Heinz-Walter Hoetter

Die kleine Geschichte vom Geheimnis des Feuers

Eine junge Motte dachte darüber nach, was denn das Geheimnis der Erleuchtung sei. Doch sie konnte dieses Geheimnis nicht lüften und ging deshalb zu einer uralten Motte, von der sie wusste, dass sie sehr klug und weise war. Von ihr erhoffte sie sich die richtige Antwort.

Die betagte Motte saß in einer dunklen Ecke eines morschen Kleiderschrankes und schlief gerade, als die junge Motte vorsichtig an sie heran trat. In diesem Moment wachte die Alte auf uns blickte zu ihr hinüber.

„Was gibt es Wichtiges, dass du meine Ruhe störst?“ krächzte sie und machte dabei eine ziemlich böse Miene.

„Ich bitte um Entschuldigung, große Meisterin! Aber ich habe ein Anliegen, das ich dir vortragen möchte. Nun, ich denke schon die ganze Zeit darüber nach, was das Geheimnis der Erleuchtung ist. Aber ich komme einfach nicht drauf. Deshalb habe ich mich dazu entschlossen, dich zu befragen, weil du klug und weise bist.“

Das runzelige Gesicht der alten Motte erhellte sich ein wenig. Sie deutete mit dem rechten Flügel auf einen freien Platz direkt vor ihr und sagte schließlich mit sanfter Stimme: „Dann komm und setze dich zu mir. Ich werde dir die kleine Geschichte vom Geheimnis des Feuers erzählen. Also hör’ gut zu!“

Die junge Motte nahm Platz und war darauf gespannt, was sie wohl zu Ohren bekommen würde. Eine Weile war es ganz still in dem morschen Kleiderschrank. Dann begann die Meisterin zu erzählen.

Als ich noch so jung war wie du, kamen einmal alle Motten zusammen, um über das Geheimnis des Feuers zu sprechen. Es wurde viel diskutiert und noch mehr Reden gehalten. Aber nach all ihren Vorträgen mussten sie am Ende erkennen, dass sie dem Rätsel, nämlich der Sehnsucht der Motten nach dem Licht, keinen Schritt näher gekommen waren. Trotzdem wollten sie nicht aufgeben, denn es erschien ihnen wichtig, was sich hinter diesem Geheimnis verbarg. Da meldete sich ein junges Mottenmännchen zu Wort und machte den Vorschlag, man solle doch einfach mal einen Kundschafter ausschicken, um herauszubekommen, wie nah man dem Geheimnis des Feuers kommen könne, um eine Antwort zu erhalten. Denn, so sagte das Mottenmännchen, je näher man dem Licht käme, umso klarer würde die Erkenntnis ausfallen, was es mit dem Geheimnis auf sich hat.

Alle anderen Motten waren von diesem Vorschlag begeistert. Sofort suchten sie nach einer Motte, die besonders kühn und mutig war. Bald war eine gefunden. Noch am gleichen Abend flog sie los und entdeckte schon bald auf einem freien Platz ein großes Holzfeuer, das lichterloh brannte und die Umgebung hell erleuchtete.

Mutig näherte sich die Motte dem Wunder und umflog die leuchtende Erscheinung von allen Seiten. Sie wagte sich immer näher an das Geheimnis heran, näher als je zuvor in ihrem Leben. Bald war sie so nah am Feuer, dass ihre Flügel versengt wurden und fast zu brennen anfingen. Aus Angst um ihr Leben flog sie wieder zurück und berichtete den anderen Motten davon, was sie erlebt hatte. Das Ergebnis war nicht zufrieden stellend. Deshalb schickten sie eine zweite Motto los, die noch mutiger und noch kühner war als die erste. Auch sie flog los und stieß bald auf eine brennende Öllampe vor dem Eingang einer einsamen Holzhütte am Fuße eines großen Berges.

Die zweite Kundschaftermotte umkreiste zuerst die Öllampe von allen Seiten. Sie flog mal rauf und mal runter oder beobachtete das Wunder des Lichts aus sicherer Entfernung. Dann näherte sie sich schließlich dem grellen Leuchten. Je kürzer der Abstand zu dem Licht wurde, desto größer wurde die Sehnsucht, noch näher heranzufliegen. Immer mächtiger wurde der Drang. Schon fing die Motte an zu taumeln. Ihre Sinne schwanden und fast wäre sie in die heiße Öllampe hineingefallen, wenn sie sich nicht im letzten Augenblick zusammengerissen hätte und davon geflogen wäre.

Aber auch sie konnte den wartenden Motten nichts Neues mitteilen. Das Geheimnis blieb ein Geheimnis. Das Rätsel wurde nicht gelöst.

Als sie die Nachricht von dem missglückten Versuch hörten, ließen die meisten Motten ihre Fühler hängen. Das große Geheimnis des Feuers und des Lichts würden sie wohl nie lüften können.

Nach einer bedrückenden Pause meldete sich wieder das jungen Mottenmännchen zu Wort. Es machte einen weiteren Vorschlag.

„Es gibt nur einen Weg, um das Geheimnis zu lüften“, rief er der staunenden Mottengesellschaft zu und fuhr fort: „Ich selbst werde in das Geheimnis hineinfliegen, um endlich dahinter zu kommen, welche Wahrheit sich darin verbirgt. Wir werden sehen, was sich ergibt.“

Die ganze Mottenversammlung raunte, als sie das hörten. Viele waren allerdings sehr skeptisch, aber wenn es doch noch einen Weg geben sollte, das große Geheimnis zu enträtseln, so wollten sie den letzten Versuch nicht verhindern.

In einer dunklen Nacht folgten alle Motten dem todesmutigen Mottenmännchen so lange, bis dieser vor dem Eingang einer großen Burg eine brennende Fackel entdeckte. Mit kraftvollen Flügelschlägen flog er immer schneller auf das gleißend helle Licht zu und kam es bald bedrohlich nahe. Die anderen Motten blieben zurück und beobachteten gespannt seinen Flug, als er sich in einem eleganten Bogen mit weit ausgebreiteten Flügeln in das Herz der lodernden Flamme stürzte.

Einen kurzen Augenblick lang war er noch zu sehen. Dann umhüllten ihn die züngelnden Flammen der Fackel und ließen seinen kleinen Mottenkörper für den Bruchteil einer Sekunde in einem strahlenden Glanz aufleuchten, ein Glanz, der heller als das übrige Licht war. Im nächsten Moment entschwand er den staunenden Blicken der wartenden Mottengesellschaft, als hätte er sich ins Nichts aufgelöst.

Dann rief plötzlich einer mit lauter Stimme: „Er ist mit dem Geheimnis eins geworden. Nur er kennt jetzt die Wahrheit, die sich im Innern des Geheimnisses verbirgt. So ist es geschehen. Wer einmal in das Geheimnis eingetreten ist, der kommt nicht wieder zurück. Er musste sein Leben opfern, damit er für sich das Rätsel lösen konnte. Jetzt kennt er alle Fragen und Antworten zugleich.“


Die alte Motte räusperte sich ein wenig, als sie mit der kleinen Geschichte fertig war. Dann zog sie sich so weit in die dunkle Ecke des morschen Kleiderschrankes zurück, sodass sie fast nicht mehr zu sehen war.

Nur ihre krächzende Stimme war noch zu hören, als sie sagte: „Es steht jedem frei von uns, es ihm gleich zu tun. Wer will, der kann ihm folgen, wenn er meint, dass er reif für die Lösung des Rätsels ist, um das Innere des Geheimnisses kennen zu lernen.“

Noch lange blieb die junge Motte still und nachdenklich auf ihrem Platz sitzen. Erst als es draußen Nacht geworden war, flog sie hinaus in die Dunkelheit, um nach einem hellen Licht zu suchen.


ENDE

(c)Heinz-Walter Hoetter

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.05.2018. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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