Monika Litschko

Die weißen Federn der Engel

Eine verzweifelte Frau kniet auf ihrem Wohnzimmerteppich und faltet die Hände zum Gebet. „Gott“, betet sie, „ich weiß nicht mehr weiter. Wie soll ich meine drei Kinder weiterhin versorgen? Das bisschen Geld, welches ich zur Verfügung habe, reicht nicht für uns alle. Wir haben schon Tage nicht mehr richtig gegessen. Kannst du mir nicht helfen? Ich brauche dringend eine Arbeit, aber so sehr ich mich auch bemühe, ich finde keine. Lasse ein Wunder geschehen.“

Dann betet sie das 'Vaterunser.'

Zur gleichen Zeit sitzt ein verzweifelter Mann auf dem Sofa. Seine zitternden Hände liegen vor seinem Gesicht. „Gott“, ruft er, „ich weiß nicht mehr weiter! Meine Schulden lasten schwer auf meinen Schultern. Sie erdrücken mich. Meine Familie leidet unter diesem Druck, und bevor ich sie verliere, werde ich meinem Leben ein Ende setzen. Ich habe auf Wunder gehofft, doch leider vergeblich.“

Dann betet er das ‘Vaterunser.'

Ein sehr wohlhabender Mann sitzt in seinem Auto. Mit schneeweißen Händen hält er das Steuer fest umklammert. „Gott“, schimpft er, „ich habe meine Ziele im Leben erreicht. Besitze Häuser und Geld. Habe eine Familie, der es an nichts fehlt. Warum betrügt mich meine Frau mit einem andern Mann? Jetzt kann ihr nur noch ein Wunder helfen.“

Dann betet er das ‘Vaterunser.'

In derselben Minute stirbt eine alte Frau. Der Ehemann nimmt die runzeligen Hände seiner Frau in die seinen. „Gott“, sagt er dankbar, „öffne deine Tore und lasse sie eintreten. Sie war eine Kämpferin im Leben. Mit ihr habe ich so viel erreicht. Durch jedes Tal ist sie mit mir gegangen. Ich danke dir, dass sie die Früchte unserer Ernte, so lange mit mir genießen durfte.“

Dann betet er das ‘Vaterunser.'

In derselben Nacht träumen die Frau und die beiden Männer den gleichen Traum. Sie verlassen ihre schlafenden Körper und schweben auf einen Engel zu. Der Engel umschließt sie mit seinen Flügeln und wärmt ihre sorgenvollen Herzen. Dann öffnet er sie wieder und beginnt zu sprechen. „Wir haben eure Gebete gehört, und jetzt sagt mir, wie sehen Wunder für euch aus? Wenn wir eure Wünsche erfüllen, ist es dann ein Wunder, welches geschehen ist? Oder erstrebt ihr nur ein leichteres Leben?“

Er wendet sich der Frau zu. „Du jammerst, dass ihr nicht genug zu essen habt. Dein Geld reicht nicht und Arbeit findest du auch keine. Jetzt betest du um ein Wunder.“ Die Frau nickt traurig. „So ist es ja auch“, antwortet sie und beginnt zu weinen. „Und deine Kinder?“, fragt der Engel. „Was wünschen die sich?“ Die Frau weiß es nicht. Sie hatte ihre Kinder nie nach ihren Wünschen gefragt. Auch nicht danach, ob sie glücklich waren oder gar etwas vermissten. Der Engel streichelt ihre Wange. „Sie sind glücklich,“ tröstet er sie. „aber auch ängstlich, weil sie deine ewige Sorgen spüren. Und das jeden Tag. Merkst du nicht, dass es in deinen Händen liegt, dein Schicksal zu drehen? Glaube an dich und deine Wünsche, an deine Ziele und deinen weiteren Weg. Arbeite an dir und lasse dich nicht entmutigen. Lebe deinen Kindern das Positive vor. Zeige ihnen den Weg, den sie später einschlagen könnten. Lasse sie sehen, dass man alles erreichen kann, wenn man nur daran glaubt. Dann hast du dein eigenes Wunder vollbracht.“

Er wendet sich dem wohlhabenden Mann zu. „Warum kann deiner Frau nur noch ein Wunder helfen?“, fragt er. „Was hat sie getan und was hast du vor? Trachtest du nach ihrem Leben? Warum?“ Der Mann wird wütend. „Ich habe ihr alles gegeben!“, ruft er aufgebracht. „Es fehlt ihr an nichts, und trotzdem betrügt sie mich! Das habe ich nicht verdient!“ Der Engel nimmt die Hand des Mannes. „Was fühlst du?“, fragt er ihn.
Der Mann versucht die Hand des Engels abzuschütteln, aber es gelingt ihm nicht. „Was fühlst du?“, fragt er Engel noch einmal. „Deine Hand“, antwortet der Mann zornig, „was sollte ich sonst fühlen.“ Der Engel drückt noch fester zu. „Was noch?”, fragt er erneut. „Denn ist nicht nur einfach eine Hand. Schau mich an!“ Der Mann schaut in die Augen des Engels, die immer mehr an Glanz gewinnen, und es ergreift ihn eine tiefe Liebe, die langsam den Schleier der Blindheit von seiner Seele zieht. Mit klarem Blick und fester Stimme antwortet er: „Liebe, Wärme und Kraft spüre ich. Ruhe und Geborgenheit.“ Der Engel lächelt. „Und wie fühlt sich das an?“ Der Mann lächelt nun ebenfalls. „So gut“, antwortet er glücklich. „Ich verstehe, was du mir sagen willst. Meine Gedanken haben sich nur um Wohlstand und Geld gedreht. Das hat mich innerlich tot für das Leben gemacht. Ich habe vergessen zuzuhören und zu sehen. Habe genommen, aber nicht gegeben. Es ist nicht die Schuld meiner Frau, sondern meine.“ Der Engel stimmt ihm zu. „Das wahre Glück mein Lieber, findest du nur bei Menschen, die dich lieben“, sagt er aufmunternd. „Es ist nie zu spät, dieses zu erkennen. Verzeihe ihr, dass sie die Liebe gesucht hat, die du ihr versagt hast.“ Der Mann nickt. „Habe ich denn eine Chance, dass sie mir verzeiht?“, fragt er zerknirscht. Der Engel schlägt mit seinen Flügeln. „Zeige ihr, wie wunderbar du sein kannst“, antwortet er. „Erschaffe dich neu. Verzeihe dir selber und glaube an die, die dich brauchen und lieben.“ Der Mann hat verstanden und bedankt sich bei dem Engel.

Dieser wendet sich nun dem Verzweifelten zu. „Du hast viele Schulden und überlegst aus dem Leben zu scheiden?“, fragt er ihn ernst. „Angst hast du, dass deine Familie diesem Druck nicht gewachsen ist? Und weil du sie nicht verlieren willst, verlässt du sie lieber?“ Der Verzweifelte schüttelt den Kopf. „Ich habe Angst, dass sie in mir den Verlierer sehen“, antwortet er mühsam. „Dass sie mich auslachen und verachten. Und weil ich das nicht ertragen könnte, verlasse ich sie lieber. Sie werden trauern und mich irgendwann vergessen haben.“ Der Engel wird wütend. „Was werden sie vergessen?“, fragt er ihn zornig. „Dass du sie im Stich gelassen hast? Bist du sicher, dass sie um dich trauern werden?“ Der Verzweifelte kann nicht fassen, dass der Engel so mit ihm redet. Was meinte er bloß? Verständnislos sieht er den Engel an. „Ich meine es doch nur gut“, sagt er daher trotzig. Da fasst der Engel seine Schultern und schüttelt ihn. „Wenn jeder der in Schwierigkeiten steckt, diesen Weg wählen würde, hätte der Himmel viel zu tun“, sagt er eindringlich. „Du wählst diesen Weg, weil du es bist, der nicht von vorne anfangen will. Es ist dir zu mühselig.“ Der Mann gibt dem Engel einen Stoß. „Das glaubst auch nur du!“, schreit er aufgebracht, „Ich habe meine Arbeit verloren. Was wird nun aus unserem Haus? Und was wird aus unseren Kindern? Ihre Freunde werden sie ausschließen. Und nur, weil wir alles verlieren werden.“ Der Engel wehrt sich und stößt den Mann weit von sich. „Hast du das deinen Kindern beigebracht?!“, sagt er mit grollender Stimme. „Dass sie nur die wertschätzen sollen, die sich alles leisten können? Stumpfe, lächerliche und nichtssagende Werte. Dann bist du ihr Totengräber, denn irgendwann werden sie dir folgen.“ Der Mann sinkt auf die Knie und weint erbärmlich. „Aber so ist das Leben“, stammelt er. Der Engel bekommt Mitleid und hilft ihm auf. „So kann das Leben nicht sein“, antwortet er milde. „Nicht wir, sondern ihr habt es zu einem Kampf gemacht. So sind euch die wirklichen Werte, die das Leben ausmachen, abhandengekommen. Immer mehr von euch bitten um Wunder. Und warum? Weil ihr euch alle nach etwas anderem sehnt. Die Hektik des Lebens wird euch zu viel. Verborgene Sehnsüchte erfüllen eure Seele. Wenn ihr es nur zulasst, öffnen sich eure Augen wieder. Ihr seid nicht alleine, denn zusammen könnt ihr viele Wunder erschaffen.“ Der Engel gähnt ausgiebig. „Feiglinge seid ihr“, sagt er müde. Der Verzweifelte reicht dem Engel die Hand. „Dann mache ich den Anfang“, sagt er dankbar. „Ich will kein Feigling mehr sein, und auch nicht der Totengräber meiner Kinder. Du hast recht, die eigentlichen Werte die das Leben ausmachen, sehen anders aus. Wir werden bei null anfangen müssen, aber das macht nun nichts mehr. Ich freue mich, wenn wirkliche Freunde unser Leben neu bereichern werden.“ Der Engel legt seinen Arm um ihn. „Und schon wieder ist ein Wunder geschehen“, sagt er und lächelt.

Er breitet seine Flügel weit aus. „Hört mir zu! Es ist traurig, dass Glück und Unglück für euch von einem Stück Papier, und von ein paar Münzen abhängig ist,“ sagt er nachdenklich. „Glaubt es oder glaubt es nicht, es geht auch anders. Aber da ihr um Wunder gebeten habt, will ich euch eines geben. Ein ganz Kleines, mit großer Wirkung.“ Der Engel schüttelt sein Federkleid und eine kleine, flauschige weiße Feder schwebt sacht zu Boden. „Wenn ihr Mal wieder strauchelt oder anfangt zu zweifeln, dann achtet auf kleine, weiße Federn. Sie können überall sein. Auf der Straße, direkt vor euren Füßen könnten sie liegen. An eurer Kleidung haften oder an euch vorbei schweben. Ganz egal wo ihr sie findet, sie werden euch an das erinnern, was ihr wirklich wollt. Nur ihr dürft das hinsehen nicht vergessen.“

Neben ihnen leuchtet ein helles Licht. Es umgibt eine alte Frau, die langsam auf sie zu schreitet. Der Engel nimmt ihre Hand und zieht sie an seine Lippen. „Da bist du ja,“ begrüßt er sie liebevoll. „Ich habe auf dich gewartet. Es ist lange her, nicht wahr?“ Die alte Frau nickt freundlich. „Ja“, antwortet sie, „es ist lange her. Aber ich habe deinen Rat befolgt, und mein Leben war erfüllt von Liebe und Harmonie. Von den kleinen Hürden reden wir erst gar nicht. Es hat sich einfach gelohnt zu leben, zu glauben und zu kämpfen. Nur das zählt. Nun komme ich zu dir zurück und sage noch einmal, danke. Jede Feder, die ich fand, veränderte mein Leben zum Positiven. Danke.“ Der Engel nimmt die alte Frau auf seine starken Arme und breitet seine Flügel aus. Doch bevor er mit ihr davon fliegt, dreht er sich noch einmal um. „Wir sehen uns wieder. Glaubt an eure Träume und Ziele. Gebt den Menschen, die euch brauchen, Hoffnung, Trost und Zuspruch. So erschafft ihr Wunder für Wunder.“ Dann steigt er in den Himmel und lässt absichtlich vier weiße Federn zu Boden schweben.

© Monika Litschko

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.04.2018. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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