Als jäh Kinderstimmen im engen Hofkorridor
meine Hirngespinste zerreißen, höre ich hin.
„Kikeriki“, kräht ein Kind, ein anderes miaut
wie eine Katze, ein Junge bellt, ein viertes schreit:
„Mama, Papa!“ Der Hund brüllt: „Schnauze!“
*
Im Zug stehe ich die ganze Fahrt über eng gedrängt.
Gelände, Bäume, Sträucher, Schienen und Bahnsteige,
Köpfe und Jacken gehen ineinander über, bis die Türen
wieder aufgehen, Leute aussteigen, andere hineindrängen,
der Zug anfährt. Sonne blitzt durch die Zweige, blendet mich.
Plötzlich fühle ich auf meinem Handrücken den zarten Abdruck
eines warmen Kinderohrs. Auch das Kind schaut verwundert,
blicklos auf, und zieht seinen Kopf zurück von der Stange,
an der ich mich festhalte. Das Gefühl erinnert mich an etwas.
Ich sitze in der Bahn und lese, das kleine Mädchen neben mir
verfällt in einen monotonen Singsang: tiptoptiptoptiptop.
Auf einmal legt es seinen Kopf in mein aufgeschlagenes Buch,
seinen kleinen dunklen Haarschopf wie in einen Schoß.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 22.04.2018.
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Ein Tiger schleicht durchs Puppenhaus
von Florian Seidel
Rapunzel in Puppengesprächen, Adoptivkinder auf Zeitreisen, Fragebögen, Bekundungen am Bauch der Sonne. Rätsel und Anspielungen, die uns, an Hand scheinbar vertrauter Muster, in die Irre führen. Florian Seidel hält seine Gedichte in der Balance zwischen Verschweigen und Benennen, zwischen Bekanntem und Unbekanntem. Jeden Augenblick könnte alles aus dem Gleichgewicht geraten, uns mitreißen, uns enden lassen in einem Augenblick der Verwirrung. Die in dem Gedichtband „Ein Tiger schleicht durchs Puppenhaus“ versammelten Texte schildern Suchbewegungen. Glückspiraten, Tiger, Jäger und andere Unbehauste in jenen Momenten, da die Realität Schlupflöcher bekommt und wir uns selbst im Spiegel sehen. Ein ungewöhnlich großes Sprachgefühl und vor allem die Bildhaftigkeit machen die Qualität dieser Lyrik aus.
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