Ingo R. Hesse

Lesefrust... Oder: Wie ich fast schwul geworden wäre

Ich war, ...mhhh, da müsste ich jetzt mal nachsehen! Ach was, wie alt ich war spielt doch keine Rolle! Ich war jedenfalls im ersten Schuljahr. Und meine Tante E.*, die ältere Schwester meiner Mutter mochte ich sehr.

 

Hauptsächlich, weil sie die besten Spiegeleier braten konnte. Solche, in denen das Eigelb flüssig und mit einer hellen Haut überzogen ist. Und ihr gülden-klarer Apfelgelee schmeckte so wahnsinnig gut, dass ich davon nie genug bekommen konnte. Man konnte ihn fast schneiden, so wie die Götterspeise von meiner Mutter. Er war fester als der einzigartige Käsekuchen von Tante M.*, einer Nachbarin, der ohne trocken zu sein auf dem Teller stand wie eine Eins. Aber dieser Gelee war nicht ganz so fest wie das „Russische Brot“ von … .

 

Doch darum geht es hier eigentlich nicht. Außer vielleicht um klar zu machen, nach welchen Kriterien ich schon in meiner Kindheit meine Sympathien verteilte. Tante E.* stand, das wird wohl niemanden verwundern, ziemlich weit oben auf meiner Hitliste.

 

Und so kam es, dass ich, … . Moment mal! Ich sollte noch einfügen, dass sie zu den Frauen in meinem Umfeld gehörte, die scheinbar auch nachts im Schlaf strickten. Und anders als meine Mutter zum Beispiel, strickte sie mir Sachen, die ich mir gewünscht hatte. Oder von denen ich, in dem Moment, in dem sie sie mir schenkte, sicher war dass ich sie mir gewünscht hatte.

 

In Verbindung mit den Spiegeleiern, dem Apfel-Gelee und ihren samstagabendlichen Mettbrötchen mit Ei, Salz, Pfeffer und Zwiebeln, die ich fast zu erwähnen vergessen hätte, war sie aus meiner Sicht eine Frau, die man keinesfalls verärgern oder gar vor den Kopf stoßen sollte.

 

Und dann, ich war gerade seit zwei, drei oder fünf Tagen im ersten Schuljahr, ..hatte Tante E. Wolle übrig. Zu viel für ein Paar Socken. Zu wenig für einen Erwachsenen-Pullover. Aber zu meinem späteren Erschrecken gerade ausreichend für einen Kinder-Pullover. Einen Pullover, den sie mir schenken würde. Nein, den sie mir schenkte!

 

An das Muster erinnere ich mich nicht mehr. Eigentlich erinnere ich mich von dem Moment an, in dem ich diesen in dem Stadium noch ärmellosen Pullover überziehen musste, kurz bevor er fertig war, ..“wegen der Größe!“, an nichts mehr.

 

Meine Erinnerung setzt erst in dem Moment wieder ein, in dem Frau R.* meine erste Klassenlehrerin, nach passender Kreide suchte. Und sie fand! Kreide, die farblich zu meinem Pullover passte. Was für eine grausame Idee! Jedenfalls für mich.

 

Jedem Jungen und jedem Mädchen sollte eine Farbe zugewiesen werden, an der man später erkennen könnte, ..was auch immer. Und die Spazierstöcke, die wir auf die Tafel malen sollten, noch nicht ahnend, dass aus dreien später mal ein kleines m werden würde, würden dann mit der Farbe meines von Tante E.* gestrickten und an dem Tag keinesfalls zufällig getragenen Pullovers dort prangen. Auf ewig. Bis zur Lehre oder bis zum Studium.

 

Ich habe es nicht so mit Farben. Für mich ist gerne mal alles blau, was zwischen lila und fast schwarz ist. Aber, verdammt nochmal, was rosa ist, dass wusste ich damals schon genau! Und ich wusste, das rosa eine Farbe ist, die von diesen Gummitwist tanzenden, Kästchen springenden und ekelig netten Zicken getragen wurde, die immer alles durften aber nichts taten.

 

OK, meine Tante E.* war lieb und nett. Die Gründe habe ich genannt. Und Frau R.* werde ich auch nie vergessen. Sie ist bis heute für mich der Inbegriff von „Lehrerin“. Einer guten. Ob es wirklich so war, weiß ich bis heute nicht so genau. Aber ich erinnere mich so an sie. Das wird so bleiben. Und weil es so bleibt, stimmt es.

 

Sie muss jedenfalls so nett gewesen sein, dass ich ihr schon damals, also nachdem ich die Hauptschule verließ, die Sache mit den rosafarbenen Spazierstöcken und meinem über gefühlte Jahrzehnte, in grausamem Rosa auf einem Plakat neben der Tafel zu lesenden Vornamen, verziehen habe.

 

Ob ich ihr den unterschwelligen und damals für mich noch nicht klar erkennbaren Kampf gegen die durch solche Pullover leicht aufkeimen könnende Homosexualität auch verzeihen soll, ist mir nicht ganz klar. Das ganze Ausmaß dieser dann doch am Ende von Erfolg gekrönte Anstrengung, wird mir jedenfalls erst jetzt so recht bewusst.

 

Denn ich war fast genial, wenn es ums Lesen ging. Wenn aus einem Buch, oder aus einem meiner Hefte gelesen wurde. Aber sobald Frau R.* etwas mit „meiner“ Kreide an die Tafel geschrieben hatte, oder noch schlimmer, mich gezwungen hatte, mit dieser Kreide zu schreiben, befiel mich eine spontane Lese-Blockade.

 

Frau R.* und Tante E* sind inzwischen genau so tot wie alle anderen aus dieser Generation. Und ich frage mich, ob ihnen klar war, vor welche Hürde sie mich mit dieser Kreide und diesem Pullover gestellt haben.

 

Aber dann denke ich wieder, ...das Leben hielt Schlimmeres für mich bereit. Und manchmal hätte ich gerne wieder bei Frau R.* in der Klasse gesessen. Und ich hätte, nur um noch einmal dort anfangen zu können, zu dem rosa Pullover auch noch eine rosafarbene Strick-Hose getragen. Und gestrickte Handschuhe. Solche die mit einem Wollfaden, durch die Ärmel und den rosa Pullover geführt, vor Verlust und Diebstahl geschützt worden wären.

 

Tja! ;-)

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.03.2018. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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