf. Ein ungutes Gefühl regte sich in ihr. Dieses Knallen konnten Raketen sein, wie man sie am Neujahr abfeuerte, aber sie konnten auch Schüsse darstellen. Aber Schüsse auf dem Gelände des Weissen Hauses? Am frühen Morgen?
Reggie stand auf und ging zum Ausgang. Dort stand aber eine Wache, die sie aufhielt. „Tut mir leid, Miss, Sie dürfen im Moment nicht hinaus.“
Skeet wollte sie sanft wieder zurückziehen, aber sie wehrte sich. Irgendwie wusste sie, dass Donnie da draussen war. Sie spürte es, als wäre sie selbst draussen und liefe vor den Schüssen davon.
„Was ist denn los?“ fragte sie die Wache.
„Es gibt eine Schiesserei. Ein Häftling ist scheinbar entflohen und wollte sich hier verstecken. Ein ziemlich dummer Häftling, wenn Sie mich fragen“, antwortete er.
Reggie lächelte leicht. Nein, Donnie war nicht dumm, ganz und gar nicht. Aber er liebte nun einmal eine Frau, die sich im Weissen Haus aufhielt. Was sollte er da tun? Sie wusste, dass er vielleicht gerade jetzt erschossen wurde, aber trotzdem hielt sie das für einen wahnsinnigen Liebesbeweis. Er war aus dem Gefängnis ausgebrochen, um zu ihr zu kommen. Er riskierte sein Leben dafür.
„Bitte, darf ich nicht einen Blick hinaus werfen?“ fragte sie flehend. Die Wache zögerte, nickte aber dann. Er öffnete die Tür und zeigte auf den beleuchteten Platz. „Irgendwo dort draussen ist er. Die Polizei muss ihn nur noch finden.“
Reggies Augen schwirrten über all die Polizisten in den Uniformen, doch Donnie konnte sie nirgends entdecken. Das war auch gut so. Wenn sie ihn sehen könnte, würde es die Polizei auch können.
Da kam plötzlich wieder Bewegung hinein. Irgend jemand schrie: „Er ist hier! Er ist hier!“ Alle rannten sofort dorthin. Eine einzige Person rannte von einem Gebüsch zum nächsten. Wieder hörte man dieses Knallen. Es waren so viele, dass Reggie erstaunt war, dass die Polizisten sich nicht selbst abschossen. Als sie Donnie erkannte, schlug ihr Herz heftiger. Sie spürte den Wunsch in sich, hinauszulaufen und sich vor ihn zu stellen, um ihn zu schützen. Auf sie würde niemand schiessen. Sie war die beste Freundin der Tochter des Präsidenten.
Aber der Wachposten stand in der Tür und würde sie nicht gehen lassen.
Die Gestalt, die flüchtete, schrie auf einmal auf und stolperte. Reggie hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund, um nicht ebenfalls zu schreien. Die Polizisten schrien aufgeregt umher und rannten auf Donnie zu. Langsam rappelte sich dieser wieder auf. Er presste die Hand an die Seite seines Bauches und hinkte.
Reggies Vater legte ihr den Arm um die Schultern. Er wusste von ihr und Donnie, und scheinbar wusste er, was sie jetzt empfand. Er wollte sie trösten, hatte aber keine Ahnung, wie er das tun sollte. Er kannte sie doch erst seit ein paar Minuten.
Es war ein glatter Durchschuss gewesen. Seine Seite schmerzte höllisch. Verdammt! Mit zusammengebissenen Zähnen riss er sich ein Stück Stoff vom Ärmel ab und presste es hinten und vorne auf die blutenden Wunde.
Er musste sofort von hier weg. Aber wie? Es wimmelte nur so von Polizisten.
Sein Blick fiel auf das Weisse Haus. In einigen Zimmern brannte Licht und dunkle Gestalten standen an den Fenstern. Ja, für sie musste es wahnsinnig interessant sein, das Geschehen hier unten zu beobachten. Er konnte sich ihre Gedanken vorstellen. Ein Verrückter wollte den Präsidenten umbringen.
Dann bemerkte er, dass die Haupteingangstüre offen war. Ein Mann mit breiten Schultern stand davor, aber hinter ihm drängelten sich weitere Gestalten. Ein mächtiger Lockenkopf versperrte aber den meisten von ihnen das Sichtfeld. Reggie! Sein Herz machte einen mächtigen Sprung und verdrängte für einen kurzen Moment den Schmerz.
Seine Hand fasste die Waffe wieder fester, während seine Augen allein auf Reggie gerichtet waren. Er legte ein neues Magazin ein und visierte einen Polizeibeamten an. Er zitterte leicht, traf den Mann aber trotzdem. Sofort war wieder helle Aufregung unter den Beamten und er rannte weiter, auf die Tür zu. Er schoss auf die Polizisten, die ihm am nächsten waren, und zwang sie damit, das Schiessen einzustellen, um sich in Deckung zu bringen.
Trotzdem zischten noch immer Kugeln an ihm vorbei. Er hatte keine Zeit um sich umzuschauen, aber wenn er die gehabt hätte, hätte er gesehen, dass das ganze Gelände mit Polizisten voll war. Dazu kamen die Bodyguards des Präsidenten, die ebenfalls mit ihrem Waffen herumschossen.
Reggie sah, wie Donnie auf sie zu rannte. Blut färbte sein weisses T-Shirt dunkelrot. Es sah schrecklich aus. Sein Gesicht war schmerzverzehrt und trotzdem rannte er weiter. Es wäre für ihn besser gewesen, sich zu ergeben. Dann würde er in ein Spital kommen und dort würde man ihn behandeln. Die Kugeln schossen an ihm vorbei, aber wie durch ein Wunder wurde er nicht mehr getroffen.
Der Bodyguard wollte die Tür schliessen, aber Reggie stellte sich dazwischen. Sie war sich nicht bewusst, was sie tat, wusste nur, dass sie nicht einfach weggehen konnte. Sie wusste, dass Donnie wieder ins Gefängnis kam, aber trotzdem wollte sie bleiben.
„Miss, wir sollten wirklich die Tür zumachen. Es ist gefährlich für Sie hier draussen“, versuchte der Mann mit ihr zu reden, aber sie achtete gar nicht auf ihn. Ihre Aufmerksamkeit galt alleine Donnie. Er rollte sich immer wieder zur Seite, sprang wieder auf, rannte weiter, rollte sich erneut ab und stand auf. Jedesmal wurde das T-Shirt roter und roter und jedesmal wurde sein Gesichtsausdruck gequälter. Er hatte grausame Schmerzen und trotzdem machte er so waghalsige Stunts, die andere nicht einmal machten, wenn sie gesund waren.
Plötzlich hatte Reggie eine Waffe in der Hand. Ohne es zu merken, entsicherte sie sie, zielte über den Lauf auf einen Polizisten und schoss. Der Mann schrie auf. Hinter ihr ertönten gleichzeitig mehrere Stimmen und einige packten sie am Arm und wollten sie festhalten. Aber sie riss sich los, rannte hinaus, die Stufen auf die Wiese hinunter. Dort schoss sie weiter, achtete nicht mehr darauf, zu zielen, sondern einfach zu schiessen, um Donnie Deckung zu geben. Sie wusste, dass niemand auf sie schiessen würde. Das würde niemand wagen.
Donnie starrte sie erschrocken an, während er sich hinter einen Busch fallen liess. Reggie erschoss zwei weitere Polizisten, bis der Bodyguard ihr die Waffe, die sie aus seinem Halfter geschnappt hatte, wieder entreissen konnte. Er wollte sie ins Haus zurücktragen, aber sie schlug mit Armen und Beinen um sich. Sie mass die Strecke zwischen sich und Donnie ab. Es waren noch etwa fünfzig Meter. Sie biss dem Mann in den Arm und rannte los.
Donnie beobachtete, wie Reggie sich losriss und auf ihn zu rannte. Die Polizisten wussten nicht genau, was sie machen sollten. Sie hatten nicht damit gerechnet, dass jemand aus dem Weissen Haus Donnie zu helfen versuchen würde. Aber sie waren unschlüssig. Es waren lauter junge Polizisten im Einsatz, die zuvor noch nie auf der Strasse gewesen waren. Was war, wenn einer von ihnen die Nerven verlor? Wenn einer von ihnen auf Reggie schoss? Und vielleicht sogar traf?
Er konnte nicht zulassen, dass so etwas passierte. Er schrie laut, dass sie wieder zurück gehen sollte, aber sie hörte ihn nicht. Noch immer schossen die Polizisten und schrien einander Befehle zu, so dass sie seine Stimme nicht heraus hören konnte. Was konnte er bloss tun?
Die Gesichter der Polizisten waren mit Schweiss bedeckt? Einige der Hände zitterten, vor allem die der jungen. Ihre Finger lagen zu nahe am Abzug. Donnie sah diese zitternden Finger und Reggie, die völlig ohne Deckung auf ihn zu rannte. Reflexartig stiess er sich vom Boden ab, unterdrückte den Schmerz in seiner Seite und rannte ebenfalls los. Kugeln flogen durch die Luft. Donnie spürte den heissen Luftzug.
Bevor Reggie ihn erreicht hatte, richtete er sich auf und rannte nun ebenfalls auf sie zu. Sie schrie ihm zu, dass er wieder in Deckung gehen sollte, aber er hörte sie nicht. Verirrte Kugeln flogen an ihr vorbei. Wagte es tatsächlich jemand, auf sie zu schiessen?
Dann geschah alles in Zeitlupentempo. Donnie stolperte vor ihr, die Augen vor Erschrecken weit aufgerissen. Auf seiner Brust war ein roter, kleiner Kreis sichtbar. Er wollte sich mit den Händen auffangen, aber die Arme knackten unter ihm ein. Er wollte sich aufrappeln, aber alle Glieder in seinem Körper schienen auf einmal keine Kraft mehr zu haben. Er fiel mit dem Gesicht auf die Wiese.
Reggie schrie laut auf. Vor Erschrecken blieb sie stehen und schrie. Jemand packte sie erneut von hinten, hob sie auf, als wäre sie ein Kind und trug sie weg. Sie wollte sich wehren, wollte zu Donnie, aber der Griff war fest und energisch. Sie konnte sich nicht befreien. Polizisten rannten auf Donnie zu, noch immer mit gezückten Waffen. Jemand drehte ihn auf den Rücken, die Pistole genau auf das Gesicht gerichtet, doch Donnie bewegte sich nicht.
Reggie schrie weiter, während sie von Donnie weggebracht wurde. Sie hämmerte auf die Arme ein, die sie umschlungen hielten, biss und krallte hinein, aber es half nichts. Vor ihren Augen verschwamm alles. Das Gesicht wurde nass vor Tränen. Sie wollte zu Donnie, aber auf einmal hatte sie keine Kraft mehr. Sie erschlaffte. Ihre Beine knickten unter ihr ein, als sie endlich wieder losgelassen wurde. Sie fiel auf den Boden, den Blick aber noch immer auf Donnies Körper gerichtet. Sanitäter waren zu ihm herangetreten. Einer von ihnen mass Donnies Puls.
Als er den Blick hob, wusste Reggie sofort, was er sagte, auch wenn sie ihn nicht hören konnte. Ein neuer Schrei kam aus ihrer Kehle, aber er wurde erstickt von den Tränen. Sie schluchzte und wollte gleichzeitig schreien, und bekam dabei fast keine Luft mehr. Sie rappelte sich auf und wollte zu Donnie gehen, aber sie wurde zurückgehalten. Sie hatte keine Kraft sich zu wehren.
Die Sanitäter legten Donnie in einem Leichensack auf eine Barre und trugen ihn zum Krankenwagen.
Reggie sackte erneut zusammen. Ihr Weinen war fast das Einzige, das man in der Stille, die auf einmal eingetreten war, noch hören konnte. Jemand legte ihr eine Decke um die Schultern und sprach ein paar Worte zu ihr, die sie aber nicht verstehen konnte, und ging wieder. Alle Geräusche um sie herum wurden von ihrem Schluchzen erstickt. Sie verschwammen zu einem einzigen, ununterbrochenen Summen, das sie fast nicht mehr wahrnehmen konnte. Sie konnte nur noch sich selbst hören.
Ein sanfter Arm half ihr aufzustehen. Willenlos liess sie sich führen. Sie wusste nicht, wohin sie gebracht wurde; es war ihr auch egal. Ihr wurde sanft durchs Haar gestrichen, während jemand auf sie einflüsterte.
„Miss Cormack, es tut mir leid, dass es so weit kommen musste. Ich habe ihn nicht erschiessen wollen, aber es blieb uns leider keine andere Wahl.“
Die Stimme drang in ihr Bewusstsein. Verständnislos blickte sie den Mann an, den sie von irgendwoher kannte. Sie verstand ihn, die einzelnen Wörter, die er sagte, aber der Zusammenhang kapierte sie nicht.
Sein Gesicht war nass wie das ihre, aber im Gegensatz zu ihr hatte er keine roten Augen. „Ich möchte Ihnen nur noch sagen, dass Marcano, bevor er starb, noch etwas gesagt hat. ‚Ich liebe Reggie‘, hat er gemurmelt. Ich dachte, vielleicht wollten Sie das wissen.“
Noch immer blickte sie ihn mit grossen, nassen Augen an, bis er sich umdrehte und wegging. ‚Ich liebe Reggie‘ ging es ihr durch den Kopf und ein erneuter Tränenanfall schüttelte sie durch. Er hatte seine letzte Kraft gebraucht um ‚Ich liebe Reggie‘ zu sagen.
„Komm, Reggie, lass uns hineingehen. Du solltest nicht hier draussen bleiben“, sagte eine neue Stimme.
Sie spürte einen sanften Druck in ihrem Rücken, gab ihm aber nicht nach. Sie drehte sich um und sah über die grosse Wiese zum Eingang, wo die Krankenwagen gerade losfuhren. In einem von ihnen lag ein toter Mann, der nur tot war, weil er jemanden geliebt hatte.
‚Ich liebe Reggie‘ tönte noch immer in ihrem Kopf, als sie sich wieder umdrehte und ihrem Führer folgte.

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Silke Schück).
Der Beitrag wurde von Silke Schück auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.07.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

  Silke Schück als Lieblingsautorin markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Jüngst: Nichtige Gedichte von Bernd-Peter Liegener



Es sind die kleinen Nichtigkeiten des täglichen Lebens, die hier zum Anlass genommen werden, Gedanken zu entwickeln, oder einfach nur zu schmunzeln. - Schmunzeln und denken Sie mit!

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (1)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Sonstige" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Silke Schück

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Mozart von Silke Schück (Sonstige)
Omas Pflaumenkuchen von Heideli . (Sonstige)
.....sich neu entdecken... von Ina Klutzkewitz (Liebesgeschichten)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen