Helga Asmuß

Ein Zahn im Ohr kommt selten vor

Gelegentlich hat man schon mal einen „kleinen Mann im Ohr“, das stimmt. Manche haben auch „Bohnen in die Ohr’n“, jedenfalls hat Gus Backus das behauptet, als er 1965 mit seinem Schlager die Mengen begeisterte. Berliner Jören haben mangels Taschentuch leider recht oft „’n Fahrstuhl in der Neese“, und wenn du den Wald vor lauter Bäumen nicht siehst, na, „denn haste wohl Tomaten uff de Ogen“!

 

So weit, so gut. Aber einen Zahn im Ohr, das gibt’s doch nicht!

 

Doch, gibt es. Unsere englische Enkeltochter Sophie hat es bewiesen. Zur Zeit ihres Zahnwechsels. Da war sie etwa sechs. Warum sie den süßen kleinen Milchzahn nicht in das eigens von der Mama dafür eingerichtete Kästchen legte – weiß der Himmel. Vielleicht war der deutschen Mutter die englische Geschichte von der schenkfreudigen Zahnfee nicht geläufig und sie hatte der Tochter nichts von dem Geldstück unter dem Kopfkissen erzählt. Stattdessen hatte sie ihr dieses banale Kästchen zur Aufbewahrung ihres ersten Zähnchens angeboten. Das war offenbar nicht sonderlich attraktiv für das Kind und so steckte es sich den Zahn zunächst mal ins Ohr. Dort piekte das scharfkantige Teil natürlich und flugs wollte Sophie ihn wieder herausangeln. Irgendwie schaffte sie das aber nicht und schob stattdessen das Zähnchen noch tiefer hinein. Panik. Gebrüll. „Den kriege ich schon wieder raus!“, tröstete der große Bruder die schreiende Schwester. Er bemühte sich sehr – und schob das spitzige Teil dabei unglücklicherweise immer tiefer in den Gehörgang. Dumme Sache. Man war ratlos. Kind brüllte, Mutter kam. Und die entschied sich spontan für das Nächstliegende, für den Arzt im Medical Center, gleich um die Ecke.

 

Doch das Kind gebärdete sich wie wild, fest entschlossen, niemanden an sein Ohr zu lassen. So konnte der Arzt nichts ausrichten. Der Zahn blieb im Ohr. Aber schließlich löste der Doktor vom Dienst das Problem ganz elegant, indem er die verängstigte Mutter mit dem brüllenden Mädchen ganz einfach ans Krankenhaus weiterempfahl.

 

Als sich daselbst das immer noch strampelnde und brüllende Kind anschickte, dem hilfreichen Arzt auch mit unvollständigem Gebiß in die Hand zu beißen, da schickte man die Mutter fort und entschied sich zur Vollnarkose!

 

Die Mutter begab sich bangen Herzens in den Wartebereich, der Bruder verharrte schuldbewusst allein zu Hause. Gar den Vater in seinem Labor hatte man mit dieser Neuigkeit schwer verunsichert – ein schrecklicher Zustand für alle Beteiligten! Nur für Sophie nicht! Als nämlich alles vorbei war – von der eigentlichen Aktion hatte sie ja dank Narkose nichts mitbekommen – fand sie sich nach Prinzessinnen Art in einem großen, weichen Bett wieder, rührend umsorgt von freundlichen Schwestern und genoß das Theater! Letztendlich landete der ominöse Milchzahn doch noch dort, wo er eigentlich hingehört: im Kästchen!

 

Nun sollte man meinen, eine derartige Geschichte sei eher selten. Ist sie wohl auch. Aber kleine Kinder hatten , beseelt von ihrem Entdeckertrieb , zu allen Zeiten den merkwürdigen Drang, Dinge zu kosten, zu schlucken oder in die Öffnungen zu stecken, dabei vielfach bevorzugt eher unverdauliche Gegenstände wie Legosteine, Flaschenverschlüsse, Schrauben, Knöpfe, Geld oder sonstige Kleinteile. Heute ist die Wirtschaft darauf eingestellt und beantwortet dieses Sorgenthema mit deutlichen Warnhinweisen auf ihren Produkten: „Vorsicht! Nicht für Kinder geeignet! Kleinteile können verschluckt werden!“

 

Aber Erbsen sind ja eigentlich nicht unverdaulich. Die kann man immerhin essen, wenn auch nur nach entsprechender Vorbehandlung. Vor Erbsen braucht niemand zu warnen!

 

Und jetzt folgt meine eigene Version von der Geschichte mit den verflixten Kleinteilen. Dazu gehen wir gute sechzig Jahre zurück bis in meine Kindheit…

 

In der viel zitierten Nachkriegszeit mangelte es nicht nur an Essen, sondern oft auch an Spielzeug. Die Kinder entwickelten in diesen Jahren eine beachtliche Fähigkeit, alles Mögliche und Unmögliche zum Spielen umzufunktionieren. Und da ich heute eine Weile allein zu Hause war, hatte ich Zeit zum Herumschnökern. Dabei fand ich in der Vorratskammer ganz zufällig diese Tüte mit Erbsen. Die sollte mir sogleich als Spielzeug dienen – wenigstens solange, bis die Mutter wiederkommen würde!

 

Was für ein herrliches Gefühl, mit der Hand in diese Tüte zu greifen und die glatten runden Kügelchen durch die Finger gleiten zu lassen! Die sehen ja aus wie kleine Murmeln! Auf dem blanken Terrazzo-Fußboden rollten sie in alle Richtungen! Die musste ich rasch wieder einfangen. Wohl versuchte ich auch, sie zu zerbeißen, aber das wollte nicht gelingen, da halfen auch meine scharfen Zähnchen nicht. Zum Essen waren sie also nicht geeignet. Aber man konnte sie sich ja in die Nase stecken. War mal was anderes. Einige passten da schon hinein. Jetzt Kopf hoch, Lippen schürzen und einige Schritte tun. Die bleiben sogar drin – genial! Erhobenen Hauptes trippelte ich durch die Diele. Aber jetzt hole ich sie doch lieber raus, ehe die Mutter zurückkommt. Sie muß ja nicht sehen, dass ich mal wieder gekramt habe. Schnell, schnell, sie kommt! Ich höre die Schlüssel klappern. Dumm, die letzte Erbse kriege ich nicht raus. Sie sitzt zu tief. Egal. Bloß weg hier. Ich kriege das Ding schon!

 

Viele Rückzugmöglichkeiten in unserer winzigen Zweizimmer-Wohnung gab es nicht, aber hinter dem Schrank war ich einigermaßen sicher. Doch die Mutter roch den Braten. „Komm raus da! Was bohrst du in der Nase herum? Hast du kein Taschentuch?“ Ich wand und drehte mich, aber letztlich musste ich doch klein beigeben und von der dummen Erbse in der Nase berichten. Entsetzen bei der Mutter, sehr zu meinem Erstaunen, hatte ich doch eigentlich mit Schimpfe gerechnet! Sie ahnte wohl Schlimmes, denn verzweifelt versuchte sie nun auf ihre Art, das corpus delicti herauszuangeln, aber es wollte nicht gelingen. Tat auch schon ziemlich weh, aber heulen konnte ich ja nicht, war ich mir meiner Schuld doch sehr wohl bewusst! Was, wenn sie da nicht mehr rauskommt? Wandert sie dann in den Kopf? Meine Angst wuchs zusehends. „Sie quillt auf und wer weiß, vielleicht muß die Nase aufgeschnitten werden?“, jammerte die Mutter. Und als nun alles Schnauben und Bohren nichts half, griff sie mich und rannte mit mir zum nächstbesten Arzt, einem Doktor Rusch am nahe gelegenen Schuckertdamm. Den Namen kann ich nicht vergessen – war eine schlimme Erfahrung! Der war nämlich kein verständnisvoller Kinderarzt, im Gegenteil! Alt und brummig, barsch und ungehalten, und seine Schimpfkanonaden trafen die verängstigte Mutter mit dem Kind, das immer kleiner wurde unter seinem groben Griff! „Wie kann ein Kind in deinem Alter so dumm sein und eine Erbse in die Nase stecken?“, herrschte er mich an. Und mit einer langen, blitzenden Metallzange angelte er schließlich die Erbse aus der kleinen Nase. Die Tränen, die dabei kullerten, taten das bestimmt nicht, weil ich heulte – das hätte ich nicht gewagt! Die kullerten von alleine! Und das Blut lief auch. Da stopfte er mir so eine lange Mullbinde in die Nase, wobei er das Ende heraushängen ließ. Die dürfte ich erst nach zwei Stunden herausziehen, warnte er mit drohendem Ton und entließ uns kopfschüttelnd.

 

Meine arme Mutter hatte sich einiges anhören müssen, aber auf dem Rückweg hat sie nichts gesagt, nicht mal geschimpft hat sie. Ich habe auch lieber den Mund gehalten, zumal mir das Ende der Binde, das da aus meiner Nase baumelte, entsetzlich peinlich war! Zu Hause habe ich mich dann wieder hinter dem Schrank verkrochen, ziemlich lange. Sie hat mich nicht gerufen und auch nicht gesehen, dass ich geheult habe….

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