Inge Hoppe-Grabinger

Spaziergang am Rosenmontag (Berlin)

Ich könnte mir den Faschingsumzug in Köln ansehn, ziehe es aber vor, endlich
die Wohnung zu verlassen, um noch etwas in den Genuss des blauen Himmels
zu kommen. Als Ziel habe ich mir in der Bergmannstraße die Markthalle vor-
genommen, ein wuseliger Ort, aber von Karneval ist weit und breit nichts zu
spüren. Wenn jemand neben mir gelaufen wäre, hätte er vermutlich ganz andere
Dinge bemerkt. Das weiß ich sehr wohl, aber hätte er sie aufgezeichnet?
Wären sie ihm so wichtig gewesen, dass sich ihm  die  schriftliche Fixierung
aufgedrängt hätte?


Auf dem U-Bahnsteig kommt mir eine Frau entgegen mit einer Tüte der großen
Buchhandlung Dussmann.Was mag wohl in der Tüte sein?
Sie hat eine kleine rosa Taschenlampe in der Hand
und leuchtet damit direkt neben mir in den Abfallbehälter. Es ist nichts drin,
was sie interessiert. Ich kann sie mit dem Augen weiterbegleiten, denn die
Dussmanntüte  sticht hervor. Auch der nächste Abfallbehälter ist offensichtlich
uninteressant.  Im Zug bekomme ich keinen Sitzplatz, im Stehen kann ich
einer jungen Frau mit blonden Haaren  über die Schulter sehen und dabei mitverfolgen, welche Fotos
sie sich ansieht. Zugegeben, das macht man nicht, aber ich konnte nicht wider-
stehen. In  ganz kurzer Zeit  werden Unmengen von Fotos angeschaut, einige sind immerhin
so interessant, dass sie den Augen Bruchteile von  Sekunden länger dargeboten werden.
Nur wenige  der Bilder werden ins Archiv gesteckt. Aber welche?   Immer wieder ist eine
wunderschöne  Türkin mit rosafarbenen Kopftüchern zu sehen, oft zusammen mit zwei oder
drei Kindern.  Archiviert wird dann ein etwa 4-jähriges Mädchen, ganz in rosa, schon ausgestattet
 mit rosafarbenem Kopftuch,  dann ein etwas 3O-jähriger Mann, der breitbeinig auf
einem Sofa sitzt im grauen Unterhemd, vielleicht der Kindesvater,mürrisch dreinblickend,  und dann auch noch 
ein Foto der hübschen Türkin, aber  eines, auf dem sie ganz traurig aussieht. Diese Auswahl
beeindruckt mich.
Am Ausgang der U-Bahn dichtes Gedränge. Eine junge Mutter mit Kinderwagen bedarf der Hilfe zum
Hochschleppen des Kinderwagens, eine Frau hilft ihr, das zweite Kind trottet hinterher und fängt plötzlich,
sich offenbar allein fühlend, von so vielen hastenden Menschen umgeben, an zu weinen. Ich
nehme sie sanft an die Hand, sage ununterbrochen, sieh, da oben ist deine Mama.
Plötzlich kommt mir in den Sinn, wie es sich wohl anfühlt, wenn man ein  Kind entführen wollte.
Aber Sekunden später kann ich der Mama das weinende Kind überreichen.
Vor der Markthallte kann ich an der Buchhandlung nicht vorbeigehen. Das Buch über das Genie
der Vögel ist sicher viel zu teuer. Ich bin versucht, so wie es mal Robert Walser mal getan hat,
in den Laden zu gehen, nach dem meistverkauften Buch zu fragen, es mir vorlegen zu lassen,
und  danach wieder zu gehen!  Aber ich bin zu feige.
In der Markthalle gönne ich mir einen wundervollen Pinot Grigio und schaue auf  die Straße,
die voller Menschen  ist und voller Fahrräder.  Ich bin damit so beschäftigt, dass ich nicht bemerke,
dass unter dem Tisch zu meinen Füßen sich offenbar längere Zeit schon ein dreijähriges
Kind aufgehalten hat. Der Vater hat es, nach einigem Suchen, dort entdeckt. Ich bin ganz
traurig, dass  mir da etwas entgangen ist.
In der Markthalle kaufe ich eine Blutwurst, das habe ich schon seit ewigen Zeiten nicht mehr getan.
Ich nehme an, dass sie  ganz billig ist und bin völlig erstaunt, dass sie - sage und schreibe -
Euro 7,5O kostet.  Ich wage es natürlich nicht, die Ware zurückzugeben. Wegen meiner Verwirrung
rutscht mir ein 2-Euro-Stück aus dem Portemonnaie, was  aber von einem  Mann auf dem Barhocker
bemerkt wird. Er macht  mich auf den Verlust aufmerksam. Später ist mir, als sei das ein Obdachloser
gewesen und mir tut es leid, dass ich ihm die 2 Euro  als Finderlohn nicht  geschenkt habe.
Vor einem Schmuckladen entdecke ich in einem herumstehenden gläsernen Behälter ein
preiswertes gläsernes Armband und steige die Treppe in den Keller hinab, um es zu kaufen.
Ich hätte die ganze Auslage mitnehmen können, so unbeobachtet fühlte ich mich trotz der
Menschenmassen. Der Kauf war völlig überflüssig,  hat  aber  Spaß gemacht, weil der alte
Besitzer des Ladens mich testete, ob ich schwindelte, als er mich bat, den auf einem Schild
aufgemalten Preis zu nennen. Nein, der Preis war von mir  voll umfänglich korrekt angegeben
worden: 4, 95 Euro.
Noch einmal gehe ich am Buchladen vorbei. Da fällt mein Blick auf einen Band mit Fotos
von sowjetischen Bushaltestellen.  Zu gern hätte ich diesen Band erworben, aber der Preis,
27 Euro,  erscheint  mir denn doch zu hoch. Ich werde es  bereuen, das weiß ich jetzt schon.
Wie schade, dass ich nicht kurz vor dem Einschlafen noch die eine oder andere Bushaltestelle,
irgendwo in Sibirien, betrachten kann.
Draußen ist es dunkel geworden. Kurz vor unserem Hauseingang an der Ecke, wo in einem Türken-
laden Döner verkauft werden, sitzt, wie jeden Tag,  die gebrechliche alte Dame mit den knallroten
Lippen, vor sich ein großes Glas Bier, das, wie immer, fast noch voll ist, und das nach, grob geschätzt,
drei Stunden. Sie wird bald mit ihrem Stock sehr langsam nach Hause gehen, nicht weit,
nur ein paar Schritt, und dann ist der Tag vorbei.

Oscar Wilde sagte einmal, "Man gebe mir das Überflüssige, auf das Notwendige kann ich verzichten!"
Warum habe  ich mir die absolut überflüssigen  Ansichten der  sowjetischen Bushaltestellen nicht gegönnt?

An unserer Wohnungstür hängt immer noch ein Adventskranz, und das am Rosenmontag!


Rosenmontag, l2. Februar 2o18


 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.02.2018. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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