Manfred Gries

Sein Eckchen

Zurückgekehrt aus jenem unseligen Krieg - Ostfront, Stalingrad - öffnete sich ihm die Welt des Wiederaufbaus. Ihm, dem jungen, lebenslustigen Mann mit Erfahrungen aus Jahrhunderten. Leben und Tod, Lebensgeschichten zusammengefasst zwischen zwei Mörsereinschlägen. Hoffnung und Verzweiflung, wie sie sonst nur über einen längeren Zeitraum erfahrbar werden, passierte Lebenskost, verkraftbar. Seine Familie verstreut über Länder, die vorher in einem Land zusammenlebte. Neubeginn ohne zurück zu blicken. Der Schuhcremedosendeckel - Ersatz für den gestohlenen Tankdeckel seines Motorrades - gehörte ebenso zum Leben wie die Arbeit, die in diesen Jahren Garant für das eigene kleine Heim war. Familie aufbauen. Für ihn wie für viele andere war das die Erfüllung und stolz blickte er auf jede Mark, die seiner Hände Werk nach Hause trug.

Die Jahre vergingen und das Eigenheim wurde zur geliebten Gewohnheit. Ziele waren erreicht und eigentlich hätte er sich ausruhen können. Seine Welt war in Ordnung. Aber die Welt wandelte sich. Der Wiederaufbau war abgeschlossen und die Arbeit musste nun verteilt werden in dem Land, wo vorher Arbeit in Hülle und Fülle vorhanden war. Arm und reich gewann wieder an Bedeutung und mit dem Höhepunkt der wirtschaftlichen Konjunktur kehrte die Erinnerung zurück. Eigentlich war sie nie weg gewesen, hatte sich nur versteckt in den kleinen Erfolgen der Jahre. Jetzt hörte er die Mörsereinschläge wieder, sah die Gesichter seiner Kameraden, deren Lebensgeschichte damals endete. Die Schreie der Verzweiflung, der Wunsch nach Leben drang wieder an sein Ohr. Und wie damals, so wusste er auch heute nicht damit umzugehen. Unverständnis begegnete ihm unter den Menschen, die diese Gesichter nicht sehen konnten.

Wieder begann sich die Welt zu verändern. Das Wort “Arbeitslosigkeit“ wurde in den Duden aufgenommen und damit Bestandteil der Sprache. Menschen begannen sich zu organisieren und das Wort “Streik“ folgte dem Wort “Arbeitslosigkeit“. Er, der Kämpfer, nutzte die Gunst der Stunde und “machte sich selbständig“. Mitbestimmen wo es lang ging, eigene Ideen verwirklichen, den Niedergang der Konjunktur aufhalten - ein Weg in diesen Tagen den er beschritt. Aber die Schatten von Stalingrad holten ihn ein. Er erkrankte, musste den Weg zurück in die Welt der “Arbeit Suchenden“ antreten. In den Analen der Geschichte wird diese Zeit als “ABM“ Zeit beschrieben. “ABM“ ? Ach so, ja, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen.

Und da die Welt nun einmal in Zeitalter aufgeteilt ist, folgte auch dem “ABM“ Zeitalter eine neue Zeit. Aber an der nahm er nicht mehr teil. Und das kam so:

Sein kleines Eigenheim, erbaut in guten Zeiten, hatte einen Garten. Den hatte er sich fein zurechtgemacht - mit Grill und Überdachung. Abends schaute er den Zeiten zu, die von Menschen aus der “Jetzt“ Zeit beschrieben wurden. Stück für Stück wich dieser Kampfgeist aus seinem Leben, der damals das Eigenheim erbaut hatte. Aber er bot ihm einen Platz, an dem er ruhen konnte. “Sein Eckchen“, wie er es nannte.

Ob er nun vor dem nächsten Zeitalter geflohen war oder einfach keinen Mut zum Leben mehr hatte, bleibt ungeklärt. Sicher ist, dass “sein Eckchen“ nicht Ziel jener Mörsereinschläge war, die aus einer längst vergangenen Zeit in unsere Gegenwart dringen. Wer genau hinschaut, kann die Gesichter sehen, die all diese Veränderungen nicht miterleben mussten. Und so grausam Stalingrad war - die Welt danach hat sich nicht verändert.

Letzte Woche - wir leben in wieder einer anderen Zeit - wollte der Bürgermeister der Stadt, in der das Eigenheim steht, dieses zum Denkmal erklären. Aber da stellte sich die Ehefrau des Stalingradisten quer. Sie hatte ihn begleitet durch alle Zeiten und bildete die Brücke zwischen der Vergangenheit und Heute. “Sein Eckchen“ bleibt “Sein Eckchen“. Und wir Kinder erinnern uns noch an den Tankdeckel aus den Tagen, als dieses Land von seinen Bewohnern neu erbaut wurde.

Manch geschichtliche Entwicklung lässt sich an einzelnen Menschen gut nachvollziehen. Sie spiegeln Gesellschaft und Leben.Manfred Gries, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.07.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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