Susanna war ein liebreizendes Baby, mit großen, blauen Augen, beinahe unnatürlich roten Lippen und Bescheidenheit, was die Aufmerksamkeit der Erwachsenen anging. Sie weinte selten und verfügte über die Gabe, sich stundenlang ohne Unmutsbekundungen selbst zu beschäftigen.
Damit unterschied sie sich wesentlich von ihrem Bruder Mark, der anderthalb Jahre später geboren wurde. Dieser forderte seit seinem ersten Schrei die ständige Zuwendung seiner Eltern ein. Es war besonders dem Stolz des Vaters über den ersehnten Stammhalter zu verdanken, dass dieses hingenommen wurde. Mark bediente sich unbewusst seines strahlenden Lächelns sowie des überzeugenden Leidens, um die Aufmerksamkeit seiner Eltern zu fesseln. Dem Jungen war es in die Wiege gelegt, die Menschen zu beeinflussen, seinen Vorteil daraus zu ziehen. Noch war er sich dieser Fähigkeit aber nicht bewusst.
Seine Schwester genoss es, dass Mutter, Vater, Verwandte und Besucher sich mit Mark beschäftigten. So konnte sie allein vor sich hin spielen, beobachten und unbehelligt von anderen die Welt entdecken. Obwohl sie das Sprechen schnell erlernte, schwieg sie lieber. Ihre stumme Zurückhaltung wurde von den Erwachsenen geschätzt. Susanna war ein pflegeleichtes Kind.
Es war immer die Absicht der Mutter gewesen, so bald wie möglich in ihren Beruf zurückzukehren. Mit ihrem Mann hatte sie sich geeinigt, sich wenigstens in deren ersten drei Lebensjahren um die Kinder zu kümmern, doch dann sollten diese eine Kita besuchen, erst halbtags, dann ganztags.
Zuerst wurde Susanna jeden Morgen in so eine Einrichtung gebracht, wo sie lernen und mit anderen Kindern spielen sollte. Auch wenn das kleine Mädchen keine Lust auf die Gesellschaft Gleichaltriger verspürte, folgte sie ohne Murren dem Wunsch ihrer Eltern. Aber schon am ersten Tag fühlte sie sich in der lärmenden und tobenden Truppe unwohl. Sie suchte sich etwas versteckte Plätze, wo sie sich allein beschäftigen konnte.
Aber das wollten die anderen Kinder nicht zulassen. Sie waren neugierig auf das neue Mitglied ihrer Gemeinschaft und die Erzieherinnen taten alles, um Susanna in deren Spiel einzubinden. Doch das Mädchen nutzte jeden unbeaufsichtigten Moment, um dem munteren Treiben zu entkommen. Bald verloren die anderen die Lust, sich mit ihre zu beschäftigen. Sie wurde zu einer Außenseiterin, was Susanna begrüßte. Sie fühlte sich wohl, wenn sie sich ungestört in ihrer eigenen Welt vergnügen durfte.
Dieses ungewöhnliche Verhalten weckte das Misstrauen der Erzieherinnen. Etwas konnte mit diesem Kind nicht stimmen. War es Zuhause vielleicht Gewalt oder sexueller Belästigung ausgesetzt? Oder musste es psychologisch betreut werden? Auch wenn Susannas Verhalten keinen Grund für Beanstandungen lieferte, verunsicherte es die Erwachsenen.
Als dann ihr kleiner Bruder Mark noch vor Erreichen des dritten Lebensjahrs in die Kita kam, zerstreuten sich die Bedenken über das häusliche Umfeld der Kinder. Dieser Junge war ganz normal, spielfreudig, immer in Bewegung, laut, manchmal frech und suchte den Kontakt zu Gleichaltrigen. Seine Schwester interessiert ihn dabei nicht. Durch den Jungen angeregt, versuchten die Erzieherinnen erneut, Susanna in die Gruppe einzubinden. Unglücklich fügte sie sich dem Zwang. Sie hatte gelernt, welches Verhalten von ihr erwartet wurde, doch es behagte ihr nicht.
Um wenigstens etwas normal zu wirken, suchte sie nach einer Freundin. Mitfühlend wie sie war, fiel ihr das nicht schwer, denn es gab immer Mädchen, die es schwer hatten, von den anderen anerkannt zu werden. Dieser nahm sie sich an, denn gemeinsam waren sie stärker. Doch wahre Nähe ließ Susanna nie zu. Sie spielte nur die Rolle einer netten, hilfsbereiten Person. Ihre eigene Welt war zu fremd, um sie zu offenbaren.
An den Wochenenden mit den Eltern flüchte Susanna vor der Gesellschaft anderer. Sie wollte allein sein und ihre Ruhe haben. Wenn die Familie Freizeitparks und Tiergärten besuchte oder Ausflüge unternahm, ließ das Mädchen dieses wie ein ungeliebtes Pflichtprogramm über sich ergehen, während ihr Bruder sich stets freute, Neues, Unbekanntes zu entdecken. Schließlich regte die Mutter an, bezüglich des seltsamen Verhaltens der Tochter den Rat eines Psychologen einzuholen.
Dieser meinte sogleich, Ansätze von Autismus bei dem Mädchen zu erkennen. Dafür sprach, dass sie einen außergewöhnlich hohen Intelligenzquotienten hatte und offensichtlich unter einer Störung des Sozialverhaltens litt. Allerdings fehlte für dieses Krankheitsbild die Forderung nach strikter Ordnung. Also wollte er sich auf keine Diagnose festlegen.
Dann wurde Susanna eingeschult. Der Lehrstoff fiel ihr leicht, doch Freundschaften schloss sie nicht. Wieder weckte ihre stille Zurückhaltung, ihr Wohlverhalten und der Hang zum Alleinsein Misstrauen bei den Lehrern. Die Schulpsychologin wurde hinzugezogen. Diese ausgesprochen feinfühlige Frau bemerkte, dass Susanna für sich eine eigene, phantastische Welt aufgebaut hatte. Diese verschloss ihr das Tor zur Wirklichkeit. Damit war sie zum Scheitern im Alltag verdammt, was unbedingt geheilt werden musste.
Als Susanna erkannte, dass auch diese Frau sie nicht verstand, sondern wollte, dass das Mädchen sich genauso verhielt wie ihre Altersgenossen, beschloss sie wieder eine Rolle zu spielen. Sie suchte sich Freundinnen und bemühte sich, die Erwartungen ihres Umfelds zu erfüllen. Damit waren alle zufrieden. Nur Susanna litt darunter, sich ständig verstellen zu müssen.
In ihrer Familie drehte sich mittlerweile alles um Mark. Der Junge hatte einen beachtlichen Freundeskreis, war sportlich und machte seinen Eltern sehr viel Freude. Das Verhalten und die Beliebtheit ihres Bruders führte Susanna ständig vor Augen, dass sie selbst ganz andere Sachen glücklich und zufrieden machten. In Marks Leben waren Ruhe und Besinnlichkeit Zeichen für ein unerfülltes Dasein. In einer rastlosen Zeit rannte er fröhlich mit der Menge, strebte nach Erfolg und Anerkennung. Beides hatte für Susanna keine Bedeutung. Aber damit verlor sie den Anschluss an die Gemeinschaft um sie herum.
Mittlerweile war sie zu einem sehr ansehnlichen Teenager herangewachsen, der durchaus das Interesse des männlichen Geschlechts weckte. Doch das bemerkte sie meistens nicht mal, während ihre Klassenkameradinnen fast nur noch über Liebe und Begehren sprachen. Als eine der Besten in ihrer Klasse, wurde sie zwar von den Lehrern geachtet, doch ihr Wunsch nach Momenten der Einsamkeit wurde von niemandem verstanden.
Susannas gescheiter Verstand befahl ihr, sich anzupassen, um ein Leben in Normalität führen zu können. Also suchte sie den Kontakt zu Gleichaltrigen, besuchte mit diesen Veranstaltungen, wurde in sozialen Netzwerken aktiv und lernte über Belanglosigkeiten zu plaudern. Schnell erreichte sie Beliebtheit bei ihren Mitschülern, weil sie stets freundlich war und keinen Unterschied in ihrem Denken und ihren Wünschen erkennen ließ. Wie ein Blatt auf dem unruhigen Wasser der Entwicklung zum Erwachsenen trieb sie umher, stets darauf bedacht, nirgendwo anzustoßen.
Nur in den, immer seltener werdenden Momenten der Abgeschiedenheit in ihrem Zimmer fühlte sie die Fesseln der Anpassung. Sie war gefangen in den Ansprüchen anderer. Lediglich die Freude der Eltern über die Veränderung ihrer Tochter konnte sie für sich als Bestätigung dafür sehen, dass sie das Richtige tat.
Weil es eben dazu gehörte, gab sie irgendwann dem Werben eines jungen Mannes nach, bekam ihren ersten Kuss und führte eine Liebesbeziehung. Aber sie traute sich nicht, mit diesem über ihr wahres Denken und Fühlen zu sprechen. Wenn sie sich doch mal vergaß, nannte ihre Partner sie liebevoll Träumerin.
Susanna lernte, dass niemand etwas über ihre, von der Norm abweichende Persönlichkeit wissen wollte. Also spielte sie weiter ihre Rolle, um niemanden zu verwirren oder gar zu erschrecken. Manchmal meinte sie dabei, sich selbst kaum noch zu erkennen. Die nun allgemein geschätzte, junge Frau fühlte sich verloren in der alltäglichen Gegenwart, obwohl sie das Leben darin beherrscht.
Mit einem herausragend guten Abitur standen ihr alle Türen offen und Susanna entschied sich für das Chemie-Studium. Phantasie war dabei wenig gefragt. Damit zwang sie sich selbst, das an der Wirklichkeit orientierte, logische Denken weiter zu entwickeln.
Ihrem Bruder Mark reiche ein mittlerer Schulabschluss, mit dem er anschließend eine Ausbildung zum Kaufmann bei dem Sportverein begann, für den er Fußball gespielt hatte. Diese Möglichkeit verdankte er seinem umfangreichen Netzwerk, zu dem selbst erfolgreiche Fußballer gehörten. Mark kannte beinahe jeden, der Einfluss in diesem Sport hatte. Davon versprachen sich die Verantwortlichen nützliche Kontakte.
Nachdem er seine Lehre beendet hatte, überredete er seine Eltern, ihm einen Aufenthalt in den USA zu finanzieren. Davon versprach er sich, noch mehr Kontakte zu knüpfen, die seiner Karriere förderlich waren. Mutter und Vater, beide berufstätig, hatten mittlerweile ein stattliches Vermögen angehäuft und konnten so den Wunsch ihres Sohnes erfüllen. Allerdings mahnte sie ihr Gerechtigkeitsempfinden, auch etwas für die Tochter zu tun. Also finanzierten sie Susanna eine Wohnung nahe der Universität.
Bald lernte Mark in den USA einen jungen Araber kennen, dessen Vater einen Fußballclub in England besaß. Die beiden freundeten sich an und schließlich bekam Mark einen gut bezahlten Posten als Sportdirektor in eben diesem Verein. Da er ein Frauenschwarm war, zeigte sich bald eine sehr hübsche Frau aus reicher Familie an seiner Seite. Die Eltern waren überglücklich.
Susanna war froh, nicht mehr in einer Wohngemeinschaft sondern in ihren eigenen vier Wänden leben zu dürfen. Dort hatte sie Ruhe zum Lernen. Sie legte die Bachelorprüfung in Chemie mit der höchst möglichen Punktzahl ab. Eigentlich hätte sie die Semesterferien genießen können, doch sie hatte verlernt, sich allein zu beschäftigen. Ihre Eltern besuchten Mark in England, ihr Freund machte ein Praktikum in den Niederlanden und ihre sonstigen Bekannten waren alle im Urlaub.
Die einst so sehr von ihr geliebte Einsamkeit bedrückte sie nun. Es war Sommer und die Straßencafés waren gefüllt mit gut gelaunten Menschen. Doch Susanna fühlte sich fremd in dieser Welt. Die permanente Geräuschkulisse, rücksichtslose Eile und allgegenwärtige grelle Werbung wuchsen in ihr zu einer Bedrohung und ließen sie einen Schutzpanzer gegen ihre Außenwelt anlegen. Zuhause versuchte sie, wieder den Zugang in ihre eigene Welt zu finden, doch musste feststellen, dass deren Tür von Brocken aus Selbstverleugnung versperrt war. Verzweiflung erfasste Susanna. Sie hatte sich selbst im Irrgarten fremder Ansprüche verloren.
Ein dunkler Schleier legte sich um ihre Seele. Sie fühlte sich wie in einem Kerker, in den kein Licht drang. Weder Sonnenschein noch das Lachen anderer Menschen konnten die Ketten sprengen. So sehr sich Susannas wacher Geist auch bemühte, vermochte sie keinen Hoffnungsstrahl zu erkennen.
Schließlich entschied sie, ihrem trostlosen Leben ein Ende zu setzen. Vielleicht wartete nach dem Tod wieder die Welt auf sie, die sie so schmerzlich vermisste. Warum sie jemals Rasierklingen gekauft hatte, wusste sie nicht mehr, aber nun sollten diese ihr helfen, den Weg aus der Düsternis in ins Licht zu finden.
Es war der Nachbarin, die einen Schlüssel für Susannas Wohnung hatte und ihre nur eine Nachricht über ihre bevorstehende Abwesenheit auf den Tisch legen wollte, dass die junge Frau gerettet wurde. Entsetzt über den Selbstmordversuch ihrer Tochter eilten die Eltern herbei. Vor den Ärzten verschwiegen sie nicht ihren Verdacht, dass Susanna schon lange unter einer psychischen Störung litt, die offensichtlich nun in Lebensmüdigkeit gipfelte. Also begrüßten sie den Vorschlag, die junge Frau nach ihrer körperlichen Genesung in eine Psychiatrie einzuweisen.
Dort wurde die depressive Patientin zuerst mit verschiedenen Medikamenten behandelt, die aber keine Besserung ihres Zustands brachten. Susanna blieb auch in Gesprächen mit Fachleuten unzugänglich, gleichgültig. Aber wenn sie ihre Medikamente nehmen sollte, wurde sie wütend und angriffslustig. Die Ärzte wussten sich nicht weiter zu helfen, als die junge Frau komplett ruhig zu stellen. Susanna dämmerte in einem kragen Zimmer vor sich hin.
Noch immer von einem schlechten Gewissen ihrer Tochter gegenüber geplagt, suchten ihre Eltern nach einer anderen Form der Unterbringung. Dabei stießen sie auf eine Einrichtung, die sich unheilbar psychisch Kranker annahm. Diese residierte in einem ehemaligen Gutshaus und war von einem, durch eine hohe Mauer sicher eingezäunten, großzügigen Park umgeben. In der herrschaftlichen Anlage durften sich die Patienten frei bewegen. Auch bewohnte jeder ein eigenes Zimmer. Selbst wenn der Aufenthalt dort sehr teuer war, entschieden die Eltern, dass ihre Tochter in diesem Umfeld sicher und angemessen weggesperrt war.
Die dort ständig anwesende Ärztin reduzierte Susannas Einnahme von Psychopharmaka mit Bedacht. Die Mahlzeiten nahm die junge Frau allein in ihrem Zimmer ein. Jeder Wunsch, den sie bezüglich ihres Essens oder der Getränke äußerte, wurde erfüllt. Da niemand an diesem Ort zu etwas gezwungen wurde, musste die Patientin selbst einsehen, dass ihre Muskulatur durch häufiges Liegen und Mangel an Bewegung geschwächt war. Also nutzte sie zuerst das Angebot zum Schwimmen im hauseigenen Bad. Dann begann sie mit regelmäßigen Übungen im Fitness-Studio.
Irgendwann begann Langeweile Susanna zu plagen, ein Gefühl, dass sie nicht einmal aus Kindheitstagen kannte. Sie suchte und fand die umfangreiche Bibliothek des Hauses, die wahre Schätze an Wissen barg. Aber die Erfahrungen und Erkenntnisse Fremder befriedigten sie nicht auf Dauer.
Also streifte sie in der Hoffnung durch den Park, sich selbst, ihre Wünsche und Bedürfnisse wiederzufinden. Dieser war weiträumiger als gedacht. Sie setzte sich auf eine Bank am Seerosenteich und beobachtete die Frösche. Doch eine innere Unruhe ließ sie nicht lange verweilen. Eine fremde Welt schien sie zu rufen und ihr Geist suchte nach Nahrung.
Dann entdeckte sie einen kleinen Wald mit den unterschiedlichsten, heimischen Bäumen. Dicht daneben, auf einer naturbelassenen Wiese lag eine Frau mittleren Alters und schaute träumerisch in die Baumkronen. Allein ihr Anblick verbot eine Störung. Susanna fühlte plötzlich tiefe Ruhe in sich und gleichzeitig das Umherschwirren losgelöst kluger Gedanken. Diese ungewöhnliche Mischung, so als würden Traum und Wirklichkeit verschmelzen, war ihr aus früheren Zeiten bekannt, aber sie konnte es nicht festhalten.
Es dauerte fast ein Jahr, bis Susannas Körper das Gift der Medikamente ausgeschwemmt hatte und sie sich langsam mit ihrer neuen Umgebung ernsthaft auseinandersetzte. Vorsichtig suchte sie den Kontakt zu den anderen Insassen. Dabei stellte sie fest, dass diese nicht verrückt, sondern dem Leben in der alltäglichen Welt überdrüssig waren. Niemand vermisste den verbotenen Kontakt über Handys oder Computern zu anderen Menschen.
Dann lernte sie Felix kennen und fühlte sich gleich zu ihm hingezogen. In seinem äußeren Erscheinungsbild entsprach er der allgemeinen Vorstellung von einem erfolgreichen Frauenschwarm. Doch der Mann, kaum älter als Susanna, war sehr scheu und wortkarg. Gerade diese Eigenschaften weckten ihr Vertrauen. Mit Blendern, hochmütige Selbstdarstellern hatte Susanna zur Genüge Erfahrungen gemacht. So verliefen die ersten Begegnungen der beiden ohne ein Gespräch. Schweigend saßen sie nebeneinander und schauten auf den Teich mit Seerosen.
Langsam spürte die junge Frau wie sich die Felsbrocken aus Selbstverleugnung auflösten. Sie konnte die Tür zu ihrer eigenen Welt wieder sehen, doch fand den Schlüssel nicht, um diese zu öffnen. Ohne Worte schien Felix ihr Problem zu erkennen, sprach ihr kurz und ohne zu erwähnen, worum es ging, Mut zu. Beide sahen sich tief in die Augen. Da wusste Susanna plötzlich, dass sie nicht allein war.
Andere Menschen hielte sie für verrückt, doch diese dachten nie darüber nach, dass wenn man einen Stuhl verrückt, ein freier Platz entsteht, den jeder nach seiner Vorstellung füllen kann. Susanna hatte sich entschieden, diesen mit Besinnlichkeit, uneigennützigem Fühlen und ihrer Phantasie zu füllen. Ihre blitzgescheiten Gedanken durften tanzen, ohne sich an Regeln halten zu müssen. Ihrer Kreativität waren keine Grenzen gesetzt. Gleichzeitig wurde sie als vermeintlich Kranke vor der Oberflächlichkeit der Gesellschaft, der Jagd nach Erfolg, Konkurrenzkampf, den Ansprüchen anderer beschützt. Nun durfte sie ungezwungen glücklich sein.
Erst später erfuhr Susanna von Felix, dass in der Einrichtung ausschließlich Menschen untergebracht waren, die über einen sehr hohen Intelligenzquotienten verfügten. Und die Besucher der Insassen waren selten Familienangehörige sondern erfolgreiche Wissenschaftler. Diese schlichen sich durch eine geheimen Gang auf das Anwesen, um nicht von Fremden gesehen zu werden.
Überhaupt geschah auf dem Gelände vieles, was so gar nicht den Vorstellungen von einer psychiatrischen Einrichtung entsprach. In Gebäuden, die von außen wie baufällige Scheunen wirkten, versteckten sich Labore und ganze Forschungsstationen. Darin wurde munter, ohne Ansprüche experimentiert und getüftelt. Der Gruppe der Chemiker schloss sich Susanna an und stellte bald fest, dass diese Leute ganz ungewöhnliche Wege beschritten, die von der Lehrmeinung abwichen. Mit ihnen konnte sie spielerisch neue chemische Verbindungen testen, sich über erstaunliche Reaktionen der Elemente untereinander freuen und beinahe phantastische Erkenntnisse gewinnen. Dabei schrieb niemand den vermeintlich Kranken vor, womit sie sich beschäftigten, solange sie darauf achteten, dass nichts in die Luft flog.
Felix zeigte Susanna eines Tages ein, ebenfalls in einer Scheune verstecktes, riesiges Teleskop, mit dem er als Absolvent eines Astrophysik-Studiums das Weltall erforschte. In dem Raum befanden sich auch diverse, leistungsstarke Computer und andere hilfreiche Maschinen. Es war eine klare Nacht und der Blick in die Sterne faszinierte die junge Frau.
Beide lebten bald als Liebespaar zusammen in einem Zimmer. Etwas scheu, da in der Einrichtung nie über Geld gesprochen wurde, fragte Susanna ihren Liebsten eines Tages, woher die ganzen finanziellen Mittel stammten, die für die Ausstattung der Scheunen benötigt wurden. Lächelnd antwortete dieser, sie seien der Unterstützung der Besucher zu verdanken. Gern schlichen sich diese, wenn sie bei ihren Forschungen an einem toten Punkt angekommen waren, in die Herberge für psychisch Kranke, um sich Anregungen zu holen oder die Ergebnisse der Insassen in ihre Betrachtungen einzubinden. Manchmal übernahmen sie sogar einfach deren Erkenntnisse. Das alles geschah unter strenger Geheimhaltung und wurde großzügig entlohnt.
Dass dieses Vergehen unentdeckt blieb, wollte Susanna nicht glauben. In der Welt außerhalb dieses geschützten Areals herrschte ein unerbittlicher Konkurrenzkampf, der sich selbst vor Verleumdungen, Bespitzelung und Erpressung nicht scheute. Das wusste auch Felix, doch er versicherte ihr, dass schon seit mehr als hundert Jahren die Betreiber dieser Einrichtung einen sorgsam gehüteten Weg gefunden hatten, um eine Entdeckung zu verhindern. Lächelnd fügte er hinzu, dass wohl auch niemand glauben würde, Einsteins Relativität-Theorie könnte an diesem Heim für Irre seinen Ursprung gefunden haben.
Gerade dass die Welt nur für wirklich hielt, was die Menschen sehen, hören und fühlen konnten, schützt jene, die mit ihren Gedanken alle Grenzen sprengten und so das Unmögliche als Teil des Ganzen erkannten. Die Klügsten unter ihnen begriffen schnell, dass sie außerhalb des geschützten Areals nur die Möglichkeit hatten, ihre Gaben zu verleugnen oder sich von der Gesellschaft zu verabschieden. Als der ehemalige, sehr reiche Besitzer dieses Anwesens erkannte, dass sein hochbegabter Sohn todunglücklich wurde, wenn man von ihm verlangte, sich an sein Umfeld anzupassen, von den Leuten sogar für verrückt erklärt wurde, gründete er diese Einrichtung. Wie viele Erfindungen, tiefgreifende, wissenschaftliche Erkenntnisse und Nobelpreise dieser zu verdanken sind, bleibt ein Geheimnis.
Hier wohnen ausschließlich Menschen, die nicht nach Reichtum, Anerkennung oder Berühmtheit streben, sondern sich nur in ihrer eigenen Welt bewegen wollen, lieber sterben als sich zu verbiegen. Für manchen war es ein schwerer Weg und es bleibt wohl ein Vorrecht der Nachkommen vermögender Familien, hier leben zu dürfen. Aber manchmal holen die Betreiber dieser Einrichtung auch arme Menschen aus den psychiatrischen Kliniken, weil sie erkennen, dass diese nur einen abgeschirmten Ort brauchen, um ihre Begabung erfolgreich zu verwirklichen. Allerdings ist den Wenigsten hier bewusst, dass Fremde von ihren Gedanken, Erfindungen und Forschungsergebnissen profitieren. Es hat keine Bedeutung für sie.
Susanna wollte noch wissen, ob denn nie jemand versucht hatte zu verschwinden, in die normale Gesellschaft zurückzukehren. Felix nahm sie in den Arm und erklärte, dass dieser Ort kein Gefängnis sei. Der Schlüssel zum großen Tor zwischen den Mauern war jedem zugänglich. In den 10 Jahren, die er bereits dort wohnte, sei nur ein Insasse gegangen und sehr schnell wieder zurückgekehrt. Egal, was er versucht hatte, um draußen wieder Fuß zu fassen, scheiterte er an der Ungläubigkeit der Menschen. Als Verrücktem drohte ihm sogar die Einweisung in eine Psychiatrie.
Einige Tage später sah Susanna erneut die Frau mittleren Alters auf der naturbelassenen Wiese liegen und verträumt in die Baumwipfel schauen. Nun wusste sie, dass diese mittellose Person einst in einem Irrenhaus weggesperrt war, vorher Meteorologie studiert hatte und ihre ungewöhnlichen Erkenntnisse über den Einfluss von Bäumen auf das Klima mittlerweile weltweit Beachtung fanden. Dass sich damit eine fremde Person schmückte, verlor angesichts dieses Bildes voll tiefem Frieden an Bedeutung. Gelegentlich glitt ein Lächeln über das Gesicht der Frau und Susanna wusste, dass auch diese sich in ihrer eigenen Welt bewegte.
Sie verstand, dass viele Eindrücke der Sehenden für Blinde verrückt anmuteten. Die Welt ließ sich nicht allein durch Logik oder wissenschaftliche Beweise erfassen, sondern es bedurfte auch des Blickes für das Phantastische, Unerklärliche, träumerischer Gedanken, die sich schrankenlos mit den Geheimissen des Seins verbanden. Susanna hatte zu sich selbst zurückgefunden.
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Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Christiane Mielck-Retzdorff).
Der Beitrag wurde von Christiane Mielck-Retzdorff auf e-Stories.de eingesendet.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.04.2018.
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