Klaus Gödtner

Anton Wirschmeier wird vermisst

Als die Schüler und Schülerinnen des WP1-Kurses Naturwissenschaften sich auf ihre Plätze setzten, war es ziemlich laut, so dass Frau Menke erst ein Donnerwetter loslassen musste, damit es wieder still wurde.
Sie erklärte ihren Schülern, dass sie nun wieder mit lebenden Tieren arbeiten würden.
Sie stellte eine Tupperbox mit Humuserde und einigen Regenwürmern auf das Pult.
Sie hatte sie vor einer Woche in den Kühlschrank gestellt und auf diese Art und Weise die Wenigborster in eine künstliche Winterruhe versetzt.
Vorher fragte sie aber noch, wie vor jeder Stunde, wer seinen Wochenplan nicht erfüllt habe und natürlich fragte sich nach, wer fehlen würde.
„Der Neue fehlt“ sagte Julia und hielt einen Zeitungsartikel in die Höhe, so dass jeder ihn sehen konnte.
Frau Menke ging näher ran und konnte nun lesen, was unter dem Bild von Anton Wirschmeier stand.
Anton Wirschmeier wird vermisst.
Der zwölfjährige Gesamtschüler ist am Dienstag
zum letzten Male gesehen worden.
Er ist morgens noch ganz normal zur Schule gegangen, aber
mittags kam er nicht mehr nach Hause.
Die Eltern sind verzweifelt, und bitten um Mithilfe der Bevölkerung...
 
„Das ist ja fürchterlich“
 
„Ja“ , sagte Ingo „In den ersten beiden Stunden war er noch in der Schule und nach der Pause war er verschwunden.“
Plötzlich krachte, rauchte und zischte es auf dem Pult.
Nur gut, dass Frau Menke noch nicht wieder zurück an ihrem Platz war, denn sonst wäre sie bei dieser Explosion bestimmt zu Schaden gekommen.
 Als der Rauch sich verzogen hatte, staunten die Schüler und ihre Lehrerin nicht schlecht, denn auf dem Pult stand Anton Wirschmeier.
Der Anton Wirschmeier, der erst vor einigen Wochen aus dem Münsterland nach Dortmund gezogen war und seit dem die städtische Gesamtschule
besuchte.
Der Anton Wirschmeier, der von seinen Eltern seit einer Woche vermisst und von der Polizei mit Hilfe einer Zeitungsanzeige gesucht wurde.
Er nieste und wedelte mit der Hand den letzten Rauch vor seinem Gesicht fort.
„Das war ganz schön knapp. Fast hätte ich es nicht mehr geschafft.“
„Was hättest du fast nicht mehr geschafft?
U- u- und wo kommst du so plötzlich her?“ stotterte Frau Menke
„Ach, das ist eine lange, eine sehr, sehr lange Geschichte.“
 
„Für lange, für sehr, sehr lange Geschichten haben wir eigentlich keine Zeit.
Versuche es kurz zu fassen, schließlich wollen wir ja noch mit den Regenwürmern arbeiten.“
„Also,- das war so.
Ich musste ja noch sooo viele Arbeitsblätter nacharbeiten, weil ich ja erst später damit anfangen konnte.
Die Anderen waren schon beim Arbeitsblatt zwölf und ich musste mit dem Ersten und Zweiten anfangen.
Einen Regenwurm wiegen, messen und zeichnen.
Der Wurm den  sie mir gegeben hatten, war so krawetzelig , er hielt nie still.
Ich wäre ja fast verzweifelt, wenn ich nicht auf die geniale Idee gekommen wäre, mich selber in einen Regenwurm zu verwandeln, um mehr über die Tiere heraus finden zu können.
Ich nahm also zur nächsten WP Stunde das Zauberbuch von meiner Großmutter mit in die Schule.
In der ersten großen Pause schlich ich mich in den Naturwissenschaftsraum und blätterte das Buch auf, bis ich bei R wie Regenwurm den passenden Zauberspruch fand.
Ich legte meinen Zeigefinger an die entsprechende Textstelle und sagte ganz langsam den Zauberspruch.
Morsmord re
Lumbricidae totale...“
Natürlich sagte Anton nicht den ganzen Zauberspruch, denn sonst hätte es vermutlich wieder gekracht, geraucht und gezischt.
„Als ich gerade die letzte Silbe ausgesprochen hatte“ fuhr Anton fort. „Da war ich schon ein Regenwurm.
Aber, ich hatte einen schweren Fehler begangen.“
„Was für einen Fehler“ fragte Frau Menke, die sich zwischenzeitlich neben Anton gestellt hatte, der sich immer noch auf dem Pult befand, und ihm mit dem Zeigefinger am Bein stubste, gleich so, als ob sie testen wollte, ob er auch echt sei.
„Ich hätte mich während der Verwandlung auf das Pult setzen sollen, denn als ich mich orientierte, bemerkte ich, dass ich auf dem Fußboden lag.
Um mich aber zurückverwandeln zu können, musste ich den Zauberspruch Rückwärts lesen.
Ich lag also, als 8,5 cm kurzer und 1,79 Gramm leichter Wurm, blind taub und ohne Beine unter dem Pult. Ich musste den ein Meter langen Weg senkrecht nach oben auf mich nehmen, um wieder in die Nähe, des Zauberbuches meiner Großmutter zu kommen.
Denn, den Zauberspruch hatte ich ja nicht auswendig gelernt und schon gar nicht rückwärts.
Ich hatte noch nicht einmal die Hälfte der Strecke geschafft, als sie plötzlich in der Klasse standen.
Mit den Worten: Ach, wen haben wir denn da? Der muss mir doch glatt entwischt sein, griffen sie vorsichtig mit Daumen und Zeigefinger nach mir und steckten mich in diese Tupperbox.“ Während er das sagte deutete er mit dem Zeigefinger auf das blaue Plastikgefäß“
„Wieso, konntest du denn Frau Menke hören, du warst doch taub?“ fragte Rüdiger aus der letzten Reihe.
„Ich habe sie nicht gehört, ich habe sie gespürt“ antwortete Anton
„Regenwürmer besitzen vor allem am vorderen und hinteren Ende ganz besondere Sinneszellen, die ihnen helfen sich zu orientieren, zudem spüren sie damit, wenn sich Fressfeinde nähern.
" Frau Menke als Fressfeind" brach es aus Nicole heraus und die ganze Klasse lachte.
Nur Frau Menke konnte nicht mitlachen, sie fand die Vorstellung, Regenwürmer zu verspeisen nicht so lustig.
"Nach dem Unterricht haben sie die Box in den Kühlschrank gestellt.
Gott sei Dank war ich nicht alleine.
Es waren noch ca. zehn andere Brüder und Schwestern in der Box. Ja ihr habt richtig gehört. Brüder UND Schwestern“. Anton betonte das UND absichtlich, denn er erklärte danach, dass Regenwürmer beides sind, Junge und Mädchen, also Zwitter.
Ich sage euch, dass ist echt ein komisches Gefühl, so beides zu sein, aber als Regenwurm ist das wohl ganz normal.
Es war sehr nett von ihnen, dass sich so schöne Erde mit vielen abgestorbenen Pflanzenteilen in der Box befand. Ich musste nur mein zahnloses Maul öffnen und die Köstlichkeiten fressen. Das war wie ein drei Sterne Essen. Die Hornmilben und andere Tierchen habe ich allerdings links liegen lassen, die schmecken nämlich nicht. Leider kam ich nicht mehr dazu meine Tagesration, nämlich die Hälfte meines Körpergewichts zu futtern,
denn nach einiger Zeit wurde es ziemlich kalt und wir sind alle eingeschlafen. Bis eben, wo sie uns unter die Lampe gestellt haben. Als ich durch die Wärmestrahlen wieder richtig fit war bin ich ins Buch gekrochen, welches Gott sei Dank noch unverändert auf dem Pult lag, und habe mich zurückverwandelt.
Und nun bin ich wieder da.“ sagte Anton abschließend mit einem leichten Seufzer der Erleichterung, dass seine Erzählung doch nicht so lange gedauert hatte.
Anton schaute durch die Klasse und sah 16 Schüler und Schülerinnen mit großen Augen und offenen Mündern. Es war totenstill
Manfred stand auf und sagte, mit einer sehr affigen Stimme, wobei er auf Anton zeigte:
„Und- da ist er wieder“
Das war der Auslöser für einen ungeheuerlichen Lachflash, den die städtische Gesamtschule so noch nie erlebt hatte.
Die ganze Klasse trampelte mit den Beinen, oder trommelte mit den Fäusten auf den Tisch.
Einige Kinder konnten sogar beides gleichzeitig.
Frau Menke hatte große Mühe die „Meute“ wieder zu beruhigen, denn auch ihr liefen vor lauter Lachen die Tränen an der Wange herunter.
„Das ist echt die merkwürdigste Geschichte, die ich je gehört habe“
Sie wischte sich das Gesicht trocken, trank einen großen Schluck Wasser aus ihrer Flasche, obwohl das im Raum für Naturwissenschaften streng verboten ist.
 
„Ihr glaubt mir nicht?“ fragte Anton
„Ihr glaubt mir nicht? Fragte Anton erneut und diesmal wesentlich lauter.
„Kein – einziges - Wort sagte Frau Menke „Oder glaubt ihr ihm diese Geschichte?
Niemand von Antons Klassenkameraden glaubte ihm.
Anton wurde rot vor Wut und setzte sich
im Schneidersitz auf das Pult.
 
„Na gut, wenn ihr mir nicht glaubt, dann sprecht mir doch mal alle nach!“
Er legte seinen Zeigefinger ins Zauberbuch und sprach langsam Silbe für Silbe, so dass alle gut nachsprechen konnten.
Mors-mord- re
Lum-bri-ci-da-e -to-ta-le fix-um
Es krachte, rauchte und zischte....
Es war so viel Krach, Rauch und Zisch, wie es die städtische Gesamtschule noch nie erlebt hatte.
  

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.03.2018. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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