Sabine Hein

Heirate mich!

Die Szenerie war hübsch anzuschauen.
Durch mehr als ein Dutzend brennender Kerzen war der kleine Raum feierlich erhellt. Fackelnde Schatten schenkten den umher gestreuten Blumen abstrakte Formen.
Die Braut saß schweigend auf der kleinen Bank und blickte starr auf den Boden. Der Bräutigam zupfte nervös an seiner Fliege.
Es waren keine Gäste anwesend, es gab keine Blumenkinder.
Immer wieder blickte sich der Bräutigam um – war da nicht ein Geräusch? Kam da vielleicht jemand?
Er wandte sich seiner Braut zu, blickte sie zärtlich an und flüsterte: “Meine Schöne – wie gerne hätte ich dir eine große Feier geboten. Ein rauschendes Fest mit unzähligen Gästen und Tanzmusik bis zum Morgengrauen – so wie damals.
Aber niemand hätte Verständnis dafür, mein Schatz.“
Er streichelte sanft über ihre Hand und atmete tief ein: „Nun denn“ sagte er, während er sich von der kleinen Bank erhob „wir sollten beginnen, mein Herz. Es ist Zeit, dass du mir meinen größten Wunsch erfüllst und meine Angetraute wirst. Heirate mich!“
Er beugte sich leicht zu seiner Braut hinunter und küsste sie leidenschaftlich. Nach dem Kuss verdrehte er wirr die Augen und kicherte wie ein kleines Schulmädchen. „Ich weiß, es hat noch niemand gesagt, dass ich die Braut küssen darf.“ Sein Kichern stieg zu einem irren Lachen an.
Sein Lachen hallte von den Wänden wider, doch die Braut schien die Situation nicht lustig zu finden. Sie zeigte keine Regung, saß nur stumm da und blickte starr auf den Boden. Er beugte sich zu ihr hinunter: „Wie sehr ich dich liebe, meine Schöne“ hauchte er ihr ins Ohr. Er umfasste ihren Nacken, fühlte ihre kühle Haut und küsste ihren Hals. Er sog ihren süßlichen Duft ein und sein Atem beschleunigte sich - er begehrte sie unendlich.
„Heirate mich, meine Schöne“ bat er flüsternd „Heirate mich!“.
Er schloss die Augen, als sich wieder diese kleine kurze Schmerz in seinem Herzen bemerkbar machte. Wie sehr er sie doch liebte, wie sehr er doch litt.

Niemand war in der Lage, seinen Schmerz nachzuvollziehen. Niemand konnte sich vorstellen, wie es war, jede Nacht bei ihrem Stein zu schlafen, sich verstecken zu müssen wie ein tollwütiges Tier.

Bereits vor mehr als einem Jahr hatte er um ihre Hand angehalten. Sein Herz pochte wie wild, als er in ihre Rehbraunenaugen blickte und sie bat ihn zu heiraten. Nie zuvor hatte er so intensiv für einen anderen Menschen empfunden und nie wieder danach war er in der Lage solch eine tiefe Liebe zu geben. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als auf ewig mit ihr zusammen zu sein.
Sie waren beide sehr verliebt in einander gewesen und bald schon stand ein Hochzeitstermin fest.
Es sollte das schönste Fest werden, das die Stadt je gesehen hatte. Er hatte keine Kosten gescheut, um seiner Angebeteten einen unvergesslichen Tag zu bereiten.
Es waren 120 Gäste geladen, die Hochzeitstorte war über einen Meter hoch und in der vorbereiteten Kapelle wartete ein Meer von Blumen auf das Brautpaar.
Sogar das Wetter war für diesen Oktobermorgen ungewöhnlich mild - alles war perfekt organisiert.
Es hätte die perfekte Hochzeit werden können, wenn das Schicksal nicht andere Pläne mit der jungen Braut gehabt hätte.

Die Gäste waren vollzählig versammelt. Da der Platz in der kleinen Kapelle jedoch nicht für alle ausreichend war, standen viele der Gäste auf dem mit weißen Steinen gepflasterten Kirchhof.
Die Stimmung unter den Anwesenden war ausgelassen und die Sonne strahlte so freundlich und warm wie an einem Frühlingstag.
Der Bräutigam stand wartend vor dem Traualtar. Er zupfte nervös an seiner Fliege und blickte sich immer wieder um. Sehnsüchtig sah er zur Tür der Kapelle und hoffte, dass seine große Liebe bald eintreffen würde.
Dann endlich öffnete sich die Tür – und ein Schutzmann trat ein.

Der Schrei des Bräutigams hallte unmenschlich durch die Kapelle und erschütterte Mark und Bein. Wie irr schrie er umher, unzählige Tränen liefen über seine Wangen.

Sein Herz brach in dem Moment, als ihm der Schutzmann sagte, dass seine große Liebe auf dem Weg zur Kapelle bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen war.

Seinen Verstand verlor er vor einem Jahr, als er kurz nach der Beisetzung zum ersten Mal zu der Gruft ging und seine Braut leidenschaftlich küsste.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.07.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Alle Haiku-Gedichte in "Den Wind jagen" von Heike Gewi sind im Zeitraum von Januar 2008 bis 2012 entstanden und, bis auf einige Ausnahmen, als Beiträge zur World Kigo Database zu verstehen. Betreiberin dieser ungewöhnlichen Datenbank ist Frau Gabi Greve. Mit ihrer Anleitung konnte das Jemen-Saijiki (Yemen-Saijiki) systematisch nach Jahreszeitworten für Bildungszwecke erstellt werden. Dieses Jahr, 2013, hat die Autorin die Beiträge ins Deutsche übersetzt, zusammengefasst und in Buchform gebracht. Bei den Übersetzungsarbeiten hat die Autorin Einheimische befragt und dabei kuriose Antworten wie "Blaue Blume – Gelber Vogel." erhalten. "Den Wind jagen" heißt auch, Dinge zu entdecken, die sich hoffentlich nie ändern. Ein fast unmögliches Unterfangen und doch gelingt es diesen Haikus Momente und zeitlose Gedanken in wenigen Worten einzufangen und nun in dieser Übersetzung auch für deutschsprachige Leser zugänglich zu machen.

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