Lena Kelm

Denke ich an Europa

Meine erste Begegnung mit Europa fand im Zug „Pawlodar-Moskwa“ 1976 statt. Auf
dem dreieinhalb Tage und Nächte langen Weg von Nord-Kasachstan nach Moskau überquerte
der Zug den Ural. Das Panorama der Berge und Wälder stand im vollen Kontrast zur heimatlichen
Steppe, ich war wie gebannt von der unbeschreiblichen Schönheit der Natur. Fasziniert schaute ich
aus dem Zugfenster, auf die sich abwechselnde Bilder, als blickte ich durch ein Kaleidoskop
in meiner Kindheit. Plötzlich ging ein Raunen durch den engen Wagenkorridor. Und wie durch ein
imaginäres Telefon verbreitete sich die Nachricht, in zehn bis fünfzehn Minuten erreichen wir die
Grenze zwischen Asien und Europa. Aus dem Geographie-Unterricht wusste ich, dass die Grenze
im Ural verläuft. Trotzdem erfasste mich eine Erregung, ich fieberte dem historischen Moment entgegen.
Und dann erblickte ich ihn, den großen Stein mit den zwei großen Worten: ASIEN–EUROPA. Ich war in Europa!
Das tatsächliche Gefühl, in einer anderen Welt angelangt zu sein, verspürte ich aber erst in der
DDR, meinem Reiseziel. Hier war alles anders, die Architektur, die Bahnhöfe, Geschäfte ohne
Schlangen davor, nette Verkäufer, die Bräuche. Der symbolische Stein zeigte nur, wo Europa
begann. Aber hier war das echte Europa. Leider war mein Urlaub auf wenige Wochen begrenzt
und wurde von den Grenzkontrollen bei der Ausreise überschattet. Das Gefühl in Europa beheimatet
zu sein, kam erst dreißig Jahre später in mir auf, 1993, als ich nach Berlin übersiedelte. Hier, in Berlin,
erlebe ich Europa hautnah und mache mir viele Gedanken über Europa.

Denke ich an Europa,
denke ich an Goethe, der nach Italien und Karlsbad reiste, an die russischen Schriftsteller Gogol,
der nach Jerusalem pilgerte, an Turgenjew, der in Bougival bei Paris lebte und starb, an Dostojewski,
der in Genf, Florenz, sowie Dresden lebte, an all die Künstler in Europa, die schaffenden Literaten, Maler,
Komponisten. In den vergangenen Jahrhunderten ließen die Kanonen oft die Musen verstummen. Im
Europa von heute herrscht Frieden.

Denke ich an Europa,
denke ich in erster Linie an die unermesslichen sprachlichen Gemeinsamkeiten. Als Sprachlehrerin
entdeckte ich einige schon früher, aber erst in Berlin wurde mir bewusst, wie verwandt und
miteinander verwachsen die Sprachen Europas sind. Mama und Papa ruft jedes Kind ob in
Deutschland oder Russland. Ein begabtes Kind wird in Russland Wunderkind genannt, es isst
wie das deutsche sein Butterbrot, trägt seinen Rucksack. Eine russische Frau trägt einen Büstenhalter,
und die Kontoristin, die über Zahle und Büchern im Büro sitzt, ist eine Buchhalterin
in Russland wie in Deutschland. Nicht wenige französische Begriffe benutzen Russen, Deutsche
und Türken. Portemonnaie, Restaurant, Trottoir kennt jeder, aber auch Gazette (Zeitung), Televisor
(Fernseher) im Russischen und Türkischen wie auch Banja (Bad), Plash (Strand). Diese Gemeinsamkeiten
gibt es auch in Spanisch und Italienisch, um nur einige Beispiele zu nennen.

Denke ich an Europa,
denke ich an gravierende, sogar unüberwindliche Barrieren trotz sprachlicher Gemeinsamkeiten
wenn es sich um Kalaschnikows und Colts handelt, internationale Begriffe, von mir hier mit
Absicht benutzt. Tatsächlich geht es um mehr, als um Raketen, Drohnen und Atomwaffen. Ich
wünsche mir ein Europa ohne unüberwindbare Meinungsverschiedenheiten.

Denke ich an Europa,
wünsche ich, dass Russen und Ukrainer zu ihren Gemeinsamkeiten in der Sprache und zu Europa
finden. Nicht vergessen, es steht auf dem großen Stein im Ural eingemeißelt: Sie leben auf der Seite
Europas, wo Freiheit und Frieden gelebt werden.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.03.2018. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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