Heinz-Walter Hoetter

Die Geschichte der Miss Elli Flint

Miss Flint, ich möchte Sie nur ungern stören, aber kommen Sie doch bitte einmal ganz schnell zu mir herüber.“

 

Die junge Sekretärin stutzte kurz, ließ die angefangene Arbeit liegen und starrte auf das blinkende Licht der kleinen Sprechanlage. Die plärrende Stimme war nicht von ihrem Chef Mr. Kelvin Stone gekommen, sondern von dessen jüngerem Bruder Michael Stone, der als Notar die große Anwaltskanzlei mit ihm teilte.

 

Am gegenüberliegenden Schreibtisch saß Rose Brake und sah mit skeptischem Blick zu ihre Freundin Elli rüber.

 

Was will denn der kleine Dicke von dir?“ fragte sie spöttisch.

 

Wenn ich das nur wüsste. Ausgerechnet jetzt, fünf Minuten vor Feierabend, ruft er nach mir. Mal sehen, was er diesmal von mir schon wieder möchte“, sagte Miss Elli Flint missmutig und warf ein zerknülltes Blatt Papier wütend in den Papierkorb.

 

Mr. Michael Stone war um die fünfundfünfzig Jahre alt und ein ziemlich korpulenter Mann.

 

Komisch“, räusperte sich Rose Blake wieder, „Eigentlich ist es nicht üblich, dass er von seinem Bruder Arbeitskräfte anfordert“, fuhr sie fort und zog die Augenbrauen dabei hoch.

 

Tja, ich weiß es auch nicht. Vielleicht will er heute noch mit mir zum Essen gehen“, sagte die junge Frau mit gekünstelter Verlegenheit und schaltete den Computer aus. Ihr Ärger hatte sich wieder gelegt. „Aber seine Stimme hat irgendwie seltsam geklungen. Nicht so wie sonst“, sagte sie und blickte ihre Freundin Rose dabei etwas nachdenklich an.

 

Die verzog ihr Gesicht zu einer fies aussehenden Grimasse.

 

Bei dem dicken Schwerenöter ist alles möglich. Lass’ dich bloß nicht von ihm breit treten! Sag’ ihm einfach, du hättest heute keine Zeit und müsstest noch nach der Arbeit deiner kranken Mutter dringend einen Besuch abstatten.“

 

Noch hat er ja nichts zu mir gesagt. Ich geh’ jetzt erst mal rein zu ihm und mach mich mal schlau, was er von mir will“, sagte die hübsche Sekretärin mit den langen blonden Haaren schnippisch, erhob sich, strich ihre Kleider glatt und ging langsam auf das Büro von Mr. Michael Stone zu.

 

...und ich mach’ mich schon mal auf den Nachhauseweg“, rief Rose ihr noch nach, „wer weiß, wie lange das bei dir heute noch dauern wird. Also tschüss meine Gute! Wir sehen uns dann vielleicht später...“

 

Die beiden jungen Frauen bewohnten eine gemeinsame Wohnung ganz in der Nähe der Kanzlei.

 

Miss Elli Flint ging mit gemischten Gefühlen auf das schicke Büro des Notars zu. Sie klopfte behutsam an die Tür, die sich kurz darauf summend öffnete.

 

Da sind Sie ja endlich, Miss Flint. Ich habe schon auf Sie gewartet. Kommen Sie herein!“

 

Michael Stone saß hinter seinem wuchtigen Schreibtisch in einem schwarzen Lederstuhl und legte gerade eine schmale Akte auf seinen Schreibtisch zurück. Er wirkte wie ein dicker Buddha auf die junge Sekretärin, die jetzt brav mitten im Büro stehen geblieben war und darauf wartete, was Mr. Stone ihr zu sagen hatte.

 

Die kleinen, verschmitzten Augen des korpulenten Notars schienen über ihre ganze Figur zu wandern. Plötzlich ging ein Ruck durch seinen massigen Körper, als hätte ihn jemand mit einer Stecknadel in den Allerwertesten gestochen.

 

Äh..., entschuldigen Sie, Miss Flint, aber nehmen Sie doch bitte Platz“, sagte er auf einmal mit überaus freundlicher Stimme und wies mit seiner rechten Hand auf den Stuhl ihm gegenüber. Nachdem sich die junge Sekretärin gesetzt hatte, nahm der Notar ein großes weißes Kuvert aus der schmalen Akte, öffnete den Umschlag vorsichtig mit einem verchromten Brieföffner und faltete das herausgenommene Blatt Papier umständlich auseinander. Es dauerte eine Weile, bis er es durchgelesen hatte.

 

Dann platzte es ohne Vorwarnung aus ihm heraus.

 

Ihr Onkel ist vor etwa zwei Wochen gestorben, Miss Flint. Mein Bruder hat mich gebeten, Ihnen diese traurige Nachricht zu überbringen.“

 

Die junge Sekretären schüttelte mit dem Kopf.

 

Hier muss ein Irrtum vorliegen, Mr. Stone. Ich habe doch gar keinen Onkel“, sagte sie verwundert.

 

Der Notar setzte eine überraschte Mine auf und lächelte leicht gequält.

 

Nun ja, hier in diesem Schreiben vom Nachlassgericht steht, dass ihr Vater noch einen Bruder hatte. Wussten Sie das denn nicht?“

 

Mein Vater ist schon lange tot. Er starb, als ich noch ein Kind war und Mutter hat mir nie etwas davon erzählt, dass er noch einen Bruder hatte.“

 

Wie auch immer, Miss Flint, die Sache verhält sich jedenfalls so, dass der Kontakt zwischen den beiden Brüdern, also Ihrem Vater Steven Flint und seinem Bruder Lionel Flint, bereits sehr früh abbrach, genau genommen nach der Hochzeit Ihrer Mutter mit Ihrem Vater. Es muss zwischen den beiden Brüdern damals einen schrecklichen Streit gegeben haben. Anscheinend liebten sie die gleiche Frau, nur das Lionel dabei den Kürzeren zog. Es kam schließlich zum endgültigen Bruch zwischen ihnen, als Sie geboren wurden. Sie können sich denken, dass es damals einige böse Gerüchte gab, die kurz nach Ihrer Geburt in Umlauf waren, was die Vaterschaft anbelangte. Nun, als Notar möchte ich mich nicht näher mit der Vergangenheit Ihrer Familie beschäftigen, sondern Ihnen nur pflichtgemäß mitteilen, dass Ihr Onkel Lionel Flint, bevor er starb, Sie als Universalerbin eingesetzt hat.“

 

Ich wurde von meinem Onkel als Universalerbin eingesetzt?“ fragte die junge Frau fassungslos und schüttelte ungläubig den Kopf.

 

Tja, liebe Miss Flint, so ist es. Eine ziemlich große Überraschung für Sie, nicht wahr? Aber das Dokument hier in meiner Hand lügt nicht. Wir haben zwar viel mit Erbschaftsangelegenheiten zu tun, aber es ist das erste Mal, dass eine Angestellte unserer Anwaltspraxis selbst die glückliche Erbin ist. Ich kann Sie nur noch herzlich dazu beglückwünschen.“

 

Die junge Frau wollte ihr Glück nicht wahrhaben. Nervös strich sie sich mehrmals hintereinander durch die langen blonden Haare und konnte sich nur schwer zusammenreißen.

 

Was habe ich denn geerbt“, fragte Elli Flint erwartungsvoll den Notar, der sich im Moment intensiv mit den Unterlagen beschäftigte.

 

Wie bitte? Ach ja, ich habe hier ein Foto vom Anwesen Ihres verstorbenen Onkels. Dazu gehört noch ein ziemlich umfangreicher Grundbesitz und ein beträchtliches Barvermögen, etwa zwei Millionen Pfund, über das Sie ab sofort verfügen können, sobald Sie die Dokumente in meinem Beisein unterzeichnet haben, Miss Flint“, antwortete Mr. Stone lächelnd.

 

Der jungen Frau wurde fast schwindlig bei dieser Summe. Dann blickte sie interessiert auf das große Foto. Es zeigte ein sehr großes, vornehm aussehendes Wohnhaus, das mit viel Efeu dicht bewachsen war. Im Hintergrund konnte man einige langgestreckte Gebäude erkennen, die mehr wie eine Fabrik aussahen. Ganz rechts im Bild waren mehrere Schornsteine zu erkennen.

 

Was sind das für Gebäude, Mr. Stone?“

 

Das wollte ich Ihnen gerade erklären, Miss Flint. Die Gebäude im Hintergrund waren einmal eine große Brauerei. Leider stehen sie schon lange leer. Das Wohnhaus im Vordergrund war einmal ein dazugehöriges Gasthaus. Ihr Onkel hat es vor vielen Jahren umbauen lassen und wohnte bis zu seinem Tod selbst darin. Dann gibt es da noch eine gewisse Mrs. Weedman mit ihrem Sohn Mark. Den beiden hat ihr Onkel Wohnrecht auf Lebenszeit eingeräumt. Ferner gibt es noch ein Dienstmädchen namens Betty Mills. Ein blutjunges Ding aus dem nächsten Ort. Sie müssen natürlich selbst entscheiden, ob sie das Personal behalten wollen oder nicht.“

 

Puh, Dienstpersonal. Ich kann es einfach nicht glauben“, stöhnte die junge Neuerbin und rollte mit den Augen.

 

Der Notar lachte plötzlich laut los. Dann erklärte er ihr noch einige Dinge und riet ihr dann, bei seinem Bruder um Urlaub nachzusuchen, damit sie ihr Erbe sobald wie möglich in Augenschein nehmen konnte. Andererseits würde sie natürlich auch kündigen können, was bei dem Vermögen jederzeit möglich ist und Geldprobleme jetzt bei ihr wohl keine Rolle mehr spielen würden.

 

Von dem Geld können Sie sich jetzt eine schöne Menge leisten, auch ein ganzes Spukschloss inklusive Poltergeist, der seinen Kopf unterm Arm trägt und in der Nacht mit seinem Geheule die Leute aus dem Schlaf reißt“, lachte Mr. Stone schallend.

 

Die junge Frau lachte mit. Sie war auf einmal wie ausgewechselt und dachte nur noch daran, so schnell wie möglich ihr Erbe anzutreten. Dann verabschiedete sie sich von Mr. Stone, nachdem er ihr eine größere Summe Bargeld ausgehändigt hatte, mit dem Hinweis darauf, dass das restliche Barvermögen sicher auf einem Geheimkonto einer bekannten Bank liegen würde. Er übergab ihr noch einen versiegelten Umschlag mit allen notwendigen Zugangsdaten für das Konto und ein paar andere wichtige Unterlagen diverser Versicherungspapiere ihres verstorbenen Onkels, um die sie sich noch kümmern müsste. Danach verließ Miss Elli Flint das Büro des Notars und machte sich auf den Weg nach Hause.

 

Draußen war mittlerweile die Nacht hereingebrochen. Wie eine Schlafwandlerin ging die junge Frau durch die hell erleuchteten Straßen. Hin und wieder blieb sie stehen, sah sich verstohlen um, griff nach dem gebündelten Geld in der Tasche und tastete es ab, um sich zu vergewissern, dass alles kein Traum war. Nein, die Erbschaft ihres unbekannten Onkels war Realität. Sie ließ die Geldbündel wieder los, zog den Reißverschluss der Tasche zu und während sie langsam weiterging, ließ sie sich dabei noch einmal alles durch den Kopf gehen. In Gedanken malte sie sich die Zukunft in den schillerndsten Farben aus. Außerdem dachte sie darüber nach, wann sie das geerbte Anwesen ihres verstorbenen Onkels besuchen sollte. Sie wollte es auf jeden Fall so schnell wie möglich kennen lernen. Das galt auch fürs Personal.

 

***

 

Für die Fahrt von Alloa nach Blairhall hatte sich Miss Elli Flint keinen schönen Tag ausgesucht. Der Himmel war wolkenverhangen und es regnete etwas. Die ganze Landschaft vor ihr war in dichten Nebel gehüllt. Schon jetzt bedauerte es die junge Frau, die Reise so schnell angetreten zu haben und dass sie von der Gegend, durch die sie noch nie gefahren war, überhaupt nicht zu sehen bekam. Alle war grau in grau, nur die kurvenreiche Straße, mit ihrer nass glänzenden Fahrbahndecke, hob sich etwas dunkler hervor.

 

Der Nebel wurde noch dichter. Die junge Frau schaltete das Scheinwerferlicht ein und starrte angestrengt durch die Frontscheibe ihres Aston Martins. Sie fuhr durch Ortschaften, die wie ausgestorben dalagen und in deren düster aussehenden Häusern kein einziges menschliches Wesen zu leben schien. Elli Flint wäre am liebsten in einem Gasthof abgestiegen, um dort die kommende Nacht zu verbringen. Aber weit und breit entdeckte sie keinen.

 

Die regennasse Straße, auf der sie fuhr, war eng und schmal. Der Straßenkarte nach konnte es keine Bundesstraße sein und Elli Flint wunderte sich darüber, warum ihr das nicht schon früher aufgefallen war. Bei der nächsten Gelegenheit fuhr sie rechts an den Straßenrand, holte die Straßenkarte aus dem Handschuhfach, faltete sie umständlich auseinander und suchte nach der angegebenen Landstraße. Leider musste sie sehr schnell feststellen, dass sie mit der Karte nichts anfangen konnte, weil sie überhaupt nicht wusste, wo sie sich befand. Sie ärgerte sich darüber, ließ die Karte geöffnet auf dem Beifahrersitz liegen und fuhr mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend weiter. Sie konnte nur hoffen, dass die eingeschlagene Richtung stimmte.

 

Ganz plötzlich tauchte im Nebel eine Straßengabelung auf. Aber es waren keine Wegweiser zu erkennen, die auf die nächste Ortschaft hingedeutet hätten. Zu dicht war die Waschküche.

 

Die junge Frau trat auf die Bremse und blieb mitten auf der Straße mit ihrem Aston Martin stehen. Was nun? Sollte sie nun rechts oder links abbiegen? Keine der beiden abzweigenden Straßen sahen verlockend aus. Schlimmer noch. Unter den vorbeiziehenden Nebelschwaden konnte Elli Flint riesige Schlaglöcher erkennen, was ihre Entscheidung, irgendeine Richtung einzuschlagen, noch zusätzlich erschwerte.

 

Mit zweifelndem Blick starrte sie unschlüssig in den dichten Nebel, als hoffte sie darauf, in den gespenstisch aussehenden Dampfschwaden eine geheimnisvolle Botschaft zu lesen, die ihr die Richtung vorgab. Schließlich warf sie noch einmal einen Blick auf die Straßenkarte. Doch nirgendwo konnte sie im ganzen Umkreis eine Straße erkennen, die eine V-förmige Abzweigung besaß.

 

Trotz des laufenden Motors und eingeschalteter Heizung kroch eine unangenehme Kälte in Elli Flint hoch. Schlagartig wurde ihr zudem bewusst, dass sie mit ihrem Wagen mitten auf der Straße stand und verwundert feststellen musste, dass ihr schon seit längerer Zeit kein anderes Fahrzeug mehr entgegen gekommen war. In welcher gottverlassenen Gegend habe ich mich bloß verirrt, dachte sie ängstlich und setzte den Aston Martin vorsichtig wieder in Bewegung.

 

Dann, mit einem harten plötzlichen Ruck, lenkte sie ihren Wagen nach links in jenen Weg hinein, von dem sie glaubte, eher an ihr Ziel zu kommen. Es war eine Entscheidung der inneren Stimme, der sie spontan nachgegeben hatte. Doch schon bald wich ihre anfängliche Zuversicht einer steigenden Mutlosigkeit, weil der feste Asphaltbelag durch eine lockeren Schotterschicht ersetzt wurde. Steine schleuderten hoch und schlugen hart gegen den Wagenboden. Die junge Frau bremste den Wagen etwas ab und fragte sich ängstlich, ob sie doch lieber wieder umkehren sollte. Aber den ganzen einsamen Weg zurückfahren? Das kam für sie nicht in frage. Außerdem hätte sie mit ihrem schweren Aston Martin sowieso nirgendwo wenden können. Also fuhr sie einfach weiter.

 

Langsam schob sich der Mond über den nächtlichen Himmel. Er war ihr vorher gar nicht aufgefallen. Nur kurz erhellte er mit seinem milchig weißen Schein die mit Nebelschwaden durchsetzte Landschaft, dann krochen wieder geisterhafte Wolkenfetzen über ihn hinweg.

 

Elli Flint starrte durch die trübe Frontscheibe, die mit feinen Wassertropfen überzogen war. Die junge Frau schaltete die Scheibenwischer ein und folgte den vorauseilenden Lichtfingern der sich zitternd in die Dunkelheit tastenden Scheinwerfer ihres dahin rauschenden Fahrzeuges.

 

Plötzlich nahm die junge Frau etwas gewahr.

 

Angestrengt blickte sie nach vorn und im nächsten Moment wurde ihr heiß und kalt bei dem, was sie nur schemenhaft erkennen konnte.

 

Es waren entweder die Reste eines alten Castells oder auch nur die eines eingefallenen Getreidesilos. Sie konnte es nicht eindeutig sagen. Das einzige, was sie wusste, war die Tatsache, dass sie schon einmal hier vorbeigekommen war, allerdings von der anderen Richtung her.

Elli Flint stöhnte, stoppte ihren Wagen und ließ das elektrische Fahrerfenster herunter, um besser sehen zu können.

 

Das darf doch alles nicht wahr sein oder stelle ich mich nur so ungeschickt an“, kam es ihr halblaut über die Lippen, dann schloss sie das Fenster wieder und setzte die Fahrt langsam fort.

 

Plötzlich sah sie auf der rechten Seite mehrere Lichter durch das dichte Blätterwerk schimmern. Anscheinend gab es hier noch andere Gebäude ganz in der Nähe.

 

Aber anstatt erleichtert darüber zu sein, überkam der jungen Frau eine unerklärliche Angst. Schon wollte sie den Wagen beschleunigen, als sie einen steinigen Fahrweg bemerkte, der von der Schotterstraße abging und direkt zu den Lichtern hinüberführte.

 

Miss Elli Flint bremste den Aston Martin sofort hart ab und erblickte im gleichen Moment direkt gegenüber ein altes Holzschild am Wegrand mit der Aufschrift: Brauerei Lionel Flint.

 

Ich kann es einfach nicht glauben. Ich hab mein Ziel tatsächlich erreicht, dachte die junge Frau so für sich und fuhr langsam an der alten Holztafel vorbei in Richtung der Gebäude, durch deren Fenster Licht schimmerte. Doch merkwürdigerweise war sie gar nicht so froh darüber und am liebsten wäre sie wieder auf der Stelle umgekehrt. Dennoch setzte sie ihre Fahrt konsequent fort, obwohl das Haus, auf dem sie jetzt direkt zusteuerte, einen ziemlich düsteren Eindruck auf sie machte.

 

Sie parkte den Aston Martin im Hof, stieg aus und ging die Treppen zur Haustür hinauf. Dann drückte sie die Klingel, die sich gleich rechts daneben an der Wand befand und von Efeublättern überwachsen war.

 

Zweimal drückte sie auf den Knopf.

 

Gerade als sie ein drittes Mal drücken wollte, gab es einen ziemlichen dumpfen Schlag, der durch das ganze Wohnhaus hallte und im selben Augenblick erloschen die Lichter in den angrenzenden Nebengebäuden. Elli Flint erschrak etwas, fragte sich mit Befremden, was hier eigentlich los sei und was es mit dem dumpfen Geräusch auf sich hatte. Hatte Mr. Stone nicht gesagt, die Brauerei wäre nicht mehr in Betrieb?

 

Hallo, ist jemand zu Hause?“ rief sie ungeduldig, als sie bereits zum vierten Mal auf den Klingelknopf gedrückt hatte.

 

Ich bin Miss Elli Flint und komme wegen der Erbschaft. Ist hier denn niemand?“

 

Plötzlich hörte sie leise Schritte. Die junge Frau hatte den Eindruck, als stünde jemand hinter der schweren Tür. Fast glaubte sie, das Atmen eines Menschen zu hören. Sie trat noch näher heran und rief noch einmal.

 

Endlich öffnete sich die Tür und eine hagere alte Frau mit einem hässlichen, Falten überzogenen Krähengesicht erschien auf der Bildfläche. Sie stand da, mitten zwischen Tür und Angel und musterte Elli Flint mit Hass erfülltem Blick.

 

Die junge Frau wich ängstlich zurück.

 

Guten Abend. Sie müssen Mrs. Weedman sein, nicht wahr? Ich heiße Elli Flint und bin die Nichte meines verstorbenen Onkel Lionel Flints. Ich bin gekommen, um mein Erbe anzutreten. Mr. Stone, der Notar, hat Sie sicher schon davon in Kenntnis gesetzt, Mrs. Weedman.“

 

Sie sind Miss Flint? Das kann doch jeder behaupten“, stieß die ältere Frau hervor. „Sie sollen das hier alles geerbt haben? Das ich nicht lache!“ schrie die Alte krächzend und trat einen Schritt vor, sodass sie dicht vor der jungen Frau stand.

 

Höre Sie mal gut zu, Sie junges, unerfahrenes Ding. Es gibt keine Erben, keine Erben außer uns. Verschwinden Sie lieber sofort von dem Grundstück, bevor ich die Hunde auf Sie loslasse.“

 

Mit diesen Worten schlug Mrs. Weedman die Haustür zu, schloss sie zweimal ab und schaltete das Hoflicht aus. Elli Flint stand im dunkeln.

 

Eine ohnmächtige Wut schüttelte sie. Was dachte sich diese Person eigentlich dabei, mich einfach von meinem eigenen Besitz zu jagen? Ausgesperrt im eigenen Haus? Und Hunde gab es hier offenbar auch keine. Sie hätten schon langst angeschlagen.

 

Sie klingelte noch ein paar Mal – aus Trotz, was aber nichts brachte. Vielmehr gingen im Wohnhaus überall die Lichter aus. Dann war es überall totenstill.

 

Schließlich ging Miss Flint zu ihrem Auto zurück, setzte sich hinters Lenkrad und dachte darüber nach, was sie in dieser absurden Situation tun sollte. Die Nacht gedachte sie jedenfalls hier zu verbringen, ganz gleich, was auch immer geschieht. Nach einer Weile startete sie den Motor ihres Wagens und verschwand in der schützenden Dunkelheit.

 

***

 

Der leichte Regen hatte nachgelassen. Auch der Nebel verzog sich langsam und der bleiche Mond erschien über den hohen Wipfeln der Laubbäume. Er spendete gerade so viel Licht, wie Miss Flint für ihre nächtliche Entdeckungsreise benötigte. Trotzdem nahm sie die Taschenlampe aus dem Handschuhfach und verstaute sie in ihrer ledernen Hängetasche. Den Aston Martin hatte sie im hinteren Teil des Hofes geparkt und war dann direkt hinüber zu den alten Brauereigebäuden gegangen. Jetzt stand sie vor einer der schweren Betriebstore, die mit wuchtigen Eisenriegeln und mehreren Schlössern gesichert waren. Alle Tore waren so verriegelt worden.

 

Merkwürdig, dachte sich die junge Frau, was mochte sich in dem verlassenen Brauereigebäude befinden, dass man die Eingänge so sorgfältig verschloss?

 

Ein schlürfendes Geräusch ließ sie plötzlich zusammenfahren. Ängstlich drückte sie sich in eine dunkle Nische. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Kalter Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn. Sie hatte das seltsame Gefühl, dass jemand ganz in der Nähe herumlief. Elli Flint lauschte atemlos in die Dunkelheit hinein.

 

Das Geräusch von schleichenden Schritten schien ganz deutlich vom Hof zu kommen, der vom Mondlicht nur vage erhellt wurde. Die junge Frau wusste nicht, ob sie schon entdeckt worden war, obwohl sie sich in der Mauernische ziemlich sicher fand. Außerdem schoben sich gerade wieder ein paar große Wolkenfetzen vor die helle Mondscheibe, die sein Licht verdüsterten.

 

Da.

 

Eine schattenhafte Gestalt schlich lautlos über den gepflasterten Hof.

 

Elli Flint hielt den Atem an.

 

Was hatte das zu bedeuten? Wer vom Personal würde sich so seltsam benehmen oder wurde sie gerade Zeugin eines Einbruchs?

 

Doch dann erkannte die junge Frau mit Entsetzen, dass die Gestalt zu ihrem Aston Martin hinüber huschte, der sich durch seine Form und seiner hellen Farbe deutlich vom Hintergrund abhob.

 

Auf gar keinen Fall konnte sie es zulassen, dass jemand versuchte, ihr Auto zu stehlen, sonst würde sie ohne Papiere und ohne einen Cent dastehen.

 

Dieser schreckliche Gedanke versetzte Miss Flint in helle Panik. Sie vergaß alle Vorsicht. Gerade in dem Moment, als die dunkle Gestalt im Begriff war, die Autotür zu öffnen, verließ sie ihr Versteck, rannte laut schreiend mit fuchtelnden Armen auf ihren Wagen zu und blieb erst dann wieder stehen, als sie ihn fast schon erreicht hatte.

 

Der Unbekannte drehte sich erschrocken um, hob sofort schützend beide Hände vors Gesicht und floh in dieser Haltung mit einem gurgelnden Laut in ein nah gelegenes Wäldchen, das gleich hinter dem Anwesen lag. Dann war er im Unterholz verschwunden.

 

Miss Flint setzte sich sofort hinters Lenkrad und verriegelt alle Türen von innen. Ein unheimliches Gefühl beschlich sie wieder, während ihre Augen die düstere Fassade des Wohnhauses absuchte, das ihr jetzt nicht mehr so einladend aussah, wie auf dem Foto in der Anwaltskanzlei. Vielmehr wirkte es abweisend, feindselig und bedrohlich auf sie. Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als sie daran dachte, hier möglicherweise wohnen zu wollen, was sie sich wegen der seltsamen Ereignisse seit ihrer Ankunft jetzt sowieso nicht mehr vorstellen konnte.

 

Die junge Frau kam sich entsetzlich einsam und verlassen vor. Sie startete den Motor ihres Aston Martin und drehte die Heizung voll auf. Sie fror und zitterte am ganzen Körper und es dauerte eine Weile, bis das Heizgebläse den Innenraum ihres Fahrzeuges mit einer wohligen Wärme ausgefüllt hatte. Außerdem war sie hungrig und müde und sehnte sich nach einem behaglichen Zimmer mit einem bequemen Bett.

 

Sie dachte an all die unerfreulichen Dinge, die ihr bisher widerfahren waren. Offenbar war sie nicht willkommen gewesen und nachdem man festgestellt hatte, dass sie sich immer noch auf dem Gelände der Brauerei befand, wollte man sie wohl auf andere Art und Weise beseitigen. Trachtete man ihr sogar nach dem Leben? Diese Gefahr spürte Elli Flint wie ihre eigene Haut. Angst stieg in ihr hoch. Was aber sollte sie tun? Die Flucht ergreifen und wieder wegfahren? Sie würde sich in dieser Gegen sowieso nur hoffnungslos verirren. Es machte also keinen Sinn, da draußen in der Nacht herumzufahren. Lieber wollte sie den Morgen abwarten und dann noch einmal versuchen, ins Haus zu gelangen und die alte Mrs. Weedman davon zu überzeugen, dass sie die rechtmäßige Erbin war und ein Anspruch darauf hatte, das Erbe mitsamt den Liegenschaften auch in Augenschein nehmen zu dürfen. Vielleicht sollte ich sogar die Polizei einschalten oder sich umgehend mit Mr. Michael Stone in Verbindung setzen, damit die gesamte Angelegenheit vor Ort ein für allemal geklärt werden konnte, dachte die junge Frau.

 

Aber vielleicht war Mrs. Weedman allen nächtlichen Besuchern gegenüber misstrauisch. Dagegen sprachen jedoch ihre Worte, dass es keine Erben gebe, außer ihr? Dass ihr Onkel Lionel Flint allein nur ihr die alte Brauerei samt Barvermögen vererbte hatte, musste sie doch längst von Mr. Stone erfahren haben. Sie wurde bestimmt rechtzeitig darüber informiert.

 

Im Wageninnern wurde die Luft jetzt unerträglich warm. Miss Elli Flint kurbelte das Seitenfenster herunter. Der Regen hatte ganz aufgehört und hier und da zwitscherten schon ein paar Vögel. Der Morgen kündigte sich an.

 

Um diese Zeit war es draußen empfindlich kühl. Trotzdem entschloss sich Miss Flint dazu, den Wagen zu verlassen um sich ein wenig ganz in seiner Nähe die Beine zu vertreten. Als sie zu dem Anwesen hinübersah, dachte sie bedrückt daran, dass ihr die Erbschaft bisher kein Glück gebracht hatte. Sie empfand keinerlei Freude darüber.

 

Die Brauereigebäude lagen direkt vor ihr. Sie waren nicht weit entfernt und deshalb entschloss sie sich dazu, noch einmal hinüber zu gehen. Es waren hässliche Bauten aus roten Backsteinen und mit hohen, vergitterten Fenstern. Dichtes Unkraut wucherte überall wohin man sah. Elli Flint ging an den großen, verriegelten Toren vorbei, doch dann blieb sie unvermittelt stehen, als wäre ihr eben etwas aufgefallen, was sie in der Dunkelheit der Nacht übersehen hatte.

 

Tatsächlich entdeckte sie breite Reifenspuren auf dem lehmigen Boden, den es nur zwischen dem gepflasterten Hof und dem Tor gab. Die Spuren schienen von einem größeren Transporter zu stammen – und dieses Fahrzeug musste durch das Tor gefahren sein.

 

Die Nerven der jungen Frau waren auf einmal angespannt, wie die Sehne eines Bogens, als sie neugierig weiterging. Sie hatte offenbar einen schmalen Pfad entdeckt, der hinter dem Unkrautgestrüpp an der Backsteinwand entlang führte. In der Nacht war ihr das nicht aufgefallen. Außerdem sah es so aus, als würde dieser versteckte Weg öfters benutzt. Elli Flint wunderte sich darüber, hatte es doch geheißen, dass die Brauerei schon seit Jahren nicht mehr in Betrieb sei.

 

Nach etwa zehn Meter kam sie an ein weiteres Tor, das wesentlich kleiner und weder mit Eisenriegel noch mit Schlösser gesichert war. Seltsamerweise waren auch keine Griffe vorhanden. Wahrscheinlich konnte man es nur mit einem Schlüssel öffnen oder zusperren.

 

In der Ferne zeigte sich mittlerweile das erste Morgenrot über den bewaldeten Hügeln. Schnell wurde es heller. Die Aufmerksamkeit der jungen Frau galt jetzt nicht mehr nur den Gebäuden der Brauerei, sondern auch dem alten Wohnhaus, das früher einmal ein Wirtshaus gewesen war. Das kupferfarbene Schild hing immer noch über dem Eingang.

 

Sind ging zu dem Wohnhaus hinüber, marschierte bis zum Ende der Efeu berankten Wände und stand bald vor einem total verwilderten Garten. Weiter hinten endeten auch die Brauereigebäude. Anscheinend hörte hier das Grundstück auf. Neugierig durchquerte sie den Garten, bis sie auf der anderen Seite eine kleine Tür entdeckte, die zwar offen stand, aber von Unkraut aller Art völlig überwuchert war. Dahinter gab es nur noch dichtes Brombeergestrüpp. Hier gab es also kein Weiterkommen. Also wandte sich Elli Flint ab, verließ den Garten und ging außen am Zaun entlang, bis sie plötzlich abermals auf einen kleinen Weg stieß, der offenbar zur asphaltierten Straße runter führte. Ohne lange zu zögern ging sie durch ein kleines Wäldchen, das von grünen Wiesen und bestellten Äckern abgelöst wurde, bis sie auf einmal vor der Straße stand, auf der sie gekommen war. Selbst den Schotterweg konnte sie von hier aus sehen, der schnurgerade auf das Gelände der Brauerei zuführte. Bei Tageslicht sah alles viel überschaubarer aus, als in der Nacht.

 

Nicht weit von ihrem Standort entfernt kam ein LKW die Straße hoch, der gerade von einem tuckernden Motorrad überholt wurde. Es konnte sich also nur um die Hauptstraße handeln. Auch die Kreuzung war nicht weit entfernt. Elli Flint schlug den Weg dorthin ein und als sie dort ankam, las sie auf einem Straßenschild, dass es rechts nach Alloa ging. Das war die Richtung, aus der sie gekommen war. Sie war in der Nacht links abgebogen und hatte nur durch Zufall die Brauerei ihres Onkels gefunden.

 

Eilig ging Miss Flint den Weg zurück und strebte ihrem Auto zu, das immer noch hinten im Hof der Brauerei stand. Schnell öffnete sie die Fahrertür, setzt sich hinters Lenkrad und startete den Motor. Die Sonne schien bereits, als sie den Hof mit quietschenden Reifen verließ und auf der gut ausgebauten Straße zurück nach Alloa fuhr. Ihre gute Laune kehrte zurück und gleichzeitig spürte sie ihren leeren Magen, der sich mit einem kneifenden Hungergefühl zurückmeldete.

 

Nach wenigen Meilen entdeckte sie eine Raststätte in unmittelbarer Nähe der Straße, die schon geöffnet hatte. Miss Flint steuerte ihren Aston Martin auf den Parkplatz des Rasthofes und betrat wenige Minuten später eine düster aussehende Gaststube, in der es nach abgestandenem Zigarettenrauch und schal gewordenem Bier roch.

 

An fensterseitigen Tischen saßen einige Männer und unterhielten sich angeregt. Als die junge hübsche Frau mit den langen blonden Haaren zur Tür hereinkam hoben sie nacheinander die Köpfe, lachten und machten zweideutige Bemerkungen. Besonders ein Kerl mit schwarzen Haaren tat sich mit anzüglichen Sprüchen hervor. Elli Flint beachtete ihn nicht.

 

Eine übergewichtige Wirtin trat zu ihr und musterte sie neugierig von oben bis unten. Wahrscheinlich war es nicht alltäglich, dass eine derart hübsche Person wie sie ohne Begleitung diese herunter

 

gekommene Gaststätte aufsuchte. Elli Flint war das egal. Sie bestellte Kaffe und einen Schinkentoast bei ihr.

 

Sie kommen nicht aus dieser Gegend?“ fragte die Wirtin, die gleichzeitig auch Kellnerin war und musterte die junge Frau abermals von oben bis unten. So eine gute Figur hätte sie auch gerne, verriet ihr neidischer Blick.

 

Ich bin auf dem Weg zum Anwesen der Flints“, erklärte sie bereitwillig, vermied dabei aber absichtlich, dass sie schon einmal dort gewesen war und die Nacht in ihrem Auto auf dem Hof der Brauerei verbracht hatte.

 

Die Wirtin der Gaststätte machte auf einmal große Augen und setzte sich unaufgefordert an den Tisch. Mit einer lässigen Handbewegung wies sie einen älteren Mann hinter der Theke an, ihr ebenfalls etwas zu trinken zu bringen.

 

Sie wollen zur Familie Flint?“ wiederholte die Dicke mit einem Ausdruck im Gesicht, als hätte die junge Frau einen Flug zum Mond gebucht.

 

Was wollen Sie denn ausgerechnet dort? Gehören sie vielleicht zur Familie des alten Lionel Flints, dem ehemaligen Brauereibesitzer? Hat der nicht das Zeitliche gesegnet?“

 

Lionel Flint war mein Onkel. Ich wusste nicht, dass mein Vater noch einen Bruder hatte. Erst durch meinen Notar erfuhr ich dann die ganze Wahrheit und dass ich die einzige Erbin bin.“

 

Die alte Mann brachte der Wirtin eine Tasse Kaffee und stellte sie auf den Tisch. Argwöhnisch schaute er Miss Flint an, drehte sich demonstrativ um und trottete zurück hinter die Theke. Von dort aus beobachtete er sie weiter.

 

Kennen Sie die Leute, die dort oben auf dem Gelände der Brauerei wohnen?“ fragte sie die korpulente Frau mit zurückhaltender Stimme. Sie wollte nicht, dass die übrigen Gäste etwas mitbekamen.

 

Die stellte sich erst einmal vor.

 

Ich heiße Sonja Lux und betreibe dieses schäbige Lokal hier. In der ganzen Gegend gibt es für Leute wie mich weit und breit keine ordentliche Arbeit, die gut bezahlt wird. Also habe ich dieses Gasthaus aufgemacht. Von den Einnahmen kann meine Familie und ich gerade mal so leben.“

 

Sie machte eine kleine Pause und sprach dann sofort weiter.

 

Nein“, antwortete sie, „die Leute selbst kenne ich so gut wie überhaupt nicht, aber es heißt, dass es in der alten Brauerei nicht mit rechten Dingen zugeht, wenn Sie wissen, was ich damit sagen will.“

 

Spukt es dort vielleicht? Meinten Sie das? – Ach, bevor ich’s vergesse..., ich heiße Elli Flint und komme aus der Gegend um Alloa.“

 

Das Sie eine von den Flints sind, dachte ich mir schon. Aber was soll’s. Sie wollten wissen ob es dort spukt? Nein, das ist es nicht.“

 

Die junge Frau sah die Wirtin an und hatte plötzlich den komischen Eindruck, einen Anflug von Furcht in den wasserblauen Augen zu erkennen.

 

Was ist es dann? Sie können es mir ruhig sagen. Ich bin auf alles gefasst“, sagte Miss Flint mit ernstem Gesichtsausdruck.

 

Ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll. Aber irgend etwas stimmt dort nicht. Und auch mit dem Tod Ihres Onkels soll angeblich etwas nicht in Ordnung gewesen sein“, antwortete die korpulente Frau.

 

Laut dem ärztlichen Befund soll er an einem Herzversagen gestorben sein“, meinte Elli Flint leise, „das ist bei älteren Leuten nicht Ungewöhnliches und kommt häufiger vor, als man annimmt.“

 

Sonja Lux nahm jetzt einen kräftigen Schluck Kaffee aus der breiten Tasse, stand plötzlich auf und während sie den Tisch abräumte sagte sie flüsternd zu der jungen Frau: „Mir lag nichts daran, Sie zu erschrecken. Aber Sie sollten sich Ihr Erbe genau ansehen. Vielleicht kommen Sie ja dann hinter das Geheimnis der alten Brauerei.“

Dann verabschiedete sie sich von ihrer Gesprächspartnerin und verschwand hinten in der Küche des Gasthofes.

 

Die junge Frau war wie gelähmt. Das hatte sie nun wirklich nicht erwartet. Die Gäste des Lokals schauten sie auf einmal misstrauisch an. Was hatten sie von dem Gespräch zwischen der Wirtin und ihr mitbekommen?

 

Miss Flint beschlich plötzlich das mulmige Gefühl, einen großen Fehler gemacht zu haben, dass sie über die alte Brauerei ihres Onkels geredet und den Namen Flint dabei erwähnt hatte.

 

Als sie wieder vor ihrem Aston Martin stand, atmete sie erst einmal tief durch. Dann fuhr sie langsam durch die wenigen Straßen der nah gelegenen Ortschaft Blairhall. Die ganze Gegend hier behagte ihr nicht und obwohl die Sonne schien, wirkte sie trostlos und düster.

 

Hier soll ich wohnen? Niemals! Lieber verkaufe ich das gesamte Anwesen samt Wohnhaus und den umliegenden Ländereien. Ich pfeife darauf!

 

Bei diesem Gedanken wurde ihr wieder etwas wohler.

 

***

 

Unten in der Ortschaft Blairhall suchte Elli Flint nach einem Telefon und fand es schließlich in einem kleinen Café. Den Aston Martin hatte sie an der Hauptstraße, die direkt durch den Ort führte, stehen lassen. Ein hübsches Mädchen, das adrett gekleidet war, servierte.

 

Sind Sie zu Besuch hier?“ fragte das junge Mädchen freundlich und nannte auch gleich ihren Namen, der Stella hieß und dass sie die gute Seele des Cafés sei.

 

Weil niemand sonst im Café saß, erzählte Miss Elli Flint von ihrer Erbschaft und das ihr jetzt die alte Brauerei ihres verstorbenen Onkels Lionel Flint gehöre.

 

Würde die Serviererin das gleiche sagen, wie die klatschsüchtige Kellnerin aus der Raststätte?

 

Aber das junge Mädchen war wesentlich zurückhaltender als sie dachte. Als sie jedoch davon sprach, dass ihre Schwester Betty Mills in dem herrschaftlichen Wohnhaus als Dienstmädchen arbeitete, hätte sie fast einen Schrei losgelassen. Aber sie riss sich zusammen.

 

Was? Betty ist Ihre Schwester? Das ist aber eine Überraschung“, sagte sie zu dem Mädchen. „Leider habe ich sie noch nicht kennen gelernt. Aber ich werde heute noch dort hinfahren.“

 

Über das schöne Gesicht des jungen Mädchens flog ein Schatten.

 

Wissen Sie Miss Flint, meine Schwester Betty hat es nicht leicht bei der alten Mrs. Weedman. Sie wäre schon längst von dort weggegangen, wenn man sie nicht darum gebeten hätte, auf die Ankunft der neuen Besitzerin zu warten. Ich glaube, Betty wird sie mögen und sich darüber freuen, wenn Sie erfährt, dass Sie es sind, die alles geerbt hat.“

 

Nachdem Miss Flint ihren Kaffee ausgetrunken und die Rechnung bezahlt hatte, fragte sie nach dem Telefon.

 

Sie können hier völlig ungestört reden, Miss Flint“, sagte die junge Serviererin und deutete auf das Telefon rechts neben dem Ausgang des Cafés.

 

Die Verbindung nach Alloa war schnell hergestellt. Mr. Michael Stone, der Notar, war selbst am Apparat.

 

Na, wie gefällt Ihnen die Erbschaft, Miss Flint?“ wollte er sofort wissen.

 

Überhaupt nicht“, stieß die junge Frau gepresst hervor. „Ich will das ganze Anwesen so schnell wie möglich loswerden. Geben Sie mir die Adresse von einem Immobilienmakler, damit ich alles in die Wege leiten kann.“

 

Aber, aber, meine liebe Miss Flint, wie können Sie das jetzt schon sagen. Sie sind doch sicherlich erst gestern Abend angekommen.“

 

Das hat mir auch gereicht. Ich habe mich irrsinnig verfahren, und als ich endlich da war, hat man mich nicht einmal in mein eigenes Haus gelassen. Dann wollte man mir den Wagen stehlen und mich anscheinend darin hindern, den Ort wieder zu verlassen. Ich werde die alte Mrs. Weedman zur Rede stellen, was sie sich dabei gedacht hat.“

 

Das ist nun wirklich allerhand, Miss Flint“, meinte der Notar empört, „das brauchen Sie sich selbstverständlich nicht gefallen zu lassen. Ich werde Mrs. Weedman umgehend anrufen und mit ihr hart ins Gericht gehen. Unglaublich, was sich die alte Frau mit Ihnen erlaubt hat. Was bildet sich diese Person nur ein?“

 

Ich werde sie hinauswerfen, noch bevor ich alles zum Verkauf anbiete“, sagte die junge Frau erbost. Diese Person möchte ich dort nicht mehr sehen.“

 

Das können Sie aber nicht, Miss Flint. Ich habe Ihnen doch erzählt, dass Ihr Onkel Mrs. Weedman und ihrem Sohn Mark dort Wohnrecht auf Lebenszeit eingeräumt hat. Sie können die beiden höchsten aus Ihren Diensten entlassen, aber dann müssten Sie ihnen eine neue Unterkunft besorgen und die Kosten dafür selbst tragen. Sie wissen doch selbst, dass man alte Bäume nur sehr schlecht verpflanzen kann. Sie sterben vorher. Wollen Sie das, Miss Flint?“

 

Die junge Frau seufzte hörbar und bedankte sich bei Mr. Stone für die guten Ratschläge. Dann legte sie den Hörer wieder auf die Gabel.

 

Natürlich war ihr jetzt klar, dass sie nicht einfach davonlaufen konnte. Sie musste auf jeden Fall ihr Erbe in Augenschein nehmen. Das war das einzige in dieser Situation, was sich machen konnte.

 

Also setzte sie sich wieder ins Auto und fuhr aus dem Ort hinaus und nahm die Abzweigung in Richtung des Anwesens ihre verstorbenen Onkels. Diesmal würde sie sich nicht die Tür vor der Nase zuschlagen lassen. Das schwor sie sich eisern. Schon bald stand sie wieder mit ihrem Aston Martin auf dem Hof und stieg die Treppen zur Tür hinauf.

 

Mrs. Weedman!“ rief sie erbost mit lauter Stimme, „machen Sie sofort die Tür auf oder ich lasse die Polizei kommen.“

 

Immer wieder drückte sie auf die Klingel.

 

Drinnen rührte sich plötzlich was. Schritte näherten sich, und gleich darauf wurde die Tür aufgerissen.

 

Miss Elli Flint sah sich einem Mann gegenüber, der das gleiche hässliche Gesicht hatte wie Mrs. Weedman. Seine Augen, die nervös hin und her zuckten, standen viel zu eng zusammen. Noch nie in ihrem ganzen Leben war der hübschen jungen Frau ein derart unsympathischer Mann begegnet.

 

Aber, aber, wer wird denn gleich nach der Polizei rufen? Wer sind Sie überhaupt?“

 

Ich bin Miss Flint, die Nichte von Lionel Flint, meinem verstorbenen Onkel. Reicht Ihnen das jetzt, Mr. Mark Weedman?“ donnerte sie mit bebender Stimme.

 

Nun mal langsam, meine schöne Dame. Ich verstehe ja, dass Sie aufgeregt darüber sind, dass meine Mutter Sie heute Nacht nicht ins Haus ließ. In dieser abgelegenen Gegend treibt sich allerlei Gesindel herum. Wir müssen immer sehr vorsichtig sein.“

 

Ich habe für das unglaubliche Benehmen Ihrer Mutter nicht das geringste Verständnis. Mr. Stone hat Ihnen meine Ankunft doch rechtzeitig mitgeteilt und auch meinen Namen genannt.“

 

Der große hagere Mann zuckte gelangweilt die Schulter und schlenderte an ihr vorbei, als wäre nichts gewesen.

 

Ich habe noch einiges zu erledigen, Miss Flint. Gehen Sie nur rein. Es ist ja jetzt Ihr Haus. Wenn Sie mich dringend brauchen, können Sie das Dienstmädchen nach mir schicken. Die weiß, wo ich zu finden bin“, sagte Mark Weedman spöttisch und verschwand in einem der Brauereigebäude.

 

Kopfschüttelnd ging Miss Flint ins Haus. Zu ihrer großen Überraschung stand sie in einer wunderschön ausgestatteten Halle mit geschnitzten Eichenmöbeln und prächtigen Perserteppichen. Auf einem langen Bord standen historische Trinkgefäße. Im Hintergrund führte ein breite, blankgeputzte Holztreppe nach oben. Von der Halle gingen mehrere Türen ab. Eine davon öffnete sich jetzt und ein hübsches Mädchen in adretter Dienstkleidung erschien.

 

Herzlich willkommen im Haus der Familie Flint. Sie müssen Miss Elli Flint sein. Ich bin Betty, das Hausmädchen“, sagte sie lächelnd.

 

Die junge Erbin fand Betty auf Anhieb sympathisch und reichte ihr spontan die Hand.

 

Betty, würden Sie bitte so nett sein und mir das Haus zeigen?“ bat sie dann, „ich möchte mir ein Zimmer aussuchen und anschließend ein Bad nehmen.“

 

Aber gewiss doch, Miss Flint. Nur hat Mrs. Weedman..., ich meine...“

 

Das Mädchen brach mitten im Satz ab und blickte die junge Frau hilflos an.

 

Was ist mit Mrs. Weedman?” fragte Elli Flint ungeduldig. Wo steckt diese so überaus freundliche Person überhaupt?“

 

Kennen Sie denn Mrs. Weedman schon?“ fragte das Dienstmädchen.

 

Und ob. Ich hatte bereits das Vergnügen mit ihr. Heute Nacht wurde ich von ihr aus meinem eigenen Haus gewiesen, d. h., sie ließ mich erst gar nicht hinein.“

 

Das ist ja fürchterlich“, empörte sich Betty um sich gleich darauf ängstlich umzuschauen.

 

Haben Sie etwa Angst vor ihr, Betty?“

 

Das Dienstmädchen errötete.

 

Sie haben ja keine Ahnung, wie schlimm sie ist. Aber jetzt, wo Sie hier sind, wird sie sich wohl zusammenreißen und alles wird anders. Mrs. Weedman hat mich ständig herumkommandiert, als wenn ihr das hier alles selbst gehörte. Ich bin wirklich froh darüber, dass Sie da sind, Miss Flint. Ich freue mich sehr darüber.“

 

Keine Angst, ich werde schon mit ihr fertig werden“, beruhigte Miss Flint das junge Mädchen, dem die Tränen in den Augen anzusehen war. Behutsam legte sie ihren Arm um sie.

 

Aber bevor ich das tue, zeigst du mir das ganze Haus. Ich will es genau kennen lernen.“

 

Gemeinsam stiegen sie die Treppe hinauf.

 

Mrs. Weedman hat für Sie schon ein Zimmer ausgewählt“, erklärte Betty oben auf dem Flur. Hier gab es eine Menge Türen, fast wie in einem Hotel.

 

Ich suche mir mein Zimmer selbst aus“, gab die junge Frau stirnrunzelnd zur Antwort, „was diese Frau im Sinn gehabt hat, ist mir völlig gleichgültig“, entgegnete sie dem Mädchen, die jetzt eine Tür nach der anderen öffnete und jedes Zimmer einzeln erklärte.

 

Etwa eine Stunde später, nach der Zimmerbegehung, ging sie rüber ins Bad und räkelte sich bereits wohlig im duftenden Badewasser. Wenn sie von Mrs. Weedman und dem blödsinnigen Gerede über das Anwesen ihres Onkels einmal absah, gefiel es ihr plötzlich sehr gut hier. Die gesamte Inneneinrichtung war wirklich von allerhöchster Qualität und musste wohl seinerzeit ein Vermögen gekostet haben. Außerdem würde sie heute nacht zum ersten Mal in diesem Haus schlafen, worauf sie sich schon freute.

 

Miss Flint entstieg der Badewanne, trocknete sich ab und kleidete sich an. Sie wählte einen sportlichen Hosenrock mit Bolero und langärmeliger Bluse. Dann bürstete sie sich ausgiebig die langen blonden Haare und verlies danach das Zimmer.

 

Auf dem Flur kam ihr Mrs. Weedman entgegen. Die alte Frau konnte ihr nicht ausweichen und starrt sie feindselig an.

 

Kaum stand sie auf gleicher Höhe, polterte sie mit krächzender Stimme los.

 

Sie sind selbst schuld, Miss Flint. Sie kommen mitten in der Nacht an, klingeln an der Tür und stellen sich nicht einmal vor. Um diese nachtschlafende Zeit lassen wir keinen mehr rein. Das muss Ihnen doch klar sein...“

 

Was sagen Sie da? Sie müssen sich täuschen, Mrs. Weedman. Sie wussten genau, wer ich bin. Außerdem habe ich mich vorgestellt. Entweder haben Sie schlechte Ohren oder sind eine Lügnerin.“

 

Die alte Frau hörte ihre Worte nicht mehr. Sie war einfach an Miss Flint vorbei gerauscht, die Treppe runter gegangen und in der Küche verschwunden.

 

Als sie unten im Esszimmer ankam, stand plötzlich Mark Weedman neben ihr und grinste unverschämt wie ein Honigkuchenpferd. Er bot ihr den Arm an.

 

Ich habe mich extra für sie in Schale geworfen, Miss Flint. Ich wollte Sie zum Essen führen.“

 

Was wollten Sie?“

 

Die junge Frau unterdrückte ein Lachen.

 

Mich? Zum Essen führen. Vielen Dank, aber ich kann allein gehen. Haben Sie denn wirklich gedacht, ich würde mit einem Dienstboten zusammen speisen? Das kommt überhaupt nicht in frage. Ziehen Sie sich gefälligst um und gehen Sie wieder an die Arbeit, bevor ich mir was anderes überlege.“

 

Miss Elli Flint wusste im Augenblick nicht, woher sie den Mut zu solchen Worten nahm. Aber für sie war es wichtig den Leuten hier zu zeigen, wer das Sagen hatte. Sie war die neue Herrin des Hauses.

 

Das komische Grinsen auf Mark Weedmans Gesicht gefror ganz plötzlich zu eine Maske. Seine eng anliegenden Augen blinzelten heimtückisch auf.

 

Meine Mutter und ich haben immer mit Mr. Flint das Essen eingenommen“, sagte er wütend. Er gab sich keine Mühe, sich zu beherrschen.

 

Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass ich nicht Lionel Flint bin. Was mein Onkel zu tun pflegte, war ganz allein seine persönliche Sache. Meine ist eine andere. Ich bin jetzt die Herrin hier. Und wer ab sofort meinen Anweisungen nicht Folge leistet, muss sich für sein Verhalten verantworten. Ich hoffe, ich habe mich deutlich genug ausgedrückt“, sagte Miss Flint mit kühler Stimme.

 

Ich wünsche jetzt zu speisen. Geben Sie Betty Bescheid, dass sie servieren soll. Und nach dem Essen möchte ich mit Ihrer Mutter sprechen“, hakte Miss Flint nach.

 

Mark Weedman stand da und man sah es ihm an, dass er sich nur mühsam zusammenriss. Schließlich ging er in die Küche, um seiner Mutter bei der Arbeit zu helfen.

 

Nach dem Essen kam Mrs. Weedman mit ihrem Sohn in die Küche. Während das Dienstmädchen das Geschirr wegräumte, bot ihnen Miss Flint einen Platz am rustikalen Esstisch an. Sie wartete geduldig ab, bis beide sich hingesetzt hatten.

 

Zunächst möchte ich einmal klarstellen, dass ich die neue Herrin des Hauses bin. Sie stehen in meinen Diensten und werden von mir bezahlt. Wenn die Sache nicht so läuft, wie ich mir das vorstelle, kann ich jederzeit das Arbeitsverhältnis zwischen Ihnen und mir kündigen. Ist Ihnen das klar?“

 

Wenn Sie mit uns in diesem Ton sprechen, werden wir uns wohl kaum miteinander vertragen, Miss Flint“, meinte Mrs. Weedman bissig.

Das ist mir gleichgültig. Es liegt ganz allein an Ihnen. Ich werde Ihnen bestimmt nicht das Leben schwer machen. Ich hoffe daher, dass Sie alle zu meiner Zufriedenheit arbeiten werden. Das Essen war übrigens schauderhaft. Wenn Sie nicht kochen können, werde ich mich nach einer anderen Köchin umsehen, Mrs. Weedman.“

 

Die alte Frau lief puterrot an.

 

Es tut mir wirklich leid, Miss Flint. Es wird nicht wieder vorkommen. Normalerweise kann ich sehr gut kochen. Ich war auf meinen neuen Gast nicht eingerichtet. Geben Sie noch etwas Zeit und Sie werden von meinen Kochkünsten begeistert sein.“

 

Das klingt schon viel besser. Hoffentlich kann ich das heute Abend beim Dinner feststellen.“ Nach diesen Worten entließ sie Mutter und Sohn und ließ Betty zu sich kommen.

 

Als das Dienstmädchen die Küche betrat, bat Miss Flint auch sie an den Tisch.

 

Nehmen Sie doch Platz, Betty. Ich habe übrigens Ihre Schwester in dem kleinen Café kennen gelernt. Sie ist genauso freundlich und nett wie Sie. Ich soll schöne Grüße von ihr bestellen. Was sagen Sie dazu?“

 

Das junge Mädchen strahlte über das ganze Gesicht.

 

Miss Flint kam jetzt zur Sache.

 

Sagen Sie, Betty, ich habe schon mehrmals hören müssen, dass es im Haus meines Onkels oft nicht mit rechten Dingen zugegangen sein soll. Was hat das zu bedeuten? Hatten Sie in der Vergangenheit auch diesen Eindruck?“

 

Das Dienstmädchen blickte sich ängstlich um.

 

Ach Miss Flint, genaues weiß ich auch nicht, aber die alte Mrs. Weedman und ihr Sohn führen etwas im Schilde. Mitten in der Nacht tauchen plötzlich wildfremde Menschen auf, die sich merkwürdig benehmen. Jedes Mal gingen sie gemeinsam in die Werkhallen der alten Brauerei und schalteten überall das Licht an. Dabei stehen die Gebäude doch angeblich leer. Als ich Mrs. Weedman einmal danach fragte, wurde sie sehr böse und ungehalten. Sie sagte, ich hätte mir das alles nur eingebildet. Doch ich weiß, dass sie die schrecklichen Geräusche in der Nacht auch gehört haben muss. Ebenso ihr Sohn. Auch er schweigt dazu. Beide hatten wohl Angst davor. Oh, Miss Flint, ich weiß nicht was hier auf dem Gelände der alten Brauerei vor sich geht. Aber ich fürchte mich sehr davor. Ich bin froh, dass Sie da sind.“

Ist schon gut, Betty. Sie können jetzt Feierabend machen und sich Ihren privaten Angelegenheit widmen. Sie können jetzt gehen.“

 

Vielen Dank, gnädige Frau. Sie sind sehr nett zu mir. Wenn Sie mich trotzdem brauchen, bin ich jederzeit für Sie da. Sie müssen nur auf einen der versteckten Knöpfe hinter den Vorhängen am Fenster drücken und schon weiß ich Bescheid, dass Sie mich angefordert haben.“

 

Oh, das wusste ich nicht. Vielen Dank für diesen Tipp, Betty. Wir sehen uns dann zum Frühstück.“

 

Gute Nacht, Miss Flint. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Schlaf.“

 

Das Dienstmädchen verließ die Küche und ging auf ihr Zimmer im ersten Stock.

 

Die junge Hausherrin saß aber noch lange am Küchentisch und dachte darüber nach, welches Geheimnis sich wohl hinter den dicken Mauern der alten Brauerei verbergen mochte. Sie würde es sicherlich bald heraus bekommen, denn wenn sich Elli Flint mal etwas vorgenommen hatte, konnte man sie nur sehr schwer wieder davon abbringen. Zähe Ausdauer und unnachgiebige Zielstrebigkeit waren zwei ihrer herausragendsten Eigenschaften.

 

***

 

Der nächste Morgen fing mit Sonnenschein an. Die neue Hausherrin war schon früh aufgestanden und inspizierte das gesamte Gelände des Anwesens, so auch den verwilderten Garten. Hier musste unbedingt etwas getan werden, dachte sie. Allerdings würde sie diese Arbeit einer Landschaftsgärtnerei übergeben, was sicherlich sinnvoller sei, als selbst Hand anzulegen oder das vorhandene Personal dafür heranzuziehen.

 

Neben dem Garten entdeckte Miss Flint einen verlassenen Hühnerstall. Sie wunderte sich darüber, was es an Unentdecktem hier alles noch gab.

 

Das Brauereigelände lag einsam und verlassen da. Nichts deutete darauf hin, dass es möglicherweise doch noch benutzt wurde. Selbst die verdächtigen Reifenspuren vor dem Tor, die sie einen Tag vorher noch gesehen hatte, waren jetzt nicht mehr da. Miss Flint hatte den seltsamen Eindruck, dass sie sehr sorgfältig beseitigt worden waren.

 

Die gesamte Betriebsanlage der Brauerei wirkte reichlich verwildert und ungepflegt. Sie fragte sich, welche Arbeit Mark Weedman auf dem Anwesen überhaupt verrichtete. Der Mann war an die fünfunddreißig Jahre alt und hatte wohl über seine Mutter diese Arbeit bekommen. In seinem Arbeitsvertrag stand, dass er die Tätigkeit eines Gärtners und Chauffeurs auszuüben hatte. Zusätzlich hatte er freiwillig noch hausmeisterliche Tätigkeiten übernommen, die als zusätzliche Erweiterung seiner Aufgaben in dem Arbeitsvertrag nachträglich aufgenommen worden waren. Dafür wurde er auch recht gut bezahlt. Miss Flint beschloss, ihm etwas auf die Finger zu sehen.

 

Die junge Frau ging jetzt durch den verwilderten Garten und bahnte sich einen Weg durch die offene Gartentür. Hinter dem Zaun war alles mit Brombeeren, Dornengestrüpp und Farnkraut überwuchert. Aber um an den hinteren Teil der alten Gebäude heranzukommen, musste sie durch diesen Teil des Geländes, weil die Tore immer noch verriegelt waren und die Schlüssel sich angeblich bei einem Mann namens Fred White, einem Freund von Mark Weedman, befanden, der zur Zeit angeblich in Urlaub war.

 

Als sie endlich die Front des ersten Brauereigebäudes erreichte, stieß sie abermals auf eine alte Holztür. Sie war nur notdürftig mit neuen Brettern repariert worden und in keinem guten Zustand. Die Tür wies überall breite Risse auf, war aber ebenfalls, anscheinend von innen, verriegelt worden.

 

Miss Ellis Herz klopfte aufgeregt, als sie durch die Ritzen lugte. Vor Überraschung stieß sie einen kleinen Schrei aus, als sie einen überdachten Innenhof entdeckte, in dem mehrere Backsteinhaufen lagen. Dazwischen stand ein großer Lastwagen.

 

Miss Flint ging später um das Gebäude herum, wurde aber durch einen hohen Zaun daran gehindert, den dahinter liegenden Bereich, der zum Hof führte, zu erreichen. Zum Glück befanden sich zwischen dem Zaun und der mächtigen Grundstückmauer ein paar lose Latten, die sie gekonnt zur Seite schob. Schließlich wand sie sich durch den offenen Spalt hindurch und stand bald auf der anderen Seite. Sie merkte sich diese Stelle, weil sie dann nicht mehr durch den Garten und die dahinter liegenden Brombeersträucher und Dornengebüsche steigen musste.

 

Im ersten Impuls dachte sie daran, den Sohn von Mrs. Weedman zur Rede zu stellen, was es mit dem LKW auf sich hatte. Dann dachte sie darüber nach, dass es wohl klüger sei, erst einmal abzuwarten, was sich weiter ereignen würde. Der Lastwagen wurde sicher zu einem ganz bestimmten Zweck benutzt.

 

Sie lief den ganzen Tag überall herum und machte sogar einen kleinen Spaziergang durch den nah gelegenen Wald, den sie jetzt ebenfalls ihr eigen nennen durfte und zum weitläufigen Geländer der Brauerei gehörte. Das hier früher Holz geschlagen wurde, erkannte man an den zahlreich vorhandenen Baumstümpfen. Ihr Onkel fand darüber hinaus wohl viel Spaß an der Jagd, weil an etlichen Stellen große Hochsitze standen.

 

Erst gegen Abend schlenderte sie über den gepflasterten Hof. Dem Wohnhaus gegenüber stand eine große Garage, in der jetzt ihr Aston Martin untergebracht war. Daneben stand der Ford von Mark Weedman, der ziemlich ungepflegt aussah. Die Reifen waren mit getrocknetem Schlamm überzogen.

 

Miss Flint holte noch einige Sachen aus ihrem Auto und ging dann auf das Haus zu. Es war mittlerweile Zeit zum Abendessen. Sie wollte sich außerdem noch umkleiden.

 

Das Dinner war wirklich vorzüglich. Die alte Dame hatte tatsächlich Wort gehalten und sie schien sich große Mühe mit dem Essen zu geben. Es gab diesmal Lammkeule in einer köstlichen Soße mit verschiedenen Gemüse und ein leckerer Apfelkuchen zum Dessert.

 

Die neue Herrin des Hauses ließ es sich schmecken.

 

Was haben Sie jetzt für einen Eindruck von Ihrem neuen Zuhause, Miss Flint? Gefällt es Ihnen besser oder wollen Sie es immer noch verkaufen?“ fragte das Dienstmädchen, als sie das Geschirr abräumte.

 

Elli Flint zuckte mit der Schulter und zündete sich eine Zigarette an.

 

Ach Betty, so genau kann ich das jetzt noch nicht sagen. Teils gefällt es mir, teils wieder nicht. Ich bin heute den ganzen Tag draußen herumspaziert und habe mir überlegt, ob ich nicht Teile der alten Brauerei einreißen lassen soll um Platz für einen Reitstall mit Herberge und Gasthof zu schaffen. Die Gegend ist eigentlich recht schön, was mir vorher nicht so deutlich aufgefallen ist. Sie eignet sich besonders gut für ausgedehnte Reitausflüge, weil die Landschaft abwechslungsreich ist und es zudem viele kleine Seen gibt, die zum gemütlichen Verweilen einladen. Ich denke jedenfalls darüber nach. Die zwei Millionen Pfund müssen ja irgendwo gut angelegt werden.“

 

Die Idee mit dem Reitstall, dem neuen Gasthaus und einer Herberge ist wirklich nicht schlecht, Miss Flint. Aber was die alten Gebäude betrifft; wer weiß, was da alles zum Vorschein kommen würde, wenn Sie die Gemäuer einreißen lassen. Ich will gar nicht daran denken.“

 

Elli Flint dachte an den LKW und überlegte, ob sie Betty von ihrer Entdeckung erzählen sollte. Obwohl sie Vertrauen zu ihrem jungen Dienstmädchen hatte, entschied sie jedoch, dass es dafür noch zu früh war, um mit ihr darüber zu sprechen.

 

Wenn das Wetter morgen mitspielt, werde ich mir jedes Gebäude einzeln vorknöpfen. Wenn es sein muss, werde ich die schweren Eisenriegel aufbrechen lassen“, sagte sie zu Betty.

 

Mr. Weedman wird Sie kaum hineinlassen. Sein Freund Fred White und er achten sehr darauf, dass Unbefugte keinen Zutritt erlagen. Niemand kommt ohne Genehmigung dort rein.“

 

Aber erlauben Sie mal! Ich werde niemanden um Erlaubnis fragen müssen, wenn ich mir meinen Besitz ansehen will. Notfalls lasse ich die Polizei kommen, wenn es Schwierigkeiten mit den beiden Typen geben sollte. Darauf können sich die beiden Herren verlassen.“

 

Betty wurde plötzlich blass im Gesicht.

 

Ich habe Angst um Sie, Miss Flint“, sagte sie leise und etwas schüchtern. „Sie sind eine liebe Frau, aber bitte seien Sie vorsichtig! Die beiden Männer, besonders dieser Fred White, schrecken selbst vor Gewalt nicht zurück. Da bin ich mir ganz sicher. Ich kenne diesen Mann. Er ist sehr gefährlich. Ich sollte sie lieber begleiten.“

 

Ach was, auf keine Fall. Ich habe keine Angst. Und wenn Sie mich begleiten, würde das nur Aufsehen erregen. Außerdem kann ich auf mich selbst aufpassen. Ich habe sogar eine funktionierende Pistole im Schlafzimmer meines Onkels gefunden. Sie lag zusammen mit der dazu gehörigen Munition in seiner Nachtkommode unter einem kleinen Stapel loser Zeitungen. Ich werde sie mitnehmen, wenn ich auf Entdeckungstour gehe.“

 

So furchtlos, wie sich Elli Flint gab, war sie gar nicht. Im Gegenteil, ihr graute vor dem Gedanken, das Ding vielleicht mal einsetzen zu müssen.

 

Später, als sie schon im Bett lag, konnte sie einfach nicht einschlafen. Zu viele Gedanken gingen ihr durch den Kopf, die sich hauptsächlich um die alte Brauerei drehten.

 

Irgendwann war sie schließlich so müde, dass ihr die Augen von selbst zufielen.

 

***

 

Mitten in der Nacht wurde Elli Flint von einem unbestimmten Geräusch aus dem Schlaf gerissen. Wie elektrisiert fuhr sie in die Höhe und saß im nächsten Augenblick hellwach im Bett.

 

Wieder hörte sie das Geräusch ganz deutlich. Irgendwo im Haus knarrte eine Diele und es hörte sich so an, als schlich jemand durch die Gänge.

 

Miss Flint sprang aus ihrem Bett, ging leise zur Schlafzimmertür hinüber, öffnete sie behutsam und lauschte. Sie wagte es nicht, dass Licht anzumachen, als sie auf den Gang hinaustrat. Nichts rührte sich. Das ganze Haus schien im tiefen Schlaf zu liegen.

 

Die junge Frau ging zurück ins Zimmer und wollte sich gerade wieder ins Bett legen, als sich zum Fenster hingezogen fühlte. Würde in dieser Nacht das Brauereigebäude wieder hell erleuchtet sein.

 

Aber das gesamte Gelände lag wie immer düster und verlassen da.

 

Plötzlich schien sie etwas bemerkt zu haben. War da nicht gerade jemand im Schatten über den Hof geschlichen? Miss Flint trat näher ans Fenster, blieb aber vorsichtshalber hinter dem Vorhang stehen und schob ihn nur ein klein wenig zur Seite. Sie wollte auf keinen Fall entdeckt werden.

 

Und tatsächlich. Dort unten war jemand und drückte sich jetzt an der Ziegelwand des Brauereigebäudes entlang. Mark Weedman konnte es nicht sein, wie die junge Frau feststellte, denn der war groß und hager. Die Gestalt dort unten hatte ehr eine kleine, kurz gedrungene Statur. Jetzt waren es also schon zwei unbekannte Personen, die des nachts auf ihrem Besitz aufgetaucht waren und heimlich umherschlichen. Diese Tatsache gefiel ihr ganz und gar nicht. Früher oder später würde sie wohl die Polizei kommen lassen müssen, wenn es für sie gefährlich werden sollte. Im Moment jedoch war sie noch Herr der Lage.

 

Auf einmal war die Gestalt nicht mehr zu sehen. Dann leuchtete abrupt das helle Licht einer Taschenlampe auf. Der Fremde schien den Boden abzusuchen.

 

Ob er nach den Reifenspuren sucht? fuhr es der jungen Frau durch den Sinn. Vielleicht gab es noch andere, die das Geheimnis ergründen wollten, was sich auf dem Geländer der alten Brauerei abspielte. Nur wer konnte das ein? War der nächtliche Besucher ein Freund oder ein Feind? Gut möglich, dass sich auch jemand von der Polizei hier herumtrieb, die ebenfalls von der Sache Wind bekommen hatte. Man musste alles in Betracht ziehen.

 

Aufgrund der neuerlichen Ereignisse stieg wieder dieses bedrückende Angstgefühl in ihr hoch. Hatte es diese Vorgänge wohlmöglich auch schon zu Lebzeiten ihres Onkels gegeben? Und wer steckte dahinter? Fragen über Fragen, die ihr große Sorgen bereiteten.

 

Plötzlich erschloss das Licht der Taschenlampe und die Gestalt verschwand irgendwo in der Dunkelheit. Das letzte, was Elli Flint noch zu sehen bekam, war das kurze Aufblitzen eines Feuerzeuges. Sekunden später hörte sie, wie ein Motor gestartet wurde und kurz danach ein Wagen über den Schotterweg ohne Scheinwerferlicht davonraste, die der Fahrer erst einschaltete, als er die Hauptstraße bereits erreicht hatte.

 

Miss Flint atmete tief durch. Ihr Puls beruhigte sich wieder etwas. Trotzdem kam in ihr die Frage auf, wie sie sich auf Dauer hier wohl fühlen sollte, wenn der Ort voller düsterer Rätsel und Geheimnisse war?

 

***

 

Draußen zwitscherten schon die Vögel, als Elli Flint erwachte. Die Sonne schien durchs Fenster und ihre hellen Strahlen luden zum Aufstehen ein. Vom Bett aus konnte die junge Frau den blauen Himmel sehen. Es war ein schöner, friedlicher Sommermorgen. Doch plötzlich standen die Erlebnisse der letzten Nacht wieder vor ihr.

 

Miss Flint verließ das Bett, ging rüber ins Bad und machte sich frisch. Nachdem sie sich angekleidet hatte stieg sie Treppe hinunter und begab sich in die Küche. Dann ließ sie sich von dem Dienstmädchen das Frühstück servieren. Etwa zehn Minuten später kam polternd Mark Weedman herein.

 

Einen wunderschönen guten Morgen, Herrin“, grinste er. „Ich hoffe Sie haben gut geschlafen und sind mit meiner Arbeit zufrieden.“

 

Miss Flint blickte tadelnd auf seine Stiefel, an denen feuchter, klebriger Dreck hing.

 

Lassen Sie Ihre Stiefel in Zukunft draußen vor der Tür, Mr. Weedman. Sie machen Ihrer Mutter und dem Dienstmädchen nur unnütze Arbeit damit“, meinte sie missbilligend. „Was haben Sie eigentlich bis jetzt gemacht?“ fragte sie forsch.

 

Seien Sie vorsichtig, Miss Flint. Behandeln Sie mich bitte nicht wie einen kleinen Jungen. Dass kann ich überhaupt nicht vertragen. Und wenn Sie wissen wollen, was ich getan habe, kann ich nur sagen, dass ich den Garten ausgemistet habe. Ich bin noch nicht fertig damit und werde wohl den ganzen Tag dazu brauchen, ihn aufzuräumen. Ich weiß nur nicht, ob ich eine glückliche Hand für Blumen und Gemüsepflanzen habe.“

 

Das wird sich schon herausstellen. Wenn nicht, lasse ich mir eine Gärtnerfirma kommen, die die Sache für mich erledigt. Außerdem wollte ich mit Ihnen nicht über Ihre Arbeit sprechen, sondern möchte Sie fragen, wer nachts hier auf meinem Grundstück herumschleicht.“

 

Was? Herumschleichen. Da täuschen Sie sich bestimmt, Miss Flint. Sie haben doch geschlafen.“

 

Die junge Frau sah, wie Mark Weedman nervös wurde.

 

Ganz und gar nicht, Mr. Weedman. Ich habe nicht geschlafen. Dann erzählte sie von ihren Beobachtungen und war danach gespannt auf seine Reaktion. Auch auf die von seiner Mutter.

 

Er und seine Mutter tauschten erschrockene Blicke aus. Die alte Frau verließ hastig die Küche.

 

Und heute Nacht war es eine andere Gestalt, die Sie gesehen haben“? fragte Mark Weedman und man sah ihm dabei an, dass er sich höchst unbehaglich dabei fühlte.

 

So ist es“, antwortete ihm Elli Flint. „Außerdem möchte ich sie fragen, was der LKW hier soll, den ich hinten in einem der alten Brauereigebäude entdeckt habe. Gehört das Fahrzeug Ihnen?“

 

Der Lastwagen gehört meinem Freund Fred White“, erklärte der Gehilfe. „Ihr Onkel war damit einverstanden, ihn dort unterzustellen. Ich habe ganz vergessen, Sie auch um Erlaubnis zu bitten. Ich hoffe, dass Sie damit einverstanden sind. Das Fahrzeug stört schließlich niemanden. – Ach, ich wollte Ihnen noch sagen, dass Sie die Gebäude nicht besichtigen können, weil sie stark einsturzgefährdet sind. Ich könnte es nicht verantworten, Ihnen den Schlüssel zu geben.“

 

Ach, wirklich? Aber Ihr Freund, der kann unbesorgt aus und eingehen, wie er will. Finden Sie das nicht ein bisschen seltsam, Mr. Weedman?“

 

Der Mann hob beide Hände, als wolle er etwas abwehren.

 

Mein Gott noch mal. Der fährt doch nur in den Innenhof, Miss Flint. Bis dahin können Sie selbstverständlich auch gehen. Kein Problem. Ich meinte ja nur, dass es gefährlich ist, die Gebäude zu betreten. Überall sind schon Steine herabgefallen, und die Decken haben große Löcher. So oft es meine Zeit erlaubt, repariere ich alles, so gut es geht. Und mein Freund hilft mir natürlich dabei, weil ich allein das sonst nicht schaffen würde. Das ist übrigens eine Regelung, die Ihr Onkel noch getroffen hat.“

 

Die Reparaturarbeiten können Sie ab sofort einstellen. Sie brauchen sich keine weitere Mühe mehr zu geben, Mr. Weedman. Ich habe nämlich vor, einen Großteil der sanierungsbedürftigen Gebäude abreißen zu lassen. Die alten Werkhallen sind hässlich und dienen keinem Zweck mehr. Ich habe Pläne, hier einen Reitstall mit Wirtschaft und Herberge zu errichten. Das kommt bei den Leuten immer gut an und wird viel Geld bringen, auch für die kleine Ortschaft. Ich habe dem Bürgermeister schon schriftlich davon in Kenntnis gesetzt. Er ist von meiner Idee begeistert.“

 

Was, Sie wollen die Gebäude abreißen lassen? Das können Sie nicht machen!“

 

Mark Weedman wurde mehr als nervös. Sein rechtes Augen zuckte unkontrolliert auf und ab.

 

Und warum nicht?“ frage Miss Flint.

 

Weil die Gebäude unter Denkmalschutz stehen. Das weiß ich von Ihrem Onkel. Er hatte ebenfalls Pläne und wollte immer das Anwesen der alten Brauerei einem anderen Zweck zuführen. Leider hat ihm da die Denkmalschutzbehörde stets einen Strich durch die Rechnung gemacht. Auch Sie haben die Verpflichtung, alles zu erhalten. Lassen Sie sich etwas anderes einfallen, Miss Flint.“

 

Ich werde die Sache überprüfen lassen. Auf jeden Fall wird sich hier in nächster Zeit einiges ändern. Ich will nicht mein ererbtes Vermögen ausschließlich in den Erhalt einer baufälligen Immobilie stecken. Wenn es sein muss, lasse ich die Wände stehen, die dann renoviert werden müssen. Aber innen kann mir niemand vorschreiben, was ich mit den neuen Räumen danach machen werde.“

 

Mr. Weedman fing plötzlich an zu schwitzen. Dann stand er erbost auf und verließ die Küche. Draußen vor der Tür hörte man ihn fluchen und auf seine neue Herrin schimpfen.

 

 

***


 

Am nächsten Tag fuhr Miss Flint in die nah gelegene Ortschaft Blairhall. Sie wollte einige Besorgungen machen und sich vor allem einen Hund kaufen. Das Gelände der Brauerei konnte einen aufmerksamen Beschützer gut gebrauchen. Nachdem sie soweit alles erledigt hatte, entschloss sie sich dazu, das kleine Café aufzusuchen, wo Betty auf sie wartete. Das Dienstmädchen hatte heute frei und war zu Besuch bei ihrer Schwester Stella.

 

Aber Betty war nicht allein. Ein breitschultriger Mann mit schwarzen Haaren, den Miss Flint nur von hinten sehen konnte, saß an einem der rückwärtigen Tische und erklärte dem jungen Mädchen offenbar etwas.

 

Miss Flint beschlich ein unangenehmes Gefühl. Wer mochte schon Betty Mills kennen? Zudem erinnerte sie der Mann mit den schwarzen Haaren an jemanden, den sie in der schmuddeligen Raststätte schon mal gesehen hatte. Er war ihr durch seine anzüglichen Sprüche aufgefallen, als sie mit Sonja Lux geredet hatte.

 

Entschlossen steuerte sie auf den Tisch zu. Der Mann drehte seinen Kopf nach hinten und sah sie an. Elli Flint erstarrte. Es war tatsächlich derselbe Typ, der ihr vor ein paar Tagen in der herunter gekommenen Gaststätte begegnet war.

 

Bei ihrem Anblick erhob er sich wortlos, aber mit einem Blick, der das junge Mädchen erschauern ließ. Dann verließ der Mann grußlos das Lokal und knallte die Tür hinter sich zu.

 

Betty machte einen etwas verwirrten Eindruck auf Miss Flint.

 

Wer war das denn? Wollte der Mann was von dir?“

 

Ihr Dienstmädchen schüttelte den Kopf.

 

Ich saß gerade am Tisch und trank meinen Kaffee, als dieser Kerl zur Tür hereinkam und sich einfach unaufgefordert zu mir setzte. Dann sagte er, dass ich doch das Dienstmädchen der Brauereifamilie Flint sei, und was ich hier in Blairhall mache. Schließlich begann er, mich nach Ihnen auszufragen, Miss Flint. Aber ich habe nicht viel gesagt – und wenn, nur Gutes. Zum Glück sind Sie gekommen. Er selbst hat sich mir nicht vorgestellt.“

 

Miss Flint runzelte die Stirn. Sie bestellte bei Bettys Schwester einen Kognak und für ihr Dienstmädchen eine Tasse Kaffee. Dann unterhielten sie sich eine Weile. Dass sie den schwarzhaarigen Mann schon mal getroffen hatte, verschwieg sie dem Mädchen. Sie wollte nicht weiter darüber nachdenken und hatte auch keine große Lust zum Rätselraten. Etwa eine Stunde später verließ sie das Café wieder und fuhr zu einem Hundezüchter ganz in der Nähe, der auf Wachhunde spezialisiert war. Dort angekommen erschien dieser auch gleich mit einem jungen, kräftigen Schäferhund, der Elli Flint lebhaft anbellte. Es war ein lieber Kerl, kohlrabenschwarz und schien sehr aufmerksam zu sein. Er hörte auf den Namen Ricky.

 

Der Hundezüchter versicherte ihr, dass er auf jedes fremde Geräusch reagiere und mit seinem wütenden Bellen unliebsame Besucher fernhielt. Aber er konnte auch gut zubeißen, wenn es sein müsste.

 

Miss Flint war zufrieden und nahm den Schäferhund gleich mit, der auf dem Rücksitz des Aston Martins Platz nehmen musste.

 

Als die junge Frau mit ihrem Aston Martin den Heimweg antrat, war es draußen schon wieder dunkel geworden.

 

***

 

Die Nacht war nasskalt und ein dichter Nebel stieg auf. Es war fasst die gleiche Situation wie auf der ersten Fahrt zum Anwesen ihres verstorbenen Onkels vor wenigen Tagen.

 

Miss Flint fand ihre Idee plötzlich kindisch, wieder zurückzufahren. Sie hätte auch in Blairhall übernachten können. Andererseits wäre es vielleicht besser gewesen, wenn sie Betty mitgenommen hätte. Wegen ihr hatte sie jetzt ein schlechtes Gewissen, als sie beim Verlassen des Cafés ihr Dienstmädchen nervös mit bleichem Gesicht am Tisch sitzen sah. Aber über ihre Freizeit konnte sie nicht bestimmen.

 

Diesmal fand sie sich gut zurecht auf der Straße. Trotz des Nebels verfehlte sie den Schotterweg nicht. Sie ging vom Gas weg, schaltete einen Gang zurück und schaute während des Lenkeinschlags hinüber zum Anwesen der Brauerei, als sie plötzlich mehrere Lichter verschwommen durch die trübe Nebelküche erblickte.

 

Ellis Flint Herz begann ängstlich zu pochen. Etwas ging dort vor sich. Sie schaltete die Autoscheinwerfer aus, fuhr den Aston Martin rechts auf den Grünstreifen und verließ das Fahrzeug. Den Schäferhund nahm sie mit. Er spürte, dass Frauchen etwas vorhatte. Aufgeregt zog er an der Leine und wollte voraus preschen, doch die junge Frau hielt ihn energisch an der Leine zurück.

 

Als Elli Flint den Hof fast erreicht hatte, sah sie ganz deutlich alle Lichter in dem alten Brauereigebäude brennen. Im Hof stand ein großer Lastwagen mit laufendem Motor und eingeschalteten Scheinwerfer.

 

Ein unwillkürliches Zittern überlief Miss Flint, und einen Moment lang war sie versucht, einfach zum Auto zurückzugehen und weiter zu fahren. Aber dann dachte sie sich, dass damit nichts gewonnen wäre. Sie nahm jetzt ihren ganzen Mut zusammen und schlich mit dem Hund zusammen über den Nebel verhangenen Hof rüber zum Haus. Sie wollte sich dort hinter der nächsten Ecke verstecken.

 

Doch das war gar nicht so einfach. Plötzlich traten drei Männer aus dem großen Tor und gingen auf den Lastwagen zu. Einer davon war Mark Weedman, das konnte Elli Flint ganz deutlich feststellen. Als sie den anderen Mann erkannte, überlief sie ein eisiges Gefühl. Es war kein anderer als der Typ aus dem Café, der ihr schon zweimal unangenehm aufgefallen war und wohl Fred White hieß. Er war ein enger Freund von Mark Weedman. Den dritten Mann hatte sie noch nie zuvor gesehen.

 

Was hat das denn zu bedeuten?“ murmelte sie mit halblauter Stimme in sich hinein und dachte, dass das nichts Gutes sein konnte.

 

Die junge Frau hielt den kräftigen Schäferhund noch kürzer, der jetzt auf einmal ganz still geworden war. Er witterte etwas und starrte konzentriert in eine Richtung.

 

Im nächsten Augenblick begann Ricky zu knurren, riss sich los und schoss wie ein Blitz auf die drei Männer zu. Elli hielt die Leine fest in der Hand und wollte den Hund zurück reißen, was ihr in der Aufregung nur schlecht gelang. Sie konnte nicht verhindern, dass der Schäferhund den Mann mit den schwarzen Haaren ansprang und ihn dabei fast in den Hals gebissen hätte.

 

Was zum Teufel soll das? Wo haben Sie den Köter her? Und wieso sind Sie auf einmal hier?“ rief Mark Weedman wütend.

 

Hast du nicht zu uns gesagt, wir sind heute ungestört?“ zischte der Schwarzhaarige aufgebracht und rieb sich mit der rechten Hand die Kehle. Seine Augen blitzten böse und angriffslustig auf. Am liebsten hätte er wohl den Hund eigenhändig erschlagen.

 

Eine namenlose Angst kroch in Miss Flint hoch. Hastig zog sie den wild bellenden Schäferhund an sich. Dann beruhigte sie ihn, so gut es ging.

 

Wir sprechen morgen darüber, Mr. Weedman, was hier los ist. Ich habe jetzt keine Zeit für lange Streitereien“, rief sie steif und ging mit Ricky eilig ins Haus.

 

Als die junge Frau die Tür zu ihrem Schlafzimmer öffnete, verzichtete sie zunächst darauf, das Licht anzumachen. Den Hund band sie an einen der hölzernen Bettfüße fest, der immer noch sehr aufgeregt war. Sie streichelt ihn zur Beruhigung liebevoll über den Rücken und ging schließlich zum Fenster hinüber, verbarg sich aber hinter dem Vorhang.

 

Der Lastwagen fuhr gerade ab. Doch nur der Schwarzhaarige saß darin. Mr. Weedman und der andere Mann verschwanden im Brauereigebäude. Kurze Zeit später gingen dort die Lichter aus und die Tore wurden wieder verriegelt. Dann kamen die beiden Männer über den Hof und traten ins Haus. Miss Flint hörte noch unterdrückte Stimmen und leise Schritte, dann wurde es still.

 

 

***

 

Miss Flint erwachte am nächsten Morgen sehr spät. Sie war wie gerädert und hatte leichte Kopfschmerzen. Gerade als sie aufstehen wollte, klopfte es an der Tür.

 

Ricky, der Schäferhund, der die ganze Nacht in ihrem Zimmer verbracht hatte, fing sofort zu bellen an.

 

Als sie die Tür öffnete, stand Betty vor ihr und brachte das Frühstück. Sie sah blass und übernächtigt aus.

 

Guten Morgen Miss Flint“, begrüßte sie das Mädchen und stellte das silberne Tablett ab. Als sie Ricky sah, streichelte sie den Hund und fragte die Hausherrin, ob sie ihm etwas zum Fressen bringen soll.

 

Ich habe mein Auto oben an der Straße stehen. Im Kofferraum liegen ein paar Säcke mit Hundefutter. Ich werde es nachher selbst holen und Ricky damit füttern. Du kannst ihm aber schon mal etwas zu trinken hinstellen. Ich glaube er ist durstig.“

 

Betty nickte zerstreut. Sie schien etwas auf dem Herzen zu haben.

 

Zuerst dachte ich, Sie hätten bereits in der Küche gefrühstückt als ich heute morgen nach unten kam. Auf dem Tisch standen bereits einige Frühstücksgedecke, die alle benutzt worden waren.“

 

Ach so, ja. Wir hatten in der Nacht einige Gäste“. Dann erzählte Miss Flint von ihren Beobachtungen und den seltsamen Vorkommnissen in der alten Brauereihalle.

 

Mir macht das alles irgendwie Angst, Miss Flint. Die Männer sind gefährlich. Die führen irgend etwas im Schilde. Sie sollten die Polizei rufen und nachsehen lassen, was sie in der alten Brauerei zu verbergen haben.“

 

Vielleicht ist es dazu noch zu früh. Ich werde aber heute noch runter nach Blairhall fahren und Mr. Stone anrufen. Unsere Telefone sind tot und der Störungsdienst wird wohl noch einige Zeit brauchen, bis alles wieder funktioniert.“

 

Dann schickte sie Betty weg.

 

Nach dem Frühstück holte sie den Wagen und parkte ihn in der Garage. Das Futter für Ricky nahm sie gleich mit, füllte eine Schale damit auf und stellte sie nach draußen auf die Treppe. Als sie den Schäferhund von der Leine ließ, rannte dieser sofort aus dem Schlafzimmer über die Holztreppe runter durch die offene Tür nach draußen auf den Hof. Miss Flint rief ihn zurück und zeigte ihm den gefüllten Napf. Sofort war Ricky wieder zur Stelle und fiel mit Heißhunger über das Futter her.

 

Plötzlich stand Mrs. Weedman hinter ihr.

 

Wieso haben Sie einen Hund mit ins Haus gebracht?“ fragte die alte Frau mürrisch.

 

Ich sehe keinen Grund, warum ich keinen Hund halten sollte. Ricky ist ein besonders aufmerksames Tier, das ich hier gut brauchen kann. Der Hund wird die anderen wohl kaum stören, höchstens nächtliche Besucher ihres Sohnes. – Übrigens, was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht, ohne meine persönliche Zustimmung hier in meinem Haus jemanden übernachten zu lassen?“

 

Ich weiß nicht, was Sie meinen, Miss Flint. Ich habe die ganze Nacht durchgeschlafen und verbitte mir derartige Anspielungen. Damit habe ich nichts zu tun. Da müssen Sie schon meinen Sohn fragen. Leider ist er heute nicht da.“

 

Wütend drehte sich die alte Haushälterin herum und verschwand im Innern des Hauses.

 

Nach dem Mittagessen machte Miss Flint einen ausgedehnten Spaziergang. Sie ging ein Stück die Hauptstraße entlang bis zur Abzweigung und dann rüber über ein paar Felder den Hügel hinauf, der sich hinter der alten Brauerei erhob. Ein verwilderter Pfad führte durch das Dickicht, den sie von hier oben deutlich erkennen konnte. Er endete am Tor der verwitterten Brauereimauer, wo sich eine kleiner Durchbruch befand, der gerade so groß war, dass sie hindurch passen würde. Interessiert folgte sie dem Pfad, kam bald an den besagten Mauerdurchbruch, krabbelte mit Ricky hindurch und stand im nächsten Moment schon auf der anderen Seite. Dann hörte sie ein deutlich kratzendes Geräusch aus dem vor ihr liegenden Gebäude.

 

Vor Aufregung blieb ihr fast das Herz stehen, als sie durch das hohe Gras auf das Gebäude zu schlich und durch das hintere Eingangstor spähte. Sie sah, wie Mark Weedman im Innenhof damit beschäftigt war, einen Stapel Kisten abzutragen und durch eine kleine Maueröffnung schob. Auch der Lastwagen stand nicht mehr da. Sicher war er derselbe, den sie in der Nacht gesehen hatte und der dann weggefahren war. Hatte er diese Kisten gebracht? Und was enthielten sie?

 

Miss Flint zwang sich zum nüchternen Denken.

 

Der Lastwagen gehörte Marks Freund Fred White, wenn sie damit richtig lag, dass das der Mann mit den wilden schwarzen Haaren war.

 

Sie konzentrierte sich und fasste zusammen.

 

Der Typ darf den LKW hier abstellen und hilft Mr. Weedman dabei, das schadhafte Gebäude zu reparieren. Doch warum geschah das niemals am Tag? Alles passierte nachts. Tagsüber waren die Brauereigebäude zudem verriegelt. Enthielten die Kisten Baumaterial? Das hätte man ihr sagen müssen. Außerdem waren bisher keine Rechnungen aufgetaucht, die Angaben über gekauftes Baumaterial enthielten. Also musste in den Kisten etwas anderes sein.

 

Bei dieser Vorstellung überfiel sie eine heftige Angst. Wenn Mr. Weedman wirklich etwas Ungesetzliches tat und sie ihn dabei ertappte, konnte es sein, dass er möglicherweise kurzen Prozess mit ihr machte. Sie traute diesem Kerl ohne weiteres zu, was für ihn sicherlich kein Problem war, in den hier stehenden, halbverfallenen Gebäuden einen Unfall vorzutäuschen.

 

Langsam trat sie mit Ricky den Rückzug an. Der Hund verhielt sich vorbildlich, als ahnte er, was hier abging. Sie machte einen kleinen Umweg, um nicht aufzufallen, erreichte bald den Hof und ging ins Haus, um mit Mrs. Weedman bestimmte Punkte der Haushaltsführung durchzusprechen. Das Gespräch dauerte nicht lange und nach dem Abendessen ging Miss Flint in ihre Räume hinauf.

 

Als die junge Frau ihren Wohnraum betrat, hatte sie das seltsame Gefühl, als wenn noch jemand anders in diesem Zimmer gewesen wäre. Ein ganz schwacher, süßlicher Tabakgeruch hing im Raum.

Sie wusste, das Mark Weedman Pfeifenraucher war.

 

Und dann, ganz unvermittelt, entdeckte sie den kleinen Schraubenzieher, der halb verborgen unter dem Sessel lag. War der Sohn von Mrs. Weedman hier oben gewesen? Miss Flint hob den Schraubenzieher auf und legte ihn auf den Tisch gleich neben die Blumenvase. Dann holte sie sich ein Buch aus dem Regal und machte es sich im Sessel bequem.

 

Draußen erhob sich ein starker Wind. Er wurde immer heftiger, heulte und pfiff bald durch alle Ritzen. Die großen Laubbäume des kleinen Wäldchens rauschten wie die anbrandenden Wellen einer Meeresküste. In der Ferne war ein rumpelndes Donnergrollen zu hören. Die junge Frau war so in ihrer Lektüre vertieft, dass sie von alledem nichts mitbekam. Erst als die kleine Stubenuhr auf dem Kaminsims zwölfmal schlug, hob sie den Kopf und lauschte den Klängen der Uhr gedankenverloren nach.

 

Mitternacht, Geisterstunde! dachte sie mit einem merkwürdigen Gefühl in der Bauchgegend. Sie klappte das Buch zusammen und wollte ins Bett gehen. Sie stand auf und begann sich auszukleiden.

 

Plötzlich hörte sie ein seltsam scharrendes Geräusch. Es schien von gar nicht weit her zu kommen. Dazwischen vernahm sie immer wieder ein unterdrücktes Schluchzen. Ein Gänsehaut überzog Miss Flints Rücken. Sie hielt den Atem an, schaltete das Licht aus, ging leise rüber ins Bad, schlüpfte in den Schlafanzug und schlich hinüber zum Fenster.

 

Gerade als sie den Vorhang etwas zur Seite schob, erhellte ein greller Blitz die nächtliche Dunkelheit. Für Bruchteile von Sekunden sah Miss Flint etwas metallisches aufblitzen, konnte aber nicht erkennen, was es war. Danach war alles wieder in tiefe Finsternis getaucht. Auch die alten Brauereigebäude lagen vollkommen im Dunkeln. Sie schob vorsichtig den Vorhang zurück und begab sich ins Bett. Doch kaum hatte sie die weiche Daunendecke zugezogen, als sie erschreckt wieder in die Höhe fuhr.

 

Das laute Geräusch war diesmal nicht zu überhören. Es kam von draußen und hörte sich an, als lande ein Flugzeug mit heulenden Turbinen.

 

Ein Zittern überkam Miss Flints Körper. Sie verließ das Bett, schaltete das Zimmerlicht ein, das aber im selben Moment wieder erlosch.

 

Jemand hatte wohl absichtlich den Strom abgeschaltet.

 

Kalter Schweiß stand der jungen Frau jetzt auf der Stirn. Sie wollte in der Dunkelheit nach Hilfe rufen, brachte aber keinen Laut heraus. Sie stolperte ins Bett zurück, kroch ängstlich immer weiter unter die Decke, bis nur noch die Augen herausschauten. Miss Flint seufzte und versuchte sich zu beruhigen. Wie gerne hätte sie jetzt den Schäferhund bei sich gehabt. Aber sie hatte dem Dienstmädchen erlaubt, ihn mit auf sein Zimmer zu nehmen, weil Ricky ein aufmerksamer Hund war, der jeden heimlichen Schleicher sofort entdeckte. Betty fühlte sich einfach mit dem Hund sicherer in diesem Haus.

 

Plötzlich ging das Licht wieder an. Elli Flint erschrak, doch dann dachte sie daran, dass wohl die Stromversorgung durch das Gewitter unterbrochen worden war. Sie löschte das Licht wieder und rollte sich nach einer Weile auf die Seite. Bald war sie eingeschlafen.

 

***

Am Morgen erwachte die junge Frau mit schmerzenden Gliedern. Es war ein trüber, grauer Morgen, als sie aus dem Fenster schaute. Das schlechte Wetter brachte sofort die Erinnerungen an die Schrecken der letzten Nacht zurück. Sie war sich allerdings jetzt nicht mehr so sicher, ob sie all diese unheimlichen Geräusche bei vollem Bewusstsein gehört hatte.

 

Es klopfte an der Tür und Betty trat mit dem Frühstückstablett ein. Ihre Augen waren angstvoll auf die Hausherrin gerichtet.

 

Haben Sie es auch gehört, Miss Flint? Es war wieder da...in der Nacht.“

 

Ja, ich habe sie ebenfalls gehört. Es hat sich angehört wie die laufenden Turbinen eines Flugzeuges. Aber ich kann mir beim besten Willen nicht erklären, wer oder was dieses Geräusch erzeugt hat. Trotzdem muss es eine logische Erklärung dafür geben. Es gibt für alles eine logische Erklärung. Es gibt keine Geister und Gespenster“, sagte Miss Flint zu ihrem Dienstmädchen mit zuversichtlicher Überzeugung.

 

Und wenn doch, Miss Flint? Ich meine, wenn es was anderes ist, als wir denken oder vermuten.“

 

Miss Flint schüttelte energisch den Kopf.

 

Nein, mein liebes Kind. Es muss für die Ereignisse hier auf dem Anwesen meines Onkels eine logische Erklärung geben. Und ich werde sie finden.“

 

Als Miss Flint nach unten in die Küche ging, machte sie ein möglichst gleichgültiges Gesicht. Mrs. Weedman war gerade dabei, einige Töpfe einzuräumen. Als sie die junge Herrin sah, schien sie etwas verlegen und unschlüssig zu wirken. Doch schien das nur äußerlich so zu sein.

 

Haben Sie gut geschlafen, Miss Flint?“ erkundigte sie sich und fuhr fort: „Ich denke mal, nein. Sicher wissen Sie jetzt auch, dass es in der alten Brauerei Ihres verstorbenen Onkels spukt. Jetzt, wo sie da sind, eine Angehörige der Familie Flint, fängt das Ganze wieder von neuem an.

 

Miss Flint zog die Augenbrauen hoch.

 

Wollen Sie damit sagen, dass ich an allem schuld bin, Mrs. Weedman?

 

Die alte Frau nickte.

 

Aber das ist doch lächerlich. Es gibt für diese Vorgänge mit Sicherheit eine Erklärung. Wir leben nicht mehr im Mittelalter, als die Menschen aus Angst vor Geister und Gespenster gestorben sind.“

 

Nicht für die Vorgänge hier“, beharrte die alte Wirtschafterin. Auf ihren Wangen bildeten sich auf einmal hektische rot Flecken. Ihr Gesicht schien sich zu verändern, für wenige Sekundenbruchteile nur.

 

Aber Sie werden sie schon noch merken und am eigenen Leib zu spüren bekommen, auch wenn Sie sich jetzt so überlegen geben“, sagte sie und fuhr im gehässigen Ton fort, „und ich kann Ihnen jetzt schon sagen, dass Sie schon sehr bald die Flucht ergreifen werden. – Wenn Sie können...“

 

Die Worte der alten Frau ließen Mrs. Flint aufhorchen. Und als sie dem hasserfüllten lauernden Blick der Wirtschafterin begegnete, kam in ihr eine fürchterlicher Verdacht auf. Griffen die Weedmans bereits zu solchen Mitteln, um sie von hier zu vertreiben? Oder fürchteten sie sich nur davor, dass ich eines Tages etwas entdecken könnte, das sie sorgfältig geheim zu halten versuchten? In diesem Zusammenhang fiel ihr der Tod ihres Onkels wieder ein, der an Herzversagen gestorben sein soll. Hatten die Weedmans vielleicht ein bisschen nachgeholfen?

 

Miss Flint fühlte, wie ihr der kalte Schweiß über die Stirn lief. Die düstere Vorahnung einer drohenden Gefahr rollte wie ein große Woge auf sie zu. Hastig verließ sie die Küche und ging nach draußen.

 

Auf dem Hof angekommen, beschloss zu kurzerhand einen kleinen Spaziergang zu machen. Sie wollte einfach nur frische Luft schnappen und sich etwas entspannen.

 

Sie ging wieder in Richtung des kleinen Wäldchen. Plötzlich entdeckte sie auf dem Feldweg ein Auto, das jemand anscheinend dort geparkt hatte. Als sie sich dem Wagen näherte, stieg ein Mann aus und kam ihr entgegen.

 

Elli Flint musterte ihn erst misstrauisch, doch dann hatte sie das Gefühl, dass ihr von ihm keine Gefahr drohen würde. Im Gegenteil! Sie spürte, dass ihre Sympathie ihm förmlich entgegenflog und dies eine schicksalhafte Begegnung war.

 

Der fremde Mann mochte ein paar Jahre älter als sie sein. Sie schätze ihn auf etwa achtundzwanzig Jahre. Er hatte eine überaus sportliche Figur, war ungefähr einsachtzig groß und strahlte viel Männlichkeit aus. Die kastanienbraunen Haare hingen ihm keck in die Stirn und seine blauen Augen leuchteten wie zwei Diamanten. Sein stets lächelnder Mund machte ihn doppelt sympathisch.

 

Die junge Frau starrte ihn fasziniert an.

 

Großer Gott, was für ein Mann! dachte sie.

 

Als er auf ihrer Höhe war, grüßte er sie gut gelaunt.

 

Guten Tag, schöne Maid. Sie sind sicher das Hausmädchen der Familie Flint.“

 

Sie blickte ihn an und grüßte freundlich zurück. Dann korrigierte sie ihn.

 

Sie werden es vielleicht nicht glauben, mein Herr“, sagte sie neckend, „aber ich bin die neue Besitzerin der alten Brauerei meines Onkels Lionel Flint, der erst kürzlich verstorben ist. Ich kann also nicht das Haus- oder Dienstmädchen sein...“

 

Sie schaute dabei an sich herunter und betrachtete die verdreckten Gummistiefel. Dann lachte sie.

 

Oh, entschuldigen Sie vielmals, Miss...“

 

...Miss Elli Flint. Ich komme aus der Gegend von Alloa und wohne seit einer zirka Woche hier auf dem Anwesen der Brauerei. Darf ich wissen, wer Sie sind?“

 

Äh.., ich heiße Heinz-Walter Hoetter“, stammelte der junge Mann sichtlich verwirrt. „Es tut mir wirklich leid, Miss Flint, aber...“

 

Schon gut“, unterbrach ihn die junge Frau lachend. Ich bin in diesem Aufzug selber schuld an dieser Verwechslung. Aber selbst wenn ich spazieren gehe, lege ich meine Arbeitskleidung nicht immer ab.

 

Mr. Hoetter schenkte ihr einen bewundernden Blick aus seinen blauen Augen. Dass das Mädchen ihm auf Anhieb gefallen hatte, war unschwer zu erkennen. Auch Elli Flint ging es nicht anders. Ihr Herz begann schneller zu schlagen, und sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass der nette junge Mann nie wieder aus ihrem Leben verschwinden möge.

 

Dann fragte sie ihn, wohin er wollte, da der Weg direkt zum Anwesen der Flints führen würde.

 

Ja, in der Tat, ich war auf dem Weg zur alten Brauerei“, erwiderte der junge Mann spontan, „oder genauer gesagt, zu Ihnen, Miss Flint. Wissen Sie, ich bin Schriftsteller und arbeite gerade an einem Buch über geheimnisvolle Begebenheiten und unerklärliche Vorkommnisse. Ich wollte Sie eigentlich darum bitten, mir Gelegenheit zu geben, die alten Gebäude auf Ihrem Gelände ansehen zu dürfen. Ich suche Inspirationen. Sicher sind die Anlagen noch erhalten und es existieren vielleicht sogar irgendwelche historisch wertvolle Unterlagen im Archiv Ihres verstorbenen Onkels, die für mich sehr nützlich sein könnten.“

 

Oh, Sie sind Schriftsteller“, sagte die junge Frau beeindruckt. „Natürlich dürfen Sie mich jederzeit besuchen kommen. Ich würde mich sogar darüber freuen, Ihnen alles zu zeigen. Ich würde Ihnen wirklich gerne dabei helfen, dass Ihr Buch ein interessantes, aufschlussreiches und informatives Lesewerk wird, Mr. Hoetter.“

 

Das ist überaus nett von Ihnen, Miss Flint. Ich bin hoch erfreut darüber, dass Sie mir soviel Vertrauen entgegenbringen. Das ist nicht alltäglich“, sagte der junge Mann. „Hätten Sie vielleicht auch ein Zimmer für mich? Selbstverständlich bezahle ich für Unterkunft und Verpflegung.“

 

Dagegen habe ich etwas. Sie dürfen aber mein Gast sein“, bestimmte Elli Flint kurzerhand. „Sie können solange in meinem Haus wohnen, wie es Ihnen gefällt.“

 

Die Aussicht, diesen wirklich gutaussehenden jungen Mann nun jeden Tag um sich zu haben, verursachte ein äußerst aufregendes Kribbeln in Elli Flint. Allein bei dem Gedanken schnellte ihr Puls in die Höhe.

 

Sind Sie schon länger hier in der Gegend, Mr. Hoetter, nicht wahr.“

 

Der junge Mann sah sich verlegen um.

 

Ja, das stimmt. Ich kam gestern mitten in der Nacht hier an und konnte sie doch unmöglich stören. Ich blieb deshalb im Wagen, und wollte jetzt einen Spaziergang machen und Sie bei dieser Gelegenheit besuchen“, sagte er.

 

Was? Sie haben die ganze Nacht in Ihrem Auto verbracht?“ fragte Miss Flint verwundert. Im gleichen Moment erinnerte sie sich daran, dass sie vor nicht allzu langer Zeit in einer ähnlichen Situation gewesen war.

 

Warum sind Sie nicht nach Blairhall gefahren und haben sich dort ein Hotelzimmer gesucht“, fragte sie weiter.

 

Weil..., weil es einfach schon so spät war und ich keine Lust mehr hatte, draußen in der nasskalten Nacht herumzufahren. Während er sprach, setzte er sich ins Auto und startete den Motor.

 

Elli Flint beäugte ihn verstohlen von der Seite, setzte sich dennoch zu ihm in den Wagen auf den Beifahrersitz und beide fuhren sie zusammen den kurzen Weg nach Hause. Sie hatte zu ihm Vertrauen und fühlte sich zu ihm hingezogen. Trotz ihrer derzeitigen Schwierigkeiten mit einem Teil des Personals und des neuen Besitzes durfte sie ihr Misstrauen nicht auch auf ihn ausdehnen. Sie hatte einen guten Freund zur Zeit bitter nötig. Und sie dachte ein Stück weiter. Vielleicht, wenn er länger bei ihr wohnen bleiben würde, könnte er ihr dabei helfen herauszufinden, was hier nicht stimmte.

 

 

***

 

Als Miss Flint zusammen mit ihrem Gast ins Haus trat, rief sie sofort nach Mrs. Weedman und dem Dienstmädchen Betty. Mark Weedman schien nicht da zu sein.

 

Als sich alle in der geräumigen Eingangshalle versammelt hatten, trat die jung Hausherrin vor und wies auf den jungen Mann neben ihr.

 

Das ist Mister Heinz-Walter Hoetter, unser neuer Gast. Mr. Hoetter ist Schriftsteller und arbeitet zur Zeit an einem Buch. Er ist auf der Suche nach verlassenen Häusern, alten Gebäuden und verfallenen Gemäuern, die für ihn eine gewisse Inspiration darstellen. Ich wünsche, dass er eines der neu renovierten Zimmer auf dem oberen Gang im ersten Stock bekommt. Er wird mit uns alle Mahlzeiten einnehmen und darf sich auf dem gesamten Gelände frei bewegen.“

 

Das Dienstmädchen Betty nickte mit dem Kopf und begrüßte den Mann freundlich. Nur Mrs. Weedman starrte den neuen Gast an, wie einen Außerirdischen.

 

Sie wissen doch, Miss Flint, dass wir hier keine Fremden haben wollen“, knurrte sie gehässig.

 

Die junge Frau war erbost über diese unfreundlichen Worte. Im Beisein von Mr. Hoetter wandte sie sich an die alte Dame und sagte zu ihr: „Was Sie wollen, ist mir egal, Mrs. Weedman. Sie werden sich nach meinen Wünschen ausrichten oder ich hole mir eine neue Wirtschafterin“, sagte sie hart.

 

Mrs. Weedeman lief leichenblass an, sagte aber kein Wort mehr, sondern verließ auf der Stelle den Raum.

 

Nach diesem unfreundlichen Ereignis entschuldigte sich Miss Flint bei ihrem Gast und führte ihn durchs ganze Haus. In der Bibliothek, wo sie zum Schluss hinkamen, ließen sie beide zu einem Drink nieder. Mr. Hoetter zeigte sich von den alten Fachbüchern tief beeindruckt.

 

Ich sehe schon, dass es hier einen reichhaltigen Bücherfundus gibt. Das hätte ich mir nie zu träumen gewagt. Ich frage mich nur, wann ich das alles lesen soll.“

 

Oh, Sie können hier bleiben, solange Sie es für nötig halten“, erwiderte die junge Frau und fühlte, wie ihr eine leichte Röte über die Wangen kroch.

 

Der junge Mann bedankte sich mit einem freundlichen Lächeln.

 

Ich bin darüber sehr froh, Miss Flint.“ Dann schaute er zum Fenster hinaus und deutete auf die alten Brauereigebäude.

 

Wie stets mit denen da drüben? Kann man die Gebäude besichtigen und sind die Anlagen noch vorhanden?“

 

Nein... ja, das heißt...die Tore sind...“

 

Die hübsche Hausherrin wusste auf einmal nicht, was sie sagen sollte. Sie schämte sich dafür, dass sie ihren Besitz nicht einmal richtig kannte.

 

Sie entschloss sich dazu, Mr. Hoetter die Wahrheit zu sagen. Sie sprach von dem widerspenstigen Person, dem Lastwagen, den fremden Männern in der Nacht und dass Mark Weedman ihr untersagt hatte, die Gebäude innen zu betreten, er selbst jedoch mit seinen engsten Freunden darin ein und ausging. Auch von den seltsamen Geräuschen berichtete sie ihm, die sie des nachts in Angst und Schrecken versetzt haben.

 

Der junge Mann hörte ihr interessiert zu. Zu interessiert, wie sie fand, aber sie machte sich keine weiteren Gedanken. Sie war froh darüber, sich jemanden anvertrauen zu können.

 

Nach dem Mittagessen verlangte sie von Mark Weedman energisch die Schlüssel zu den alten Brauereigebäuden. Mit einiger Genugtuung sah sie, wie Mr. Weedman erblasste. Doch sein hasserfüllter Blick jagte ihr einen gehörigen Schrecken ein.

 

Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich niemanden den Zugang ins Innere der Gebäude gewähren kann, außer dem arbeitenden Personal, die sich um die Instandhaltung kümmern, Miss Flint“, sagte er mit scharfer Stimme, „und Fremde haben da drüben schon gar nichts verloren. Haben Sie die Folgen schon bedacht, wenn ihnen oder Ihrem Begleiter etwas zustoßen würde?“

 

Das müssen Sie mir nicht erzählen. Sie verstoßen ja ständig dagegen, Mr. Weedman. Wir wollen vorläufig ja auch nur den Innenhof besichtigen“, erklärte Miss Flint und streckte ungeduldig die Hand nach den Schlüsseln aus.

 

Mark Weedman fiel es anscheinend sehr schwer, sich jetzt noch zu beherrschen.

 

Ich komme auf jeden Fall mit“, sagte er dann etwas freundlicher, „bitte gedulden Sie sich noch ein paar Minuten, ich möchte mich nur von meinem Freund verabschieden.“

 

Miss Flint blickte ihm skeptisch hinterher. Dieser Mann besaß eine unglaubliche Dreistigkeit. Er schien sie immer noch wie eine Fremde zu behandeln, obwohl er genau wusste, dass sie die neue Herrin war. Aber vielleicht würde sich schon bald eine günstige Gelegenheit ergeben, um ihn ein für allemal loszuwerden. Dieser Kerl war für sie untragbar.

 

Draußen vor der Tür traf Mr. Weedman auf seine Mutter. Er hielt sie am Arm fest und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Dann verschwand er hastig.

 

Gehen wir doch einstweilen schon mal rüber, Miss Flint“, schlug der junge Schriftsteller plötzlich vor, „Sie können mir ja vorher noch das Grundstück zeigen, wenn es Ihnen recht ist.“

 

O nein, bleiben Sie doch bitte noch da“, rief Mrs. Weedman auf einmal etwas schrill aus der Küche. „Ich wollte Ihnen eben eine Eistorte in der Bibliothek servieren.“

 

Und schon kam sie mit diesen Worten aus der Küche und trug ein wahrhaftes Kunstwerk von Eis und Biskuits vor sich her. Ohne einen Einwand abzuwarten, steuerte sie damit auf die Bibliothek zu.

 

Ein Eistorte? Das ist ja wunderbar! Darauf hätte ich jetzt einen Riesenappetit.“

 

Ohne zu zögern folgte Mr. Hoetter der alten Frau und Miss Flint ärgerte sich darüber, dass sie keine Möglichkeit hatte, die Sache zu ändern. Sie wollte ihren Gast nicht verprellen. Deshalb ging sie ebenfalls rüber in die Bibliothek und ließ sich ein Stück von der Eistorte geben.

 

Ich kann Ihnen viele interessante Geschichten erzählen, junger Mann. Die Bücher hier in der Bibliothek sind ein Vermögen wert. Teilweise sind es richtige kleine Kunstwerke und älter als wir alle zusammen genommen. Können Sie sich vorstellen, was die bei einer Auktion bringen würden? Mr. Lionel Flint hatte zu Lebzeiten schon sehr früh damit begonnen, einen Teil seiner sehr wertvollen Bücher schätzen zu lassen. Als er einige davon schließlich versteigern ließ, war der Erlös gewaltig. Und das waren nur ein paar ganz wenige Exemplare aus dem vorhandenen, uralten Familienbesitz. Eigentlich gehören sie gar nicht hierhin. Sie sind von unschätzbarem Wert. Stellen Sie sich nur vor, Diebe brechen ins Haus ein und würden diesen wertvollen Kulturschatz rauben. Das wäre eine Katastrophe für uns alle.“

 

Miss Flint hätte die alte Frau am liebsten auf den Mond geschossen. Sie ärgerte sich maßlos darüber, dass der junge Mann mit der Wirtschafterin so ins Gespräch vertieft war und löffelt deshalb missmutig ihr Eis.

 

Plötzlich hörte sie ein lautes Motorengeräusch. Der jungen Mr. Hoetter schien sich nichts dabei zu denken, aber in den Augen der alten Frau blitzte es befriedigt auf.

 

So ist das also. Man hatte sie auf raffinierte Art und Weise reingelegt, dachte Elli Flint wütend und warf einen Blick durchs Fenster. Sie konnte zwar nicht erkennen, aber sie wusste auch so, dass eben der Lastwagen aus dem Innenhof der Brauerei gefahren wurde. Sie und ihr Gast Mr. Hoetter sollten den Lastwagen nicht sehen und unter die Lupe nehmen können. Sicherlich hatte er etwas geladen, was niemand wissen sollte.

 

Nach einer Weile verabschiedete sich Mrs. Weedman mit einem triumphierenden und gehässigen Blick auf ihre Herrin. Plötzlich erschien auch wieder ihr Sohn auf der Bildfläche und tat so, als wäre nichts geschehen.

 

Wollen wir jetzt gehen?“ fragte Miss Flint den jungen Mann, der sogleich nickte und sich aus dem Sessel erhob. Eigentlich hatte sie keine Lust mehr, mit ihm hinüberzugehen. Mark Weedman hatte ja Zeit genug gehabt, alles zu vertuschen. Sie würde kaum noch etwa Interessantes oder Verbotenes entdecken.

 

Wenige Minuten später betraten sie alle gemeinsam den Innenhof, in dem noch die Reifenspuren von dem LKW zeugten. Ein paar Backsteinhaufen waren an den Wänden aufgeschichtet worden. Daneben lagen Bretter und ein Betonmischer stand in er Nähe einer schadhaften Mauer, die wohl erst vor kurzem ausgebessert worden ist.

 

Während Mark Weedman ihrem Gast alles erklärte, schaute sich die junge Frau um. Ihr Blick fiel dabei zufällig auf ein vergittertes Fenster, das sich etwa einen halben Meter über dem Boden in einer alten Ziegelmauer befand. Es sah aus wie ein altes Kellerfenster. Dahinter konnte sie nichts als pechschwarze Dunkelheit erkennen. Als sie sich dem Gitter unauffällig näherte, roch es förmlich nach Geheimnis, Tod und Verbrechen. Vielleicht ein Kerker mit Leichen?

 

Die junge Frau erschrak vor ihren eigenen Gedanken und schüttelte sich vor Entsetzen. Ihr Angstgefühl verstärkte sich noch weiter, als sie einen Kellerschacht sah, in den Mark Weedman vor ein paar Tagen anscheinend noch Kisten runter gebracht hatte. Jetzt war er bis zum Rand mit altem Baumaterial zugeschüttet worden.

 

Mark Weedman warf ihr einen eigentümlichen Blick zu. Offenbar beobachtete er sie, was sie tat.

 

Miss Flint hat vor, das Gebäude abreißen zu lassen“, hörte sie ihn gerade laut sagen. „Aber es steht unter Denkmalschutz, und es wäre ja wohl auch schade darum.“

 

Kann mir bitteschön jemand einen anderen Vorschlag machen“, sagte sie, als sie zu den beiden Männern getreten war.

 

Ich würde eine Kernsanierung durchführen lassen und ein Museum daraus machen. Die meisten Geräte und Kessel sind schließlich noch hier, und die wertvollen alten Bücher samt historischen Trinkgefäße könnte man in sicheren Panzerglasvitrinen ausstellen“, meldete sich Mark Weedman zu Wort.

 

Keine schlechte Idee“, gab der junge Gast anerkennend zu. „Sie könnten vielleicht sogar zusätzlich noch ein Gasthaus bauen lassen und die Sache hätte somit Hände und Füße. Interessenten würden bestimmt nicht ausbleiben. Zusätzlich müssten noch genügend Parkplätze gebaut und die Zufahrtstraße erweitert werden, wegen der Busse mit den zahlungskräftigen Urlaubsgästen, die dann zu erwarten wären“, meinte Mr. Hoetter.

 

Miss Flint starrte den jungen Mann verblüfft an. Die Idee war wirklich nicht schlecht, zudem so ein aufwändiges Projekt sicherlich mit staatlicher Unterstützung rechnen könnte. So käme sie in den Genuss von nicht unerheblichen Zuschüssen und könnte ihr eigenes Vermögen schonen.

 

Dann blickte sie zu Mark Weedman hinüber, der mit den Händen in den Hosentaschen gelangweilt dastand. Im Prinzip kam der Vorschlag ja von ihm, aber in seinen Augen glaubte sie, eine Warnung zu lesen.

 

Außerdem konnte sie sich keinen Reim darauf machen. wieso ausgerechnet er ihr jetzt dazu riet, ein Museum daraus zu machen? Sie hatte doch ehr den Eindruck gehabt, als wolle man sie von hier vertreiben.

 

Alle drei machten später noch einen Rundgang und ihr Gast und sie durften sogar eine Halle betreten, in der riesige Kupferbottiche standen. An einer Stelle war die Decke durchbrochen, und Miss Flint konnte sich selbst davon überzeugen, dass es ein große Gefahr darstellte, die Gebäude zu betreten. Sie wurde immer unsicherer und verwirrter. Gab es hier in der alten Brauerei überhaupt ein Geheimnis? Langsam zweifelte sie daran.

 

Sie atmete einmal tief durch. Dann fielen ihr wieder die Kisten und der verschüttete Kellergang ein. Es sah trotzdem so aus, als wenn Mr. Weedman und seine alte Mutter etwas zu verbergen hatten. Sie würde schon noch dahinter kommen, dachte sie so für sich selbst.

 

Nachdem sie wieder ins Haus zurückgekehrt waren, bekam Mr. Hoetter ein hübsches Zimmer in der Nähe von Miss Flints Räumen. Sie half ihm dabei, es entsprechend häuslich einzurichten.

 

Während sie das Fenster des Zimmers öffnete, um den Raum zu lüften, fing der junge Mann plötzlich an zu reden.

 

Ist es für eine so hübsche Frau wie Sie, Miss Flint, hier nicht ein wenig zu einsam?“ fragte er rundheraus.

 

Nun ja, wie man’s nimmt. Ja doch, eigentlich schon. Jedenfalls für jemanden wie mir, der eigentlich aus der Stadt kommt. Es ist schon eine Umstellung. Aber es kommt darauf an, mit wem man zusammenlebt und wie man sich versteht, denke ich mal. Dann wird so manches erträglicher. Aber ob ich auf Dauer hier bleiben werde, wird sich dann noch herausstellen.“

 

Wie finden Sie die Idee mit dem Museum?“ wollte Mr. Hoetter wissen.

 

Eigentlich nicht so schlecht. Geld wäre für so ein Projekt mehr als genug da. Die Einnahmen würden bald die Ausgaben wett machen. Ich arbeitete vor meiner Erbschaft in einer Anwaltskanzlei und kam immer wieder mit Geschäftsleuten in Kontakt, die ähnliche Projekte an ebenso weit abgelegenen Orten durchzogen. Sie waren alle erfolgreich. Außerdem kämen wieder viele Gäste nach Blairhall und in die alte Flint’sche Brauerei. Dann wäre hier wieder ganz schön was los und die Einsamkeit dahin.“

 

Und dann gäbe es sicher noch einen jungen Mann, der Sie heiratet und bei Ihrer anstrengenden Arbeit unterstützt“, sagte Mr. Hoetter mit einem fast bedauerlichen Gesichtsausdruck.

 

Miss Flint errötete bis unter die blonden Haarwurzeln.

 

Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Aber bestimmt wird mir eines schönen Tages ein schöner Märchenprinz über den Weg laufen und mich vom Fleck weg heiraten“, sagte sie mit verschmitztem Lächeln.

 

In Gedanken aber fragte sie sich, ob sie das nicht schon war und schaute dem jungen Mann dabei tief in die Augen.

 

Der Schriftsteller war ein Mann, den sie lieben könnte, auch wenn sie nicht viel von ihm wusste und ihn erst seit wenigen Stunden kannte.

 

Sie saßen noch lange zusammen an diesem Abend. Als Miss Elli Flint weit nach Mitternacht ihrem männlichen Gast eine gute Nacht wünschte, hatte sie das schöne Gefühl, einen guten, verlässlichen Freund gefunden zu haben.

 

Und vielleicht, wenn das Schicksal es so wollte, noch ein bisschen mehr...

 

***

 

Der Mond schien bleich wie ein trübe Funzel in Miss Flints Schlafzimmer. Sie lag mit offenen Augen im Bett und konnte nicht schlafen.

 

Ricky, der treue Schäferhund lag, alle Viere von sich gestreckt, auf einer warmen Decke unter dem Fenster und schlief. Manchmal zuckte er zusammen und knurrte dabei, als würde er im Traum jemanden verfolgen.

 

Plötzlich glaubte Miss Flint, draußen auf dem Flur Schritte zu hören. Auch der Hund war wach geworden und spitzte die Ohren. Er sah zur Schlafzimmertür rüber.

 

Wer mochte mitten in der Nacht auf dem Gang herumschleichen. Vielleicht ihr neuer Gast?

 

Die junge Frau verließ das Bett, ging entschlossen zur Tür, öffnete sie vorsichtig und schaute auf den Gang hinaus. Doch alles war vollkommen finster und leise.

 

Schon wollte sie wieder die Tür schließen, als sich hinten am Fenster ein Schatten bewegte. Elli Flint erschrak. Die Angst schnürte ihr die Kehle zu. Am liebsten hätte sie laut um Hilfe gerufen. Doch dann riss sie sich zusammen.

 

Ist da jemand?“ rief sie mit erstickter Stimme in den Gang hinein. Doch nichts und niemand rührte sich. In diesem Moment fiel ihr die Taschenlampe ein, die sie gleich neben der Tür auf ein kleines Regal gestellt hatte, sozusagen für alle Fälle. Schnell griff sie nach ihr und leuchtete in die dunkle Ecke. Erleichtert stellte sie fest, dass sie sich getäuscht haben musste. Sie verschloss trotzdem die Tür und ging wieder ins Bett zurück.

 

Am nächsten Morgen machte sich Miss Flint sorgfältig zurecht. Sie wollte ihrem neuen Gast gefallen, das gestand sie sich offen ein. Sie hatte dem Dienstmädchen angeordnet, diesmal im Speisesaal frühstücken zu wollen.

 

Als sie dort ankam, saß der junge Mann bereits am Tisch und trank gerade seinen Kaffee. Ihr Herz klopfte, als sie ihn sah und mit einem freundlichen ‚Guten Morgen’ begrüßte. Er grüßte ebenso freundlich zurück.

 

Dann setzte sie sich zu ihm.

 

Haben Sie in ihrer ersten Nacht in meinem Haus gut geschlafen?“ erkundigte sie sich bei ihm.

 

Ich habe wunderbar geschlafen und fühle mich wie neugeboren“, sagte er mit einem frischen Lachen.

 

Und Sie, Miss Flint?“

 

Was sollte sie darauf antworten und wich seiner Frage murmelnd aus. Sie widmete sich schnell dem Frühstück. Sie hatte keine große Lust dazu, über den nächtlichen Vorfall mit ihm zu reden.

 

Als ihr Dienstmädchen später reinkam, um das benutzte Geschirr abzuräumen, sah Miss Flint, dass auch sie in der Nacht offenbar schlecht geschlafen und die Geräusche auch wieder gehört hatte. Miss Flint wusste, dass sie irgend etwas unternehmen musste, doch war ihr nicht klar, was.

 

Mr. Hoetter hatte sich mehrere Bücher aus der Bibliothek geholt und mit auf sein Zimmer genommen. Er schien bereits an seinem Manuskript zu schreiben. Jedenfalls gab er das vor. Miss Flint konnte ihn einmal sogar dabei beobachten, wie er heimlich, als er sich unbeobachtet fühlte, ein kleines Notizbuch aus seiner Hosentasche hervor holte und darin etwas hineinschrieb.

 

So ging das die ganze Zeit. Miss Flint blieben nur ein paar Stunden am Abend, wo sie mit dem jungen Mr. Hoetter bei einem Drink zusammensitzen und plaudern konnte. Aber diese Zusammenkünfte hatten genügt, um sich über ihre Gefühle zu ihm klar zu werden. Noch niemals zuvor in ihrem ganzen Leben hatte ein Mann auf sie einen solch starken Eindruck gemacht. Er schien ihre Gefühle ebenfalls zu erwidern, obwohl er es tunlichst vermied, sich ihr zu nähern.

 

Die beiden Weedmans standen der neuen Hausherrin nach wie vor feindselig gegenüber. Auch Mr. Hoetter gegenüber hatte die alte Wirtschafterin ihre Redseligkeit eingestellt und behandelte ihn mürrisch und voller Misstrauen.

 

Überhaupt schien etwas in der Luft zu liegen. Die Weedmans wirkten seltsam nervös und beobachteten die anderen Bewohner des Hauses mit lauernden Blicken.

 

Plötzlich fasste Miss Flint einen Entschluss, als sie sah, das Mr. Hoetter in der Bibliothek Platz genommen hatte und sich über ein paar alte Dokumente beugte, die er offenbar gründlich studieren wollte.

 

Die Gelegenheit war also günstig.

 

Sie ging nach oben in den Flur, sah sich nach allen Seiten vorsichtig um und öffnete dann leise die Tür ihres Gastes. Miss Flint hatte zwar ein unbehagliches Gefühl dabei, aber die Neugierde war einfach größer als ihre moralischen Bedenken. Sie wollte endlich einen Blick auf seine Arbeit werfen. Vielleicht fand sie auch etwas, das ihr mehr Aufschluss über Mr. Hoetter brachte.

 

Der wuchtige Schreibtisch war für einen Schriftsteller viel zu ordentlich aufgeräumt. Keine Bücher, kein lose herum liegendes Papier war zu sehen. Nur ein Laptop befand sich darauf, der aber geschlossen war. Auf dem polierten Deckel hatte sich eine kleine Staubschicht gebildet, was darauf hinwies, dass er wahrscheinlich nur selten benutzt wurde.

 

Miss Flint fragte sich, was Mr. Hoetter den ganzen Tag auf ihrem Gelände so trieb. Sie konnte es sich nicht erklären. Dann verließ sie den Raum wieder, schloss leise die Tür und ging wieder nach unten.

 

Als sie in die Bibliothek sah, war der junge Schriftsteller nicht mehr da. Sie erschrak etwas. Hatte er bemerkt, dass sie ihm nachspionierte?

 

Wo mochte er nur stecken?

 

Sie ging auf den Hof hinaus, wo sein Auto stand. Also konnte er nur irgendwo auf dem Gelände sein. Erleichtert atmete die junge Frau auf. Peinlich, wenn sie ihn in seinem Zimmer erwischt hätte.

 

Sie dachte darüber nach, was sie jetzt machen sollte und entschloss sich dazu, wieder einen kleinen Spaziergang zu machen, diesmal ohne ihren männlichen Gast.

 

Wie schon so oft ging Miss Flint immer die gleiche Strecke hügelan.

Von hier oben aus hatte sie einen fantastischen Blick über die gesamte Landschaft. Die abgelegene Stelle auf dem Hügel war ihr Lieblingsplatz geworden. Sie blieb noch lange hier oben. Langsam wurde es dunkel.

 

Als sie sich endlich wieder auf dem Heimweg machte, nahm sie die Abkürzung durch den kleinen Mauerdurchbruch und stand bald wieder an der rückwärtigen Front des alten Brauereigebäudes. Plötzlich entdeckte sie eine Holzleiter unter einem der vergitterten Fenster. Es sah fast so aus, als hätte sie jemand dorthin gestellt, um besser durch das Fenster sehen zu können.

 

Der Zauber der Abendstunde war verflogen. Miss Flint wurde von einer inneren Unruhe und drängelnden Neugierde gepackt. Mit einem Satz sprang sie auf die Leiter, kletterte Sprosse für Sprosse hoch, streckte ihre Hände nach den Gitterstäben, um sich daran festzuhalten zu können. Die Holzleiter wackelte bedenklich, als sie noch weiter hinaufstieg. Plötzlich rutschte die Leiter mit einem Ruck zur Seite und die junge Frau verlor den Halt. Instinktiv hielt sie sich an den Gitterstäben fest und konnte so einen gefährlichen Sturz in die Tiefe vermeiden. Die Holzleiter kippte jetzt ganz um und Miss Flint hang hilflos an den Gitterstäben des steinernen Fensters hoch über dem Boden. Verzweifelt schrie sie um Hilfe, doch niemand hörte ihre ängstlichen Rufe. Nach einer Weile erschlafften ihre gefühllos gewordenen Hände und sie ließ sich kraftlos aus über drei Meter Höhe in die Tiefe fallen. Sie schlug hart auf den trockenen Erdboden auf und knallte mit dem Kopf gegen die Wand. Benommen wollte sie sich noch aufrichten, sank aber im nächsten Augenblick in eine bodenlose Finsternis.

 

***

 

Als die junge Frau wieder zu sich kam, lag sie auf einer schmutzigen Pritsche in einem provisorisch eingerichteten Kellerraum. Sie schaute sich um und erblickte durch ein Eisengitter drei Männer und eine Frau, die an einem alten Holztisch saßen und offensichtlich Whiskey tranken.

 

Eure neugierige Herrin habe ich sicher eingesperrt“, erklärte Fred White, der Mann mit den schwarzen Haaren und stieß ein hässliches Lachen aus.

 

Eigentlich schade um das schöne Kind“, meinte Mark Weedman und nahm einen tiefen Schluck aus dem Whiskeyglas.

 

Habt jetzt bloß keine Mitleid mit ihr!“ giftete die alte Mrs. Weedman. „Wir können sie hier nicht gebrauchen. Um ein Haar hätte sie uns alles verdorben mit ihrer verfluchten Schnüffelei.“

 

Etwas wie Irrsinn flackerte in ihren Augen.

 

Und dieser Mr. Hoetter ist genauso neugierig. Er steht als nächster auf unserer Abschussliste, bemerkte der dritte Mann, der ihr bisher unbekannt geblieben war.

 

Richtig Chad. Du warst schon immer für klare Verhältnisse. Das schätze ich so an dir“, sagte Fred White grinsend zu ihm. Mr. Weedman nickte bestätigend mit dem Kopf.

 

Wenn wir ihn haben, wird er ausgeschrieben haben. Beide werden den Keller nicht mehr lebend verlassen, sobald der Unheimliche kommt und sich ihrer genüsslich annimmt“, fügte Mark Weedman noch hinzu. Er löste damit ein schallendes Gelächter aus. Zwischendurch klirrten immer wieder die Whiskeygläser. Dann verließen sie den Kellerraum und schalteten das Licht aus. Eine schwere Holztür wurde zugeschlagen. Dann trat eine fürchterliche Stille ein.

 

***

 

Miss Elli Flint schrie und tobte wie von Sinnen. Sie hämmerte gegen das Eisengitter, bis ihre Hände blutig waren. Immer wieder schrie sie um Hilfe, obwohl sie wusste, dass sie hier unten im Keller der alten Brauerei niemand hören konnte. Jedenfalls niemand, der ihr wieder hier raus helfen würde. Als aus ihrer Kehle nur noch ein heiseres Krächzen kam, brach sie ab und sank erschöpft zu Boden. Sie saß völlig im Dunkeln. Offensichtlich gab es hier kein Fenster, denn nicht einmal der kleinste Lichtschein drang zu ihr.

 

Jetzt bemerkte sie auch, wie schlecht die Luft hier unten war. Sie vermochte kaum zu atmen. Es roch nach Moder und verwestem Fleisch. Der penetrante Geruch ließ panische Angst in ihr hochkommen. Vielleicht wurden in diesem weitläufigen Kellerräumen Menschen getötet und ihre Leichen irgendwo verscharrt?

Elli Flint schluchzte leise vor sich hin. War sie nun verloren oder gab es doch noch Rettung für sie? Sie fragte sich außerdem, was man mit ihr vorhatte und wen Mark Weedman meinte, als er von dem „Unheimlichen“ sprach, der sich ihrer genüsslich annehmen würde.

Verzweifelt klammerte sie sich an die Hoffnung, dass ihr Hausmädchen Betty vielleicht die Polizei verständigte, wenn sie nicht mehr auftauchen würde. Doch Stunde um Stunde verging. Die Zeit dehnte sich zur Ewigkeit. Elli Flint hatte bald jegliches Zeitgefühl verloren.

 

Irgendwann hörte sie ein Geräusch. Schritte mehrerer Personen näherten sich. Sie konnte die jammernde Stimme eines Mannes hören, der offenbar in den Keller geschleppt wurde. Doch die Schritte gingen an ihrem Kellerverlies vorbei. War das Mr. Hoetter, den man hier nach unten brachte? Sie wusste es nicht.

 

Plötzlich schrie eine Männerstimme von schlimmen Schmerzen gepeinigt laut auf. Dumpfe Schläge waren zu hören, wie Schläge mit einem harten Stock auf einen nassen Sack. Das schreckliche Geräusch brechender Knochen drang zu Miss Flint vor, das sie in panische Angst versetzte. Dann fing sie wie von Sinnen an zu schreien.

 

Jemand öffnete die Tür.

 

Mit einem höhnischen Auflachen, das gespenstisch durch das Kellergewölbe hallte, trat der schwarzhaarige Mann in den Raum und kam auf das Verlies zu, in dem Elli Flint zitternd auf dem Boden kauerte. Er war über und über mit Blut und menschlichen Fleischresten besudelt.

 

Ruhe sanft, meine Süße. Ich bin gekommen, um dich zu fressen. Und wenn ich mit dir fertig bin, werde ich mir deinen verfluchten Schriftsteller vorknöpfen. Leider ist er bis jetzt noch nicht aufgetaucht, aber ich werde ihn schon finden. Vielleicht brauche ich auch nur auf ihn zu warten, bis er nach dir zu suchen anfängt. Dann ist es aus mit ihm“, sagte der Mann und fing boshaft zu grinsen an.

 

Von Grauen geschüttelt wich Miss Flint bis in den hintersten Winkel des Kellerverlieses zurück. Mit maßlosem Entsetzen musste sie miterleben, wie sich Fred White langsam Schritt für Schritt in eine Echsen artige Kreatur mit riesigen Reißzähnen verwandelte und die eisernen Gitterstäbe mit seinen gewaltigen Pranken wegriss, als wären sie aus dünnem Sperrholz.

 

Die junge Frau hatte das Gefühl, im nächsten Augenblick den Verstand zu verlieren. Keuchend lehnte sie sich vor die feuchte Wand und musste sich übergeben. Nebel tanzte vor ihren Augen und dann glitt sie mit einem erstickten Schrei halb bewusstlos zu Boden. Das Grauen löschte ihr Bewusstsein aus, als das schreckliche Ungeheuer durch die verbogene Gitterkonstruktion stieg und langsam schleichend mit weit aufgerissenem Maul auf sie zukam. Dann schoss plötzlich eine schwarze Flüssigkeit auf sie zu, die ihre blass gewordene Haut zum Brodeln brachte. Doch die Schmerzen der ätzenden Säure spürte sie nicht mehr. Miss Elli Flint war schon tot, als sich die grausame Bestie brüllend vor Gier auf Menschenfleisch über sie warf und genüsslich grunzend verspeiste.

 

Als die blutige Fressorgie des unheimlichen Monsters endlich vorbei war, nahm es plötzlich einen silberfarbenen, Bumerang ähnlichen Gegenstand zwischen seine Klauen und drückte sanft eines der kryptischen Zeichen auf der metallenen Oberfläche, die sofort rot aufleuchteten. Im nächsten Moment löste sich der Körper der schrecklichen Kreatur wie eine geisterhafte Erscheinung langsam im Nichts auf, als hätte es sie nie gegeben. Dann wurde es ruhig im Kellerverlies der alten Brauerei. Nur ein paar blutverschmierte Knochen, die zusammen mit einigen Fleischresten verstreut auf dem kalten Steinfußboden lagen, hatte es zurückgelassen.

 

Später, es war schon weit nach Mitternacht.

 

Ein dichter Nebel lag wie ein trüb weißes Leichentuch über der stillen Landschaft, als sich eine kleine, oval förmige Flugmaschine aus einer der halbverfallenen Brauereigebäude erhob, sich einmal schwungvoll um die eigene Achse drehte und schließlich mit aufheulenden Triebwerken rasend schnell in den nächtlichen Himmel jagte.
 

Mrs. Weedman und ihr Sohn Mark standen draußen auf dem dunklen Hof und blickten dem seltsamen Flugobjekt mit böse grinsenden Gesichtern hinterher. Sie hatten dem Ungeheuer aus dem All wieder einmal Menschennahrung im Überfluss beschaffen können. Es würde lange dauern, bis es zu ihnen erneut käme, und wenn, dann aber bestimmt nicht wieder in der Gestalt von Fred White.

 

 

***

 

Mr. Heinz-Walter Hoetter, der junge Schriftsteller, fuhr seinen Wagen an den Rand des Feldweges. Er stellte den Motor ab, schaltete die Scheinwerfer aus und versuchte Herr über seine Gedanken zu werden. Was immer auf dem Anwesen der alten Flint’schen Brauerei vorgegangen sein mochte, er konnte sich des seltsamen Gefühls nicht entziehen, dass er für den schrecklichen Tod der jungen Frau irgendwie mitverantwortlich gewesen war.

 

Nachdenklich stieg er aus und marschierte in der Dunkelheit jenen Hügel hinauf, den auch Miss Flint so oft auf ihren Spaziergängen besucht hatte. Von der Anhöhe aus hatte man eine fantastische Aussicht nach allen Seiten über die weite Landschaft.

 

Als er oben angekommen war, blickte er hinunter auf das von wallenden Nebelschwaden durchzogene Anwesen der Familie Flint. Nur der Mond warf sein bleiches Licht in den leeren Innenhof und erhellte ihn auf gespenstische Weise.

 

Er bekam gerade noch mit, wie zwei schemenhafte Gestalten im trüben Hoflicht die Treppe hinaufgingen und im Haus verschwanden. In den Räumen, wo Miss Flint die ganze Zeit über gewohnt hatte, ging plötzlich das Licht an.

 

Mr. Hoetter ahnte schon, was sie vorhatten.

 

Irgendwo schrie im nah gelegenen Wald ein Käuzchen. Für den jungen Schriftsteller wurde es langsam Zeit zu gehen.

 

Er holte noch schnell sein Notizbuch hervor und schrieb etwas hinein, das nur für ihn bestimmt war.

 

Hier ist die Geschichte zu Ende. Leider konnte ich Miss Elli Flint vor dem schrecklichen Monster nicht retten.

 

Danach ging er zu seinem parkenden Fahrzeug zurück, stieg ein, startete den Motor und brauste im dichten Nebel davon.

 

Seitdem ward er in dieser Gegend nie wieder gesehen.


 

ENDE

 

© Heinz-Walter Hoetter

 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Heinz-Walter Hoetter).
Der Beitrag wurde von Heinz-Walter Hoetter auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.05.2018. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

Bild von Heinz-Walter Hoetter

  Heinz-Walter Hoetter als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Sinfonie von Brigitta Firmenich



Der Gedichtband Sinfonie drückt Höhen und Tiefen der Gefühle aus. Es geht um das Leben an sich, um Liebe und Leid, Vertrauen und Schmerz, Leben und Tod. Es sind zumeist besinnliche Texte, in denen man sich sicherlich wiederfinden kann.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Horror" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Heinz-Walter Hoetter

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Heiwahoe´s Weisheiten, dumme und kluge Sprüche - Teil 9 von Heinz-Walter Hoetter (Sonstige)
Bohrender Schmerz - Teil 1 von Klaus-D. Heid (Horror)
FC St. Pauli wird 100 von Karl-Heinz Fricke (Autobiografisches)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen