Bernhard Pappe

Amnesie oder doch Demenz oder einfach nur das „wahre“ Leben?


Schlage eine Zeitschrift oder eine Zeitung auf, lausche den Nachrichten und du wirst immer wieder mal vernehmen, dass die Demenz für eine alternde Gesellschaft eine große Herausforderung darstellt. Da steigen Bilder von Menschen auf, die sich selbst verlieren und nicht mehr wissen, wer sie sind und auch, wo sie sind. Zu dem ausgemalten Szenario gehören Pflegenotstand und Mangel an geschultem Personal zwingend dazu. Dabei könnte jeder auf seine Erfahrung im Alltag zurückgreifen. Arbeitswelt und neurodegenerative Symptome leben in einer engen Symbiose. Glaubt ihr nicht? Fake news? Steigen wir in die Untiefen der Satire hinab…

 

Neulich trafen wir uns mal wieder am Nachmittag zu gemütlicher Runde. Ein Schwätzen unter guten Bekannten (teilweise kennt man sich schon seit vielen Jahren) ist immer eine Erbauung. Man sollte sich häufiger und in möglichst großer Runde treffen. Diese Runden nennt man seit einiger Zeit Meetings (das deutsche Wort Besprechung wurde schon vergessen). Bleiben wir beim Neudeutschen und fügen hinzu, dass manche dieser Runden Flash Mob-Charakter haben ((englisch flash mob; flash „Blitz“, mob [von lateinisch mobile vulgus „reizbare Volksmenge“] – Will jemand Wikipedia anzweifeln?). Kehren wir wieder zum Thema zurück. In ähnlicher oder gleicher Runde traf man sich bereits vor einer Woche oder war es am Wochenanfang? Egal, nicht so wichtig! Jedenfalls wurde über was geredet. Was war es noch einmal? Nicht so wichtig! Die meisten der Anwesenden sind schließlich dabei gewesen.

Die gemütliche Runde nahm ihre Arbeit auf, man kommunizierte, man tauschte sich aus. Ich wollte etwas konkreter werden und nannte ein paar, mir wichtige, Punkte aus der letzten Runde. Ich erntete verständnislose Blicke, sah in ausdruckslose Augen, niemand konnte sich daran erinnern. Ich hatte mir an dem Tage keine Notizen gemacht (Mache ich mir fast nie, ich kann mir das so merken.), aber die anderen schrieben fleißig in ihre Bücher. Da sollte doch ein Protokoll existieren? Wirklich? Es wurde angezweifelt. Besonders von dem, der es, jedenfalls nach meiner Erinnerung, hätte formulieren sollen. Es musste mal wieder ohne funktionieren. Man kommunizierte fröhlich und im Plaudertone weiter.

Die Tür öffnete sich und die Assistentin des Chefs steckte ihren Kopf herein. Dieser käme gleich, er hätte unsere gemütliche Runde vergessen. Hm, ist es so einfach? Eine Runde, die sich nun schon seit mehr als einem halben Jahr recht regelmäßig und am gleichen Ort (der Meeting-Raum ist neben seinem Büro) trifft; eine Runde, die er selbst ins Leben rief, weil ihm das Grundthema damals extrem wichtig war. Außerdem gibt es elektronische Kalender mit Erinnerungsfunktion.

Während wir auf das Eintreffen des Chefs warteten erinnerte ich mich spontan daran, dass sich zu Anfang der Besprechungsraum nur zögerlich gefüllt hatte. Zugegeben, Pünktlichkeit war noch nie eine Charaktereigenschaft bestimmter Kollegen. Es gilt als schick, zu spät zu erscheinen. Manche von ihnen kommen stets in Begleitung. Finden sie den Weg ansonsten nicht?

Der Chef war nun da und ich rechnete damit, dass das Meeting auf „Anfang“ gestellt wurde. Er sagte einfach: „Macht weiter!“

Worüber wurde noch mal gesprochen und wer hatte zuletzt das Wort ergriffen? Auch diese Erinnerungen waren mehr als blass. Aus meiner Sicht wechselte die Grundrichtung der Kommunikation. Wer wollte den Chef schon mit Problemen belasten. Ich musste über viele Jahre lernen, dass man in einer solchen entspannten Atmosphäre und bei Anwesenheit des Chefs nicht den Finger hob, um ein Problem öffentlich zu machen, es zu beschreiben, die Anwesenden gar zur Mitarbeit anzuregen. Dass man mit solchem Tun eine wohlverdiente Atmosphäre störte, daran konnten sich alle noch Jahre später sehr deutlich erinnern. Was für eine erstaunliche Leistung!

Ich war meinen eigenen Gedanken gefolgt, das sogenannte Meeting plätscherte dahin. Wie durch einen Schleier nahm ich war, dass da jemand mit Vehemenz einen Standpunkt vertrat. Ein jüngerer Kollege erhob seine Stimme. Der Chef schenkte ihm eine gewisse Aufmerksamkeit, stellte eine Frage. Nun ging ein Ruck durch die Anwesenden. Man redete laut und vor allem durcheinander. Schließlich gab es genügend wichtige Beiträge zum Thema, die gehört werden mussten. Man hatte sich schließlich schon sehr lange und intensiv damit auseinandergesetzt. Mir schien ein Postkartenspruch auf: „Ich habe keine Lösung, aber ich bewundere das Problem.“ Die Runde war sich einig, eine Lösung zu erarbeiten und Vorschläge hierzu in eine Woche auf den Tisch zu legen. Der Chef lächelte und wirkte zufrieden. Ein guter Zeitpunkt, das gemütliche Beisammensein zu beenden. Schließlich würde man sich in einer Woche wiedersehen.

Resümee: Meine Themen, die ich mal wieder anzusprechen gedachte, waren untergegangen. Ein mir bekanntes Phänomen. Die Dringlichkeit von Themen und ihre gezielte Wahrnehmung, so erstaunlich das klingt, dazwischen ist manchmal nur eine sehr kleine Schnittmenge zu beobachten. Ungelöste Themen bauen sich gegebenenfalls zu wahren Wänden auf. Die stehen einfach da und weichen entgegenkommenden Fahrzeugen nicht aus. Unfälle passieren halt. Rufer in der Wüste der Amnesie ändern daran nichts. Amnesie oder doch schon Demenz? Wer will die Stadien unterscheiden. Ich könnte mein Gegenüber oder meinen Nachbarn als Test mal bitten, die Skizze einer Uhr in sein Buch zu malen. Zeitanzeige - Fünf vor Zwölf. Wäre das zu offensichtlich? Lach, ich habe kein Buch dabei. Der neuronale Zustand ist mit einem perfekten Lotuseffekt ausgestattet. Niederregnende Probleme perlen einfach ab. Sie hinterlassen kaum Spuren. Für Mitarbeiter in tieferliegenden Hierarchierängen könnte die niederfallenden Tropfen allerdings ätzend sein.

Der junge, dynamische Kollege, bringt er seine Themen an den Mann (Frauen sind eh in der Minderheit in dem Geschäftsfeld)? Ich habe da so eine Ahnung. Man wird den jungen Kollegen gar nicht erst wieder einladen. Das schützt vor Überraschungen. So wird es ebenso sein unmittelbarer Chef sehen.

Und ich? Ich könnte das Spiel mit der Mauer spielen (auf den Unfall warten - klappt immer) oder mal wieder eine kleine Sprengladung zünden, die an Amnesie und Demenz rüttelt. Ein wenig Kampfgeist glimmt noch hinter meinen Augen. Ich werde in mich hineinhören und der inneren Stimme hernach folgen.

 

Glaubt ihr’s jetzt, dass ein Zusammenhang zwischen dem Job und neuronalen Krankheitsbildern bestehen kann? Nein? Dann schaut genau hin! Ich werde jedenfalls beim nächsten gemütlichen Beisammensein meine Kollegen erneut unter Beobachtung stellen. Es werden sich Szenen abspielen, die mich innerlich lachen oder weinen lassen – ein schmaler Übergang zwischen den Zuständen. Ein Krankheitsbild hätte ich beinah vergessen zu erwähnen – die Beratungsresistenz. Wenn die Symptome sich ausbreiten, was wird aus dem Thema Pflegepersonal? Vielleicht noch mehr Assistentinnen? Ein aus Kostengründen wenig wahrscheinliches Szenario.

Die Firma wechseln? Nun, es wäre der Wechsel von einer Demenzklinik in eine andere. Aktuell kennt man wenigsten den Demenzlevel der Kollegen.

Es bleibt spannend…

© BPa / 01-2018

„Ich habe das nicht mehr auf dem Schirm.“ Ist das nicht eine schöne Formulierung?
Sonnenschirm, Regenschirm, Bildschirm, Raketenabwehrschirm?
Fühlt man sich da noch beschirmt?
Da erschafft die Amnesie doch eine Atmosphäre der Ruhe und des Friedens.
Bernhard Pappe, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.03.2018. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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