Thomas Adolf

Kindheitstraum

Es war gegen 20:00 Uhr, als Mario auf seinem westseitigen kleinen Balkon saß, sein Bier in der linken, eine Zigarette in der rechten Hand hielt, zitterte und die Welt nicht mehr verstand. "Zittern" war eigentlich kein Ausdruck; nein er bebte förmlich.
Er starrte teilnahmslos der Abenddämmerung nach, gab sich einen heftigen Lungenzug, den er ebenfalls nicht wirklich wahrnahm und wußte überhaupt nicht ob er nun lachen, weinen, schreien, kichern oder sonstwas tun sollte. Seine Gedanken drehten sich nur um den vergangenen Nachmittag, und darum warum das Schicksal ihn auserwählt hatte, und ob er nun in den Himmel oder in die Hölle kommen würde.
Eigentlich war seine Welt bis heute nachmittag noch fast komplett in Ordnung gewesen. Er war jeden Tag gegen 5:30 aufgestanden, erledigte seine komplette Morgentoilette, trank einen schwarzen Espresso, setzte sich ins Auto und fuhr in die Firma.
Mario war Möbeltischler in einem großen Betrieb. Sein Alltag bestand darin, daß er vorgefertigte Pläne von unterschiedlich dicken Spanholzplatten bekam, diese dann zuschnitt, und weitergab. Nachdem er ein so ein Paket aus mehreren Platten abgefertigt hatte, war eine kurze Rauchpause möglich, und schon bekam er das nächste Paket.
Um welche Möbelstücke es dabei eigentlich ging, hinterfragte Mario gar nicht mehr; es war ihm einfach egal.
Sein Leben fand außerhalb des Arbeitsplatzes statt.
Jedenfalls war er nicht untalentiert, und seine Karriere könnte durchaus noch steigen.
Mit seinen Kollegen kam er durchaus gut zurecht. Er hatte keine offenen Feinde und wenn ihm danach war ging er mit einigen befreundeten Kollegen nach der Arbeit auf ein Bier.
Frauen waren für ihn kein Thema. Eine eventuelle Homosexualität wurde zwar oft in Erwägung gezogen, aber auch das war für Mario kein Thema. Warum das so war wußte niemand.
Mittlerweile hörte Mario, wie jeden Tag um diese Zeit, Geschirrgeklimper auf seinem Balkon. Seine Nachbarn begannen nun ihr Abendessen zu kochen. Er hatte sich mittlerweile wieder etwas unter Kontrolle, das Zittern war schwächer geworden. Weil er nicht wollte, daß ihn eventuell seine Nachbarn so kreidebleich im Gesicht sehen würden, ging er in die Wohnung und schloß die Balkontüre hinter sich. Er holte sich ein frisches Bier aus dem Kühlschrank und setzte sich vor seinen Fernseher. Der Fernseher war noch eingeschaltet, und Mario wollte noch einmal auf Nummer sicher gehen, und noch einmal auf der Teletextseite der Wahrheit ins Gesicht sehen. Er suchte die Fernbedienung und drückte auf die "TEXT"- Taste.
Heute nachmittag gegen 15:00 Uhr nahm das Schicksal seinen Lauf. Einer seiner Kollegen, Josef, überredete ihn dazu auf ein Bier mitzugehen. Mario wusch sich noch schnell Gesicht und Hände, zog sich um und ging mit.
Er wollte heute eigentlich überhaupt nicht, er war einfach darauf eingestimmt, daß er heute nachmittag seinen Computer neu aufsetzen würde, und anschließend wollte er noch ein paar Daten vom Internet herunterladen. Zwischendurch würde er sich die Abendnachrichten mit den Lottozahlen und den Sportberichten ansehen, und dann nach einer gepflegten Dusche und einem kleinen Abendhäppchen würde er sich auf den Weg in die Videothek machen und sich irgendeinen Film ausborgen.
Doch aus alle dem wurde nichts, denn Mario ging mit Josef und einigen anderen auf ein Bier ins "Holzstüberl", einer kleinen Bar gleich neben dem Einfahrtsportal von Marios Firma. Es ging dort eigentlich immer um dieselben Themen, entweder ging es um Frauen, um Sport(im speziellen um Fußball), um diverse selbstbeweihräuchernde Geschichten, um die bösen Kollegen, um die böse Firma, um die unfähige Regierung, generell um die "da oben", oder schlicht und einfach über Gott und die Welt. Mario hatte die Erfahrung gemacht, daß es am zielführendsten ist, wenn man mit allen Leuten hie und da unter 4 Augen Erfahrungen austauscht, und das alles dann für sich behält.
Josef war ihm der liebste Gesprächspartner, und scheinbar beruhte diese Beziehung auf Gegenseitigkeit, denn meistens standen die beiden, relativ abseits an der Bar und quatschten. Josef war 2 Jahre älter als Mario, war verheiratet und hatte 2 Kinder, darum trank er meistens nur 1, oder vielleciht 2 Bier, verabschiedete sich und ging nach Hause. So war es auch heute, doch Mario blieb, auch so wie meistens, noch ein bißchen dort, trank noch einige Bier und beteiligte sich an den Gesprächen. Heute waren die Politiker der Gesprächstoff, und als sich das Gespräch gegen 19:00 Uhr im Kreis zu drehen begann, und die Leute immer wieder das gleiche erzählten, verabschiedete sich
Mario, und wollte zahlen.
Es war Monatsbeginn, und zu diesem Zeitpunkt wollte der Wirt immer das Geld des letzten Monats haben, denn es war eigentlich so üblich, daß Mitarbeiter der Tischlerei über ein Monat hinweg aufschreiben durften. Heute ging es um 67 Euro, die Mario bezahlen mußte; 67 Euro die er nicht dabei hatte. Alles was er hatte waren ein 10-, ein 5-Euroschein einige Münzen, und einen Lottoschein.
Einen Lottoschein mit einem Wert von 12 Euro. Einen Schein mit Zahlen die Mario schon seit Ewigkeiten spielte, weil er als Kind einmal geträumt hatte, daß diese Zahlen eines Tages kommen werden, Zahlen die ihm bis heute kein Glück gebracht haben, Zahlen die ihm wöchentlich Geld kosteten, scheinbar unnötiger Ballast.
Er hatte noch nie länger als über ein Monat aufschreiben lassen, und wollte es auch heute nicht tun, wenn er in der Früh daran gedacht hätte, wäre er ja beim Bankomaten stehengeblieben und hätte sich das Geld abgehoben und bar gezahlt, doch leider vergaß er es völlig.
Also machte er dem Wirt das Angebot: 15 Euro + Lottoschein im Wert von 12Euro gegen den Schuldenerlaß von 67 Euro, natürlich würde ein Lottogewinn dem Wirt gehören, falls er jedoch keinen Gewinn macht (so wie die letzten verdammten 350 Wochen!!) hätte er Pech gehabt, und Mario praktisch 40 Euro gewonnen.
Der Wirt akzeptierte, und das Schicksal hatte seinen Lauf genommen. Mario kam um 19:45 heim, öffnete die Wohnungstüre und hatte ein klassisches Deja-Vu Erlebnis. Er wußte einfach, daß er diese Situation schon mal durchlebt hatte, und zwar als Kind in einem Traum; er wußte auf einmal genau, daß es in diesem Traum damals genauso gerochen hatte, die Türe genau so stehenblieb wie sie stehenblieb, der Schatten auf den Wänden genau so war, daß er damals im Traum schon unterbewußt angenehm davon überrascht war, daß es in der Wohnung kühler als draußen in der schwülen Sommerhitze war, daß er auf einmal fürchterlich nervös werden würde, so stark daß er fast brechen mußte, daß er den Fernseher genau in dem Moment einschalten würde in dem die Lottozahlen in der gezogenen Reihenfolge kommen; daß es 6 bestimmte Zahlen waren.
6 Zahlen die jahrelang nicht einmal annähernd gekommen waren, in Jahren in denen Mario immer seinen Lottoschein bei sich hatte.
Mario konnte nicht anders, er mußte seinen Freund Josef in dem Moment verfluchen, und sich selbst für seine abgrundtiefe Dummheit hassen.
Er nahm sich ein Bier, zündete sich zitternd, fast bebend eine Zigarette an, ging auf seinen westseitigen Balkon, und starrte teilnahmslos in die Abenddämmerung.
Es war ca. 20:00 Uhr.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.07.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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