Umluft
Lustige Musik im Ohr überdeckt meine Gedanken, während ich den Gehsteig betrete. Mit herrlichen Gefühlen bereits im Bus.
Doch an der Bushaltestelle wartend. Auf mich zukommend. Ein knallrotes Hemd. Unter rauhem Gesicht. Gespenstisch vernarbtes Nasenbein.
Es riecht nach kaltem Rauch und aus einer Dunstwolke erhebt sich sein gebrochener Akzent.
“Gechört dich?”
Es poltert. Alte Kopfhörer baumeln von der Anschlagtafel unter dem Glasdach.
Ein viel zu langer Finger zeigt darauf. Steif wie ein Strick, an dem sich jemand aufhängen könnte.
Der Gestank steigt abrupt zweidrei Schritte auf mich zu und demonstriert mir, was geschehen kann, wenn eine Grenze überschritten wird.
“Nein”, antworte ich stumm. Wende meinen Kopf ab. Unwillig auch nur ein Wort zu reden. Den Blick starr auf die Straße.
Wo bleibt nur der Bus?
Da steht er. Unmittelbar neben mir. Umhüllt mich. Konturen werden sichtbar. Links gescheitelter Kurzhaarschnitt. Verbrauchte Lippen. Dunkelrotgescheuertes Gesicht.
Dieses Gesicht berührt meines nun fast und wenn er spricht und sich direkt neben mir eine Zigarette anzündet, fühlt es sich an, als wäre es meine eigene Hand, mit der er sie zu seinem trockenen Mund führt.
“Hat vergessen.”
Er hält die alten Kopfhörer in der einen und schunkelt sie mit der anderen Hand gemütlich vor sich her.
Ich höre weiter lustige Musik, was ihn nicht zu stören scheint, denn er spricht, als wäre es ihm egal, ob jemand antwortet.
Wieder mein Gedanke.
Hoffentlich kommt der Bus bald!
Über unbekümmert durch lustige Musik niedergedrückte Gedanken legt sich diese Stimme, diese seine Stimme wie Beton. Stahlbeton.
143 Stockwerke tief. Ohne Mitgefühl.
“Habe geredet mit. Rede immer. Menschen denken Business. Will nicht sprechen. Mensch will nicht sprechen! Ich dir ich? Du verstehen?”
Mit einer ausladenden Geste wirft er die fremden Kopfhörer auf die Quervertrebung der Anschlagtafel zurück.
“Hat gesagt: 'Bist krank oder was?' hat gesagt.”
Wer? Habe ich etwas versäumt?
“Er. Das ist großes Beleidigung für mich. Arzt. Hat geredet. Ich. Dann er. Dann ich. Dann Bumm.”
Mit ausladenden Gesten und guter Beinarbeit untermalt er seinen erinnerten Faustkampfdialog. “Verstehen?”
Die überlangen Finger verschränkt er dabei zur Faust und zeigt mir erst in Zeitlupe, dann im Sekundentakt, wie es exakt zu seinen blauen Flecken gekommen war.
In der Erde versinken, denke ich, wär super und starre abwechselnd auf die Straße und wieder zurück, um im Falle eines körperlichen Übergriffs auf die Flucht nach vorn vorbereitet zu sein.
Da steht er schon wieder ganz knapp mit seinem Mund an meinem Gesicht. In seinen buschigen Augenbrauen sehe ich die Aufforderung dichter Sträucher, mich doch bitte endlich darin zu verfangen.
Mit seinem Atem, denke ich, könnte er jemanden töten, wenn er wollte, denke ich.
Langsam immer langsamer kommt er näher und immer näher, als ich schon längst denke, dass eine solche Nähe eigentlich unmöglich wäre.
Das blaue Plakat direkt hinter ihm “Liebe deine Sicherheit” sticht mir ins Gesicht und ich denke an Vorurteile. Währenddessen tropfen graue Regentropfen vom grauen Himmel auf meine grüne Jacke, die um Erneuerung bettelt.
Ich versuche zurückzuweichen, stehe mit dem Rücken zur Glaswand der Bushaltestelle. DA KOMMT ER!
ENDLICH!
Der Bus.
Der Bus in die richtige Richtung.
“Polizei, keiner helfen!”, schreit er hinter mir. Ich zische also zügig die Stufen hoch. Er direkt hinter mir. Ich steige ein. Er steigt ein. Ich spüre sein Gesicht über meiner Schulter mit Blick auf den Busfahrer hinab. Als gehörten wir zusammen. Als wäre er mein bester Freund berührt er mich an der Schulter. Umarmt mich fast.
“Fahrkarte Braunah.”
Bewusst stelle ich meinen Rucksack auf den inneren Sitzplatz, um auf dem äußeren selbst Platz zu nehmen. Natürlich bemerkt er das.
Er geht an mir vorbei, als kenne er mich nicht und setzt sich weit hinten zu einer alten Dame.
Ich atme auf.
Wieder lustige Musik im Ohr, die meine Ängste überdeckt, lehne ich mich entspannt zurück.
Und dann ist der Akku leer. Scheiße!
Dass er Leute anspreche. Dass er Deutsch lernen wolle. Dass er in zahlreichen unterschiedlichen Ländern gewesen sei. Dass er unter allen die europäischen Lännder am meisten verehre. Dass er Europa verehre, obwohl die Leute immer glaubten, er wolle etwas von ihnen, wenn er sie anspreche. Dass die Leute zunächst immer Angst hätten. Dass seine Narben auf der Nase Bombensplittern zu verschulden seien. Dass die Menschen immer automatisch annähmen, er sei ein schlechter Mensch, weil er schlecht Deutsch spreche. Dass er Arzt sei.
Das alles erfahre ich, da er es der Dame erzählt, die ihm gerne zuhört, die ihm eine angenehme Zuhörerin ist, weil sie sich Zeit für ihn schenkt.
Als ich mich schließlich umdrehe, sehe ich ihn lächeln. Ein freundliches Lächeln. Sehr sympathisch. Ganz anders als ich es erwartet hätte.
Er sei zwar Arzt von Beruf, meint er, hierzulande dürfe er aber nicht arbeiten. Er warte auf seinen Bescheid.
Da überfällt mich mein schlechtes Gewissen, ich erblicke seine hilfsbereiten Augen. Sie erzählen von Lazaretten, einer Schussverletzung.
Dem Tod.
Sie erzählen von seiner Verhaftung, seiner Flucht, seiner Trauer und dem Glück nach zwei langen Wanderjahren endlich hier angekommen zu sein.
Seine Ohnmacht nicht mehr helfen zu können. Seine Dankbarkeit für jeden Tag.
Seine Hoffnung auf ein Leben im Frieden. Davon erzählt er der alten Dame, die geduldig hinhört und Fragen stellt.
Geistreich spricht er Deutsch, denke ich, kann es aber nicht sagen. Zu spät, denke ich. Tief wirken seine Augen, denke ich, kann es aber nicht sagen.
Zu spät.
Bevor ich den Bus verlasse, denke ich, entschuldige ich mich.
Er spürt meine Reue und die Türen öffnen sich. Also steige ich hinab.
Da springt er plötzlich auf und folgt mir. Er brüllt!
“Hal jugebuka dalek?”
Immer und immer wieder!
“Hal jugebuka dalek?”
Aufgebracht! “Hal jugebuka dalek?”
Habe ich mich etwa getäuscht? Ist er doch ein Lump oder gar gefährlich? Seine Narbe legt sich über mich! Ich spüre sein Gesicht, seinen Atem in meinem Genick.
Erschrocken über seine ruckhaften Bewegungen starre ich nach vorn und stecke die Kopfhörer zitternd ins Ohr. Akku noch immer leer.
Kurz entschlossen bleibe ich stehen. Drehe mich um und konfrontiere ihn.
Voller Wut bringe ich nicht heraus, was ich gern gesagt hätte. Alles was bleibt, ist ein dumpfes: “Ungeheuerlich!”
Doch da ist niemand. Nur eine alte Frau. Sie versteht mich nicht.
“Was, gehört dich? Geht’s Ihnen gut?”
Sie. Auf den Bus wartend.
“Hallo? Geht’s Ihnen gut?”, wiederholt sie, als ich direkt vor ihr stehe. Sie weicht vor mir zurück. Die alten Kopfhörer baumeln zwischen meinen Fingern. Es poltert. Ich betrachte meine für mich übertrieben langen Finger einen Augenblick zu lang.
Steif wie Stricke, an denen sich jemand aufhängen könnte, suchen sie die Richtung.
Und langsam wird mir etwas bewusst.
Ich schunkle die alten Kopfhörer mit der einen Hand gemütlich vor mich her.
Die Frau steht immer noch direkt vor mir. Direkt hinter ihr eine Glasscheibe, in der sich mein müdes Gesicht spiegelt. Narben. Mein dunkelrotes Hemd. Meine Augenringe. Rauhe Züge. Fast aggressiv. In meiner Tasche ertaste ich eine Packung Zigaretten. Was ist hier los?
Die Frau spricht einen mir fremden Dialekt und mir wird umgehend bewusst, dass ich wie ein Verbrecher wirke, sobald ich meinen Mund öffne.
“Nein!”
Sie hat ganz offensichtlich Angst vor mir.
Wendet ihren Kopf ab. Wartet auf ihren Bus.
Kurz starre ich noch in mein unbequemes Spiegelbild. Dann flüchte ich. Wieder. Diesmal auf die Straße, überquere sie und entfliehe so ihrem furchteinflößenden Hustenanfall.
Die sich rasch näherende Sirene, die wie lustige Musik in meinem Ohr heult, erstickt ihren kategorischen Imperativ schließlich und überdeckt meine Gedanken wie Beton. 143 Stockwerke tief. Ohne Mitgefühl.
Vorheriger TitelNächster TitelDie Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Wolfgang Florian Berger).
Der Beitrag wurde von Wolfgang Florian Berger auf e-Stories.de eingesendet.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.05.2018. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).
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Heike und die Elfe
von Ingrid Hanßen
Da ich der Meinung bin, dass die Kinder heute viel zu wenig lesen ( sehe ich bei meinen 11 und 13 ), habe ich mir Gedanken gemacht, was man machen könnte um dieses zu ändern.
Es ist nämlich nicht so, dass die Kinder lesen grundsätzlich "doof" finden, sondern, dass die bisherigen Bücher ihnen zu langweilig sind. Es ist ihnen in der Regel zu wenig Abwechslung und Aktion drin und ihnen fehlt heute leider die Ausdauer für einen reinen "trockenen" Lesestoff.
Daher habe ich mir überlegt, wie ein Buch aussehen könnte, das gleichzeitig unterhält, spannend ist, Wissen vermittelt und mit dem die Kinder sich beschäftigen können.
Herausgekommen ist dabei ein kombiniertes Vorlese-, Lese-, Mal- und Sachbuch für Kinder ab 5 Jahren bis ca. 12 Jahren.
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