Peter Kröger

Zeit

 

Genau weiß ich es nicht, ich müsste nachschauen im Tagebuch der Langen Nächte, aber über den Daumen gepeilt war ich zweitausend Jahre mit Hanne zusammen; während Hanne jedoch jung und frisch daherkam, taten mir bereits morgens die Knochen weh, und so war die Trennung nur eine Frage der Zeit, absehbar wie so vieles und fair vollzogen. Schon allein die Tatsache, dass wir uns in all den Jahren höchstens sechzigtausendmal dem Liebesspiel hingaben, gab Hanne das Recht, mich in die Wüste zu schicken, wo ich ungefähr viertausend Jahre blieb, bis ich mit der drallen Wally eine neue Verbindung einging, die ich seit exakt dreitausend Jahren glücklich zu nennen die Freude habe. Das Stete und Stoische, es umfängt uns.

Man möge bedenken: Der Jüngste bin ich weiß Gott nicht mehr, der Lack, der sowieso nie wirklich mein dickes Fell bedeckte (wie Hanne es einmal formulierte), ist ab, wie nur etwas ab sein kann, und Wally, die Dreitausenderin, trägt es mit Fassung und stemmt die Last der Jahre und mich, wenn ich so sagen darf, wie ein Mann. In Anerkennung dieser Leistung – und eine schier unmenschliche Leistung ist es allemal – habe ich Wally eine dreißigjährige Reise nach Madeira geschenkt, ob mit mir oder ohne mich, soll sie und nur sie allein entscheiden, allerdings bitteschön innerhalb der nächsten zwei Jahre, da eine überstürzte Buchung niemanden glücklich macht und das Reisebüro zu meterhohen und ellenlangen Abstrichen bei der Hotelauswahl auf diesem sonst so charmanten Fleckchen Erde ermuntern könnte. Alles ausgebucht, Sie sind zu spät, niemals mehr möchte ich diese Worte hören, wie vor mittlerweile dreißigtausend Jahren (also einer halben Ewigkeit), als der lang versprochene Sommerurlaub mit den lieben Eltern platzte, weil nichts aber auch gar nichts anderthalb Jahre vor Ferienbeginn aus dem Hut zu zaubern war. Wally kennt diese Geschichte und wird sich sputen, schließlich ist Madeira ihr langgehegtes Traumziel, und sie liebt Geschenke. Ihr Okay vorausgesetzt würde also auch ich Madeira sehen (und mich belohnen für langen Atem aus tiefstem Grunde), vor dem sechsmonatigen Flug allerdings graut mir, am liebsten ließe ich mich beamen und schlüge drei Stunden später in Funchal auf. Keine Chance, und doch: Man wird ja noch Wünsche äußern dürfen, sehnsüchtig, geerdet, froh.

Ach, die Jahre vergehen wie im Flug, noch zwölftausend, und die Rente lacht, und wenn ich bedenke, dass meine Schulter seit neunzig Jahren schmerzt und dieser Schmerz weitere zehn Jahre brauchte, um sich vernünftig zu entfalten, dann lache auch ich über so viel Irrsinn, und Wally lacht mit. Und auch Hanne würde lachen, denn sie hat Humor oder vielmehr hatte sie ihn, denn nachdem sie vor siebentausend Jahren den bekannten Holzpalettenproduzenten Alexander Waldmannhausbergstein-Schrot von und zu Werden gejagt, erlegt und geehelicht hatte und, sagen wir, in kürzester Zeit ohne mit der Wimper zu zucken, überschlagsweise bestimmt siebenhundertfünfzigtausend Mal ihre und seine Neigung zum Liebesspiel an ungewöhnlichen Orten ausleben durfte (Ameisenhaufen hasse ich seit Hanne-Zeiten wie die Pest), war ein riesiger Stapel Holzpaletten in circa dreiundfünfzig Minuten durch schlechte Stapeltechnik eines unmotivierten Angestellten auf die sich schonungslos-leidenschaftlich Umklammernden und ihr betoniertes Eventliebesnest gekippt (mitten auf dem nächtlichen Werksgelände, man stelle sich vor!) und hatte sie – ich wiederhole mich, aber nicht ganz - inflagranti erwischt und unter sich begraben und zerlegt (Hannes Körper war augenblicklich verwüstet,  Alex von und zu Werden starb zweiunddreißig Tage später im Krankenwagen), was auf der achtunddreißig Jahre später stattfindenden Beerdigung (die Freigabe der Leichen zog sich hin) von einem mitfühlenden Redner, nämlich mir, als Akt der Barmherzigkeit gepriesen wurde (bei diesen Worten schaute Wally im kleinen Trauer-Schwarzen verstohlen zu mir herüber), weil alles, wenn schon das Schicksal Schicksal spielen musste, so rasend schnell ging und sich Palettenkante und splitterndes Brett in Bein und Hals und Auge versenkten, allem Quieken und Quaken und Flehen und Blöken zum Trotz.

Genau weiß ich es nicht, die Geschehnisse zehren noch an mir, dennoch müsste es mir gelingen, mein Leben wieder in geregelt-gemäßigte Bahnen zu lenken und mit der drallen Wally auf Madeira die soeben ausgestandene Paletten-Geschichte sacken zu lassen, bis schließlich am Jüngsten Tag, also in neunhundertfünfzig Billionen Jahren (ein Richtwert), alles noch einmal aufgerollt werden würde, die Liebe, das Spiel, das Holz und der Tod und Paletten-Hanne und olle von und zu Werden mittenmang, wie man in Berlin, dieser siebenhundertachtzigtausend Jahre alten Stadt, zu sagen pflegt.

Habt ihr es abgerafft, Freunde? Ach leckt mich alle, allesamt, auch die dralle, scheue und schlaue Nachfolger-Wally, die schon verreist ist, weil Madeira allein am schönsten ist, wie sie mich telefonisch, über eine sehr, sehr lange Leitung quasi in diesem Moment, also vor gut drei Tagen, wissen ließ, ohne übrigens das gutgemeinte Gratisticket eingesackt zu haben. Schön blöd.

Und manchmal denke ich: Sollte Gottvater selbst, höchstselbst, vorstellig werden, den alten Zeigefinger heben und einen strengen Vers aufsagen, nur zu, ich bin nicht da, in tausend hoch tausend Jahren nicht, und später schlafe ich, das Tagebuch der Langen Nächte bleibt leer und hält den Rand. Nur meine Knochen bleiben gesprächig. Und wenn schon. Die Zeit heilt alle Wunden.

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