Heinz-Walter Hoetter

Das Monster treibt wieder sein Unwesen

 

Draußen herrschte ein erbarmungsloser Frost. Lange Eiszapfen hingen überall von den weit verstreut liegenden Gebäuden unterschiedlichster Bauformen und den Ästen der skurril aussehenden Bäume. Die weite Landschaft war mit einer dicken Schneeschicht überzogen, an einigen Stellen hatten die vergangenen, heftigen Schneegestöber die weiße Pracht meterhoch aufgetürmt.

Ich befand mich allerdings nicht auf der Erde.

Die wuchtige Schleusentür eines großen, igluartigen Hauses öffnete sich mit einem zischenden Geräusch. Warme Luft drang nach außen und kondensierte schlagartig zu einer flüchtigen Wolke aus feinen Eiskristallen.

Lazar Tarock hatte offenbar schon gewusst, dass ich kommen würde und den Öffnungsmechanismus der metallenen Haupteingangstür rechtzeitig in Gang gesetzt.

Wenn man einen Hundertjährigen besucht, erwartet man in der Regel einen alten Mann zu begegnen, der sich mehr oder weniger mit seiner Sterblichkeit bereits abgefunden hat und genau aus diesem Grunde eigentlich einen gewissen Grad an innerer Ruhe, Gelassenheit und schicksalsbedingter Resignation ausstrahlen sollte. Man spricht zwar nicht gern darüber, aber man kann zum Beispiel am leeren Blick der Augen und am gebrochenen Klang der Stimme hören, dass bei alten Menschen so eine Art Weltverdrossenheit oder das resignierende Gefühl von Lebensüberdruss vorherrschte, als gäbe es nichts, aber rein gar nichts mehr, was noch zu überraschen imstande gewesen wäre.

Lazar Tarock jedoch war zu meiner großen Überraschung ein reines Energiebündel, der jetzt mit entschlossenen Schritten zur geöffneten Schleusentür herauskam und zielstrebig durch den tiefen Schnee auf mich zuschritt. Sein eng anliegender, wärmender Ganzkörperanzug ließ ihn wie ein Raumfahrer aussehen.

Dann stand er vor mir. Bevor er sprach, atmete er eine kleine Nebelwolke aus und nahm mich konzentriert in Augenschein.

„Sind Sie der legendäre Mike Storm?“ fragte er mich mit fester, sonorer Stimme und hielt mir spontan die rechte Hand zum Gruß hin.

„Ja..., Mr. Tarock, der bin ich. Aber das mit dem ‚legendär’ lassen wir lieber mal weg.“

„Na ja, auch gut. Nun kommen Sie schon herein junger Mann! Sie werden hier draußen noch erfrieren. Warum haben Sie keinen Thermoanzug an?“

Ich zögerte etwas.

„Ich kam mit einer Schneeraupe. Die sind innen gut beheizt und der Weg zu Ihnen war nicht weit. Der Raumflughafen Telstar One liegt ja gleich mehr oder weniger um die Ecke“, erwiderte ich ihm.

„Sie sind ziemlich leichtsinnig, mein Freund. Hier auf dem Planeten Lanthea sinken die Temperaturen bisweilen schon mal schlagartig auf Minus 60 Grad. Da sollten Sie so einen Ganzkörperanzug immer dabei haben. – Schon aus Sicherheitsgründen, wenn Ihnen was am eigenen Leben liegt.“

„So gesehen haben Sie das Recht auf ihrer Seite“, gab ich schnell etwas verlegen zu und ging an Mr. Tarock vorbei in das kuppelartige Haus, dessen gemütlich eingerichteten Räume mich überraschten. Als ich das Ende des langen Röhrenganges durchquert hatte, stand ich plötzlich in einem Wohnraum vor einem brennenden Kaminfeuer. Knisternd stoben rotglühende Funken nach oben in den Abzug.

Der alte Lazar Tarock war mir unmittelbar gefolgt, ging schließlich hinüber zu einem Schrank und öffnete eine kleine Minibar. Dann sah er zu mir hinüber.

„Nehmen Sie doch Platz, Mr. Storm! – Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“

„Unbedingt“, gab ich auf der Stelle zur Antwort.

Er förderte einen Dekanter mit dunkelrotem Landwein zutage und als ich ihm meine Hilfe anbot, beharrte Mr. Tarock darauf, dass ich sitzen bleiben und mich entspannen solle.

„Wie ich erfahren konnte, hatten Sie einen langen Flug“, sagte er mit Bestimmtheit und entfernte den Korken, schenkte zwei Gläser ein, reichte mir eins rüber und brachte ein Toast aus.

„Auf alle, die in der interstellaren Raumflotte Dienst tun“, rief er aus und trank einen kräftigen Schluck aus dem Glas. Dabei strahlte er mich an, um mir zu zeigen, dass er sehr genau wusste, was er einmal gewesen war, und das die Leute ihn dafür zu schätzen wussten, dass er sich nicht davor scheute, alles über den Haufen zu werfen oder alte, überkommene Zöpfe abzuschneiden, wenn es die jeweilige Situation erforderlich gemacht hätte.

„Also Mr. Storm“, fuhr Mr. Tarock fort, “es ist mir eine große Freude, Sie kennen zu lernen. Einen so großartigen Raumfahrer, noch dazu einen so jungen, hier bei mir zu Hause zu haben, kann ich kaum glauben. Ich kann Ihnen nur sagen, ich hätte einiges darum gegeben, dabei gewesen zu sein, als Sie Ihre Entdeckung gemacht haben. – Die Energiekristalle vom Planeten Cristall I. Alle Achtung! Eine großartige Entdeckerleistung, die die Raumfahrt grundlegend verändert hat. So jung und schon so erfolgreich. Man glaubt es kaum.“

Ich wehrte bescheiden ab. Die ganze Sache hatte sich sowieso anders abgespielt. Aber was soll’s? Die Leute erzählten die Geschichte immer wieder anders. Von Planet zu Planet. Ich hatte einfach keine Lust mehr dazu, sie wahrheitsgemäß zu korrigieren.

Mr. Lazar Tarock war ein gepflegter alter Herr, nicht groß, dafür aber sehr schlank und außerordentlich sehnig. Seine wachen Augen waren von einem tiefen Blau und er besaß die aufrechte Haltung einer Person, die halb so alt sein dürfte wie er. Seine Haut war braun und fast ohne Falten, sein Haar war weiß und seine Stimme klang klar und kraftvoll. Dieser alte Mann strahlte immer noch einen unbändigen Lebenswillen aus.

Lazar Tarock stellte den Dekanter auf einen kleinen Rolltisch ab, wo wir ihn alle beide erreichen konnten. Dann setzte er sich in einen bequemen Ledersessel, der gleich rechts neben mir stand. Der alte Mann räusperte sich ein wenig, blickte zu mir herüber und kam gleich zur Sache.

„Ich nehme mal an, Sie kommen wegen meines Sohnes Orpheus.“

„Richtig, Mr. Tarock.“

Auf einem Bücherregal und auf einem Nebentisch standen einige eingerahmte Fotos. Auf etlichen davon konnte man das Gesicht eines verwegenen Mannes mit weißem Backenbart erkennen. Wir sahen beide hinüber zu den Bildern und betrachteten sie eine zeitlang.

„Ich verstehe“, antwortete er mir nach einer Weile des Schweigens. „Das ist schon in Ordnung und die ganze Sache ist auch gar nicht so kompliziert, wie Sie vielleicht denken mögen. Wissen Sie, mein Sohn hat die berühmten KI’s entwickelt, installiert und gewartet. Dreißig Jahre lang hat er für die intergalaktische Raumflotte gearbeitet, ehe er sich ein eigenes Raumschiff zugelegt hat und auf eigene Faust Erkundungsreisen zu unbekannten Planeten unternahm. – Aber ich denke mal, das wissen Sie bereits.“

„Ja.“

„Bitte erlauben Sie mir dennoch die Frage, Mr. Storm, warum Sie das alles interessiert? Hat es wohlmöglich irgendwelche Probleme mit meinem Sohn Orpheus gegeben?“

„Nein“, antwortete ich ihm. „Ich versuche nur herauszubekommen, was seinerzeit auf der Trident II passiert ist.“

Mr. Tarock brauchte einen Augenblick, um diesen Gedanken zu verarbeiten. Er schien sich nach innen zu kehren.

„Das hat Orpheus sich auch immer wieder gefragt.“

„Davon bin ich überzeugt“, erwiderte ich.

„Das war eine ziemlich sonderbare Geschichte. Ich habe bis heute nicht verstanden, was genau passiert ist. Deshalb wüsste ich auch nicht, wie ich Ihnen helfen könnte.“

„Der Wein ist sehr gut. Darf ich mir noch ein Glas einschenken?“ fragte ich Mr. Tarock. Ich wollte aber auch andererseits das Gesprächstempo etwas drücken.

„Aber natürlich. Nur zu, junger Mann. Tun Sie sich keinen Zwang an.“

„Danke. Der ist für Murphy.“

„Murphy war ein hervorragender Kommandant gewesen. Ein Vorbild für alle jungen Raumfahrer“, sinnierte der alte Mann.

„Das ist richtig. Er war auf dem ersten Schiff, das am Ort des Geschehens eintraf. Er und Lord Blake – Murphy war der 1. Kommandant auf der Poseidon - waren die Männer, die die Trident II nach den mörderischen Ereignissen entdeckt haben. Doch dann wurde Murphy ermordet. Seine Leiche wurde nie gefunden.“

Für einen kurzen Moment spiegelte sich Bedauern in den Augen des Hundertjährigen.

„Hat Ihr Sohn Orpheus je mit Ihnen darüber gesprochen oder Ihnen davon erzählt, was da draußen passiert ist? Die Trident II war sein Raumschiff.“

„Nein, einmal abgesehen von seinen persönlichen Gefühlen.“

„Was hat er gefühlt?“

„Anscheinend Angst. Nichts als reine Angst, die sich bei ihm bis ins schier grenzenlose Entsetzen steigerte.“

Ich bemerkte, wie der alte Mann den Kopf schüttelte und innerlich vor seinem geistigen Auge über die Jahre hinweg in die Vergangenheit zu blicken schien.

Ich weckte nur ungern schmerzhafte Erinnerungen, aber da gab es den Verdacht, dass Orpheus späterer Tod kein Unfall gewesen war.

„Was denken Sie, warum man Ihren Sohn möglicherweise ermordet hat? Hatte es möglicherweise was mit der Entdeckung auf seinem Schiff zu tun?“ fragte ich mit der gebotenen Zurückhaltung.

Der alte Mr. Tarock bemerkte meine Vorsicht.

„Ist schon in Ordnung. Ich bin über den Tod meines Sohnes schon lange hinweg. Sie wollen wissen, ob man ihn ermordet hat?“

Ich nahm einen Schluck Wein zu mir, setzte das Glas vorsichtig ab und sah Mr. Tarock direkt ins Gesicht. Seine Augen blinzelten plötzlich wie eine sprungbereite Katze. Diese Reaktion hatte ich eigentlich nicht erwartet. Ich tat so, als würde ich nichts bemerkt haben.

„Was denken Sie?“ fragte ich ihn mit gespielter Ahnungslosigkeit.

„Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Ich weiß es ehrlich nicht.“

Ich hakte nach.

„Wer konnte durch seinen Tod etwas gewinnen?“

„Auch darauf kann ich Ihnen keine Antwort geben, Mr. Storm. Mein Sohn war ein Abenteurer. Er kannte die Gefahren da draußen in den unendlichen Weiten des Alls. Er blickte dem Tod trotzig ins Antlitz. Ich bewunderte seinen Mut, der jedoch auch mit einer Portion Angst gepaart war. Er sagte immer, dass es keinen Mut ohne Angst geben würde. Ich machte mir auf der anderen Seite natürlich auch Sorgen um ihn. Wer tut das nicht als Vater?“

Der alte Mann machte eine kurze Pause, trank einen Schluck Wein und beendete seine Rede mit einer Frage.

„Darf ich fragen, ob der Tod meines Sohnes etwas mit dem Geschehen auf seinem Raumschiff zu hat?“

„Ich bin mir noch nicht ganz sicher, aber vor ein paar Tagen hat jemand die Zuleitungen der Antigravitationsspulen an meinem Gleiter sabotiert. Ich kann von Glück sagen, dass ich den Schleudersitz noch rechtzeitig bedienen konnte, bevor der trudelnde Gleiter auf dem Boden aufschlug und explodierte. Es ist ein Wunder, dass ich noch lebe. Die Suchmannschaften fanden mich schließlich bewusstlos am Rande eines Eismeeres. Fast hätten mich die Eiswölfe gefressen.“

Mr. Tarocks Augen weiteten sich. Er sah mich an, ehe er wieder irgendwohin in weite Ferne zu starren schien. Seine Worte klangen etwas abwesend.

„Das ist alles schon sehr merkwürdig. Ich bin froh darüber, dass Sie den Absturz heil überstanden haben und es Ihnen gut geht, Mr. Storm.“

Der Hundertjährige füllte unsere Gläser nach und brachte diesmal einen Toast auf mich aus.

„Ich wünschte, Sie wären bei meinem Sohn Orpheus gewesen. Er würde bestimmt noch leben“, sagte er wehmütig und eine Träne rann über seine Wange. „Es ist viel über die Verbrechen auf der Trident II geredet worden. Sogar mein eigener Sohn geriet in Verdacht“, fuhr er verbittert fort und ich sah, wie er in seinen Erinnerungen wühlte.

Er machte wieder eine kleine Pause, bevor er weitersprach.

„Und Sie denken wirklich, es gibt einen Zusammenhang zu Orpheus Tod?“ fragte er mich schließlich.

Die Falten um seinen Mund und seine Augen schienen sich dabei noch tiefer in die Haut zu graben. Sein Gesicht veränderte ein wenig die Farbe.

„Aber sicher, Mr. Tarock“, antwortete ich ihm.

Er überlegte eine Weile, und was er auch immer sagen wollte, er sprach es jetzt nicht aus.

Ich machte mir ein paar Notizen. Ich hatte mir schon vor langer Zeit angewöhnt, dass es besser war, nicht die ganzen Gespräche aufzuzeichnen, weil das bewirkte, dass die Leute Hemmungen bekamen, frei zu sprechen.

„Hat es vor dem Tod Ihres Sohnes irgendwelche Drohungen oder Warnungen gegeben, Mr. Tarock?“

Er nippte an seinem Wein und stellte das Glas behutsam auf den kleinen Rolltisch zurück.

„Nein. Es gab nichts dergleichen. Es hat keinen Grund gegeben, dass ihm jemand ein Leid zufügen wollte. Nach dem Geschehen auf seinem Raumschiff Trident II allerdings schien er irgendwelche Geheimnisse zu verbergen. Er hatte sich verändert und wurde immer verschlossener. Mehr kann ich dazu nicht sagen.“

Ich hatte das komische Gefühl, er wünschte sich sogleich, er könnte die letzten Bemerkungen zurückziehen; aber es war zu spät, und so zuckte er nur mit den Schultern.

„Mr. Tarock, warum glauben Sie, dass Ihr Sohn Geheimnisse hatte?“

Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und dachte über meine Frage nach.

„Wie ich schon sagte, er hatte sich verändert“, antwortete er schließlich.

„Inwiefern?“

„Ich kann das schwer in Worte fassen. Es kam mir so vor, als hätte jemand Besitz von ihm ergriffen. Er führte auch immer mehr Selbstgespräche, gerade so, als spräche er mit jemanden. Ich dachte anfangs, dass es nur eine vorübergehende Erscheinung bei ihm sei, aber da hatte ich mich geirrt. Es wurde noch schlimmer und bald stammelte er nur noch unverständliche Worte. Es klang wie eine fremde Sprache, die nur er verstand.“

Ich grübelte etwas.

„Die Veränderungen in seinem Verhalten sind also erst nach der Trident II-Geschichte eingetreten, sagten Sie?“

„Ja“, antwortete Mr. Tarock.

Für die nächste Frage wollte ich mir etwas mehr Zeit nehmen und überlegte mir, wie ich anfangen sollte. Schließlich legte ich spontan los.

„Wo waren Sie zum Zeitpunkt des Geschehens auf der Trident II, Mr. Tarock.“

Der alte Mann erhob sich plötzlich, trat an den Kamin und stocherte ein paar Mal im Feuer herum.

„Ich war damals auf Indianapolis, einer Außenstation im Alpha System. Die liegt im Musari-Sektor, außerhalb des Andromeda Nebels. Mein Sohn hatte mich Monate vorher dort abgesetzt und vorübergehend da ebenfalls Station gemacht. Wir waren eine kleine Gruppe ehemaliger Veteranen aus dem technischen Support. Wir hatten gemeinsame Interessen, und wir haben uns alle recht gut verstanden.“

Ich machte mir abermals ein paar Notizen. Auch dort, auf der Außenstation Indianapolis, hatte es ähnlich schreckliche Morde gegeben.

„Wann haben Sie die Außenstation wieder verlassen, Mr. Tarock?“

„Ich bin schon am nächsten Tag irdischer Zeitrechnung wieder abgereist. Ich weiß nicht warum ich das tat. Ich hatte so ein komisches Gefühl, vielleicht deshalb, weil ich ahnte, dass ich wohl eine lange Zeit von meinem Sohn nichts mehr hören würde. Nun, Sie müssen bedenken, dass er sich da draußen in der Unendlichkeit an Bord der Trident II befand und schon vorher monatelang zusammen mit seiner Crew unterwegs gewesen war. Sie waren auf dem Weg zu irgendeinem Zielort, ich weiß nicht mehr, zu welchem, und Orpheus testete gerade eine neue Generation von KI’s an Bord seines Schiffes. Ich nahm noch während des Fluges zur Trident II Kontakt zu ihm auf und habe von ihm fast täglich gehört. Irgendwann hat er mir eine verschlüsselte Botschaft zukommen lassen und darin geäußert, dass irgendwas seltsames auf der Trident II passiert sei, aber dass alles wieder in Ordnung kommen würde. Er schrieb, vermutlich wäre nur die Kommunikationsanlage ausgefallen. Dann hörte ich vorläufig nichts mehr von ihm.“

„Und als Sie schließlich die Trident II erreichten, hat er Sie da weiterhin auf dem Laufenden gehalten?“

„Nur bis auf das, was Sie schon wissen. Er wurde plötzlich von Tag zu Tag verschlossener und sprach nur noch mit sich selbst. Die ganze Crew bekam Angst vor ihm. Er wurde unberechenbar.“

„Während Ihres Aufenthaltes auf dem Schiff Ihres Sohnes sind sechs Passagiere der Trident II so gut wie spurlos verschwunden. Hat er Ihnen nichts davon erzählt? Nicht einmal andeutungsweise?“ fragte ich argwöhnisch und verzog dabei die Mine etwas säuerlich.

„Ja, ich habe davon gehört. Sozusagen auf Umwegen. Das war wirklich ärgerlich. Mein Sohn spielte die ganze Sache herunter. Er wollte wohl eine Panik verhindern. Immerhin befanden sich weit mehr als dreihundert Leute auf seinem Raumschiff. Er schien sich auch nicht sonderlich darüber aufgeregt zu haben. Einige andere Crewmitglieder haben mir später erzählt, dass irgendwas Furchtbares auf der Trident II passiert sein musste. Es gab anscheinend eine Reihe von bestialischen Morden an fünf oder sechs Besatzungsmitgliedern. Man fand lediglich nur noch einige verstreut herumliegende, blutverschmierte Knochen an den jeweiligen Orten dieser entsetzlichen Taten. Mehr kann ich darüber nicht sagen. “

Ich wusste auf einmal nicht mehr, wie ich meine nächste Frage loswerden sollte. Deshalb fragte ich Mr. Tarock, ob sein Sohn im Umgang mit anderen Leuten ehrlich gewesen war.

„Soviel ich weiß, hat sich Orpheus stets korrekt benommen. Aber Unehrlichkeit und Korruption kann man bei keinem Menschen ganz ausschließen“, gab er mir zur Antwort.

„Hätte er sich denn kaufen lassen? Was meinen Sie?“

„Um möglicherweise etwas Unmoralisches oder Böses zu tun? Orpheus? Nein, das kann ich mir eigentlich nicht vorstellen. Er war eine ziemlich starke Persönlichkeit und voller Selbstbewusstsein.“

„Aber ganz ausschließen würden Sie es nicht?“

„Ich sagte Ihnen doch schon, Mr. Storm, dass man Unehrlichkeit und Korruption bei keinem Menschen ganz ausschließen kann. Das gilt auch für das Böse. Es steckt in jedem als Keim in uns.“

Ich zog aus meiner wasserdichten Seitentasche sechs Bilder hervor auf denen die Gesichter einiger Crewmitglieder der Trident II zu sehen waren.

„Kennen Sie vielleicht zufällig einige dieser Personen, Mr. Tarock?“

Er studierte sie und schüttelte nach einer Weile den Kopf.

„Auf dem Langstreckenraumschiff meines Sohnes gab es eine eingeschworene Kernmannschaft, die für den sicheren Flugbetrieb der Trident II unerlässlich war. Die Gesichter dieser Männer und Frauen könnte ich unter Tausenden sofort herauspicken. Das übrige Mannschaftspersonal wechselte aber ständig, weil es entweder Kolonisten oder freie Raumfahrer waren, die manchmal nur für die Dauer einer einzigen Mission angeheuert wurden. Die Personen auf den Fotos kenne ich daher nicht. Sie sind mir unbekannt.“

„Sind Sie sich da ganz sicher, Mr. Tarock?

„Ja natürlich. Es müssen Leute sein, die auf den unteren Decks oder im Maschinenraum der Antimateriegeneratoren gearbeitet haben. Ich hielt mich in der Regel, wenn ich hin und wieder mal auf der Trident II war, meistens auf der Kommandobrücke meines Sohnes auf. Ich kam nur ganz selten mit der übrigen Mannschaft in Kontakt.“

„Hm, na gut. Ich glaube, das war’s dann, Mr. Tarock. Ich möchte Ihnen danken, dass Sie sich die Zeit genommen haben, mit mir zu reden“, sagte ich. „Auch für den Wein, der mir außerordentlich gut gemundet hat. Ich fühle mich wie neugeboren.“

„Ja, der Wein verändert oftmals den Charakter des Menschen. Und dieser Wein stammt vom Sonnenplaneten Ischcolon, im Raumquadraten Delta, falls dieser Ihnen ein Begriff ist. Aber schon gut, Mr. Storm. Ich habe mich sehr darüber gefreut, Sie mal ganz persönlich kennen gelernt zu haben. Wer weiß, wie viel Zeit mir noch bleibt.“

„Ach was, Mr. Tarock. Machen Sie sich wegen Ihres Alters keine allzu großen Sorgen. Unsere hervorragenden Biogenetiker können das Leben eines Menschen glatt verdoppeln.“

„Sie haben gut reden, junger Mann. Was wissen Sie schon vom Alter und Älterwerden?“

Ich erhob mich leicht benommen aus meinem Ledersessel. Mir wurde plötzlich etwas schwindlig und wäre beinahe über den kleinen Rollwagen gestürzt, der mir den Weg versperrte.

„Geht’s Ihnen nicht gut, Mr. Storm?“, fragte mich der Alte und grinste mich dabei herablassend an.
Irgendwas ging in mir vor, ich wusste aber nicht was. Ich kam nicht dahinter.

Mittlerweile war es draußen schon dunkel geworden.

Wir kamen zur offenen Schleusentür heraus, blieben für einen Moment in der frostigen Luft stehen und gingen dann schnurstracks zu meiner abgestellten Schneeraupe hinüber. Die Innenheizung hatte sich bereits automatisch eingeschaltet, die Front- und Seitenscheiben waren deshalb schnee- und frostfrei.

Ich verabschiedete mich von dem alten Mann, der sich Lazar Tarock nannte und wünsche ihm noch ein langes Leben. Dann setzte ich mich, noch immer leicht benommen, hinter den klobigen Steuerknüppel meines Schneefahrzeuges und fuhr damit zurück zum Raumflughafen Telstar One, der etwa acht Kilometer von meinem derzeitigen Standort in westlicher Richtung lag.

Als ich wieder im meinem Hotel war, ging es mir schon wieder viel besser. Ich stellte umgehend eine verschlüsselte Video- und Tonverbindung mit der Zentrale des Raumflottengeheimdienstes (RGD) her.

Nur wenige Sekunden später blickte ich in das Gesicht meines Führungsoffiziers Oberst Stanislav Poronovsky.

„Mein Gott, Storm! Ich dachte schon, es gibt Sie nicht mehr. Wo haben Sie bloß solange gesteckt? Sie sind mir vielleicht ein Draufgänger. Und was Ihre geheimen Daten anbelangt, habe ich diese bereits im Labor auswerten lassen. Sie sind eine einzige Sensation! Wir haben auch eine genetische Fernprobe von Mr. Tarocks Körperzellen gemacht. Es gibt keinerlei Zweifel darüber, dass Lazar Tarock nicht ‚der’ Lazar Tarock ist, den wir von früher her kennen. Wir haben aufgrund der biogenetischen Untersuchungsergebnisse der von Ihnen sichergestellten Gewebezellen nachweisen können, dass es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um jenes Monster handelt, so eine Art Reptil oder ähnliches, das für die bestialischen Fressmorde auf der Trident II verantwortlich ist. Es mordet wohlmöglich überall, wohin es kommt. Dieses Biest hat unseren Ermittlungen nach offenbar sowohl den echten Lazar Tarock, als auch seinen Sohn Orpheus gefressen. Dann nahm es die Gestalt vom alten Tarock an, und konnte auf diese Weise unerkannt entkommen. Dieses Ding scheint jede x-beliebige Gestalt eines Menschen annehmen zu können und ist dazu in der Lage, jedes Individuum täuschend echt zu imitieren. Dabei infiziert es den befallenen Wirtskörper nach und nach mit seiner eigenen DNS und verändert ihn innerhalb nur weniger Minuten in seinen eigenen, ursprünglichen Körper. Das ist einfach phantastisch. Wir konnten es zuerst selbst nicht glauben, aber die Resultate der Biogenetiker sind eindeutig. Die Ergebnisse stellen einen gewaltigen Fortschritt in der Biogenetik dar. Wir wissen jetzt um das Geheimnis der Metamorphose dieses Monsters. Stellen Sie sich einmal vor, welche ungeahnte Tragweite diese neu gewonnenen Erkenntnisse für die gesamte Menschheit haben werden. Nicht auszudenken! – Ach übrigens, dass Sie den Mut hatten, in die Höhle des Löwen zu spazieren, macht Sie für eine neuerliche Beförderung reif. Ich schlage daher vor, Sie beenden die geheime Mission und zünden den ferngesteuerten Sprengsatz, den Sie in Tarocks Haus heimlich reinschmuggeln konnten. Der Körper des Monsters wird durch die Hitze des Thermosprengsatzes bis zur Unkenntlichkeit verbrennen. Bestätigen Sie diesen Tötungsbefehl und senden Sie uns den Code X, wenn Sie ihn ausgeführt haben. Ende der Übermittlung. – Oberst Stanislav Poronovsky, Raumflottengeheimdienst.“

Nur wenige Augenblicke später jagte ich Tarocks Kuppelhaus aus einer Entfernung von mehr als acht Kilometer mit einem ferngezündeten Sprengsatz in die Luft. Es war eine fürchterliche Detonation, die man noch bis Telstar One hören konnte. Danach stieg eine gewaltige Stichflamme hinauf in den dunklen Nachthimmel von Lanthea. Eine Weile betrachtete ich versonnen den hell lodernden Lichtschein am fernen Horizont und sendete kurz darauf den Code X an die Zentrale des Raumflottengeheimdienstes, der ihn umgehend verschlüsselt bestätigte. Dann wurde die Verbindung endgültig gekappt.

Nachdem ich mich etwas frisch gemacht hatte, ging ich zum Videophon und orderte eine Einzelkabine für einen einfachen Langstreckenraumflug zurück zum Planeten Terra im Sonnensystem SOL.

Mein neuer Körper fühlte sich noch etwas sonderbar an, denn er war im Vergleich zum alten Body von Mr. Tarock relativ jung und angenehm unverbraucht. Auch der Name Mike Storm ging mir noch etwas schwer über die Lippen. Aber ich würde mich schon noch daran gewöhnen. Auf dem Flug zur Erde war ja Zeit genug dafür.


***


Unter den zahlreichen Passagieren eines gewaltigen interstellaren Raumschiffes befand sich auch ein großer hager aussehender Mann in einer schwarzen Raumfahreruniform. In seiner rechten Hand hielt er ein silbrig glänzendes Artefakt, das aussah wie ein Bumerang.

„Persönliches Eigentum“ stand als amtlicher Vermerk auf einem kleinen ovalen Zettel, den eine freundlich lächelnde Mitarbeiterin der intergalaktischen Fluggesellschaft auf den silberfarbenen Gegenstand aufgeklebt hatte.

Als der Mann in seiner Passagierkabine angekommen war, legte er die Rückenlehne seines Sitzplatzes zurück und verdunkelte den kleinen Raum, um sich vor fremden Blicken zu schützen.

Nach einer Weile war er eingeschlafen und manchmal war es so, als würde sich sein menschlicher Körper, wenngleich auch für wenige Sekundenbruchteile nur, in die hässliche Gestalt eines echsenartigen Monsters verwandeln.


ENDE

(c)Heinz-Walter Hoetter

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.03.2018. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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