Heinz-Walter Hoetter

Die Meerjungfrau

Sie saß auf einem niedrigen, von Wellen umspülten Felsen ganz in der Nähe eines einsam da liegenden Strandes, schaute verträumt hinüber zum fernen Horizont und sang dabei leise ein schönes Lied.

 

Der frische Wind blies unablässig über das weite, offene Meer. Ihre hüftlangen roten Haare wirbelten in alle Himmelsrichtungen und verdeckten bisweilen die sanften Rundungen ihres reinen, schneeweißen Körpers, wenn sie ihren nackten Rücken Neptuns heftigen Odem zuwandte, um ihr wunderschönes Gesicht zu schützen.

 

Sie schloss die Augen, öffnete den sinnlich roten Mund, so weit sie nur konnte, und sog die heftig brausende Meeresluft tief in sich ein, die ihr in solch unvergesslichen Momenten das berauschende Gefühl von unendlicher Freiheit empfinden ließ.

 

Sie atmete ruhig und gleichmäßig ein und wieder aus. Das tat sie mehrmals hintereinander, bis ihr dabei fast schwindelig wurde. Es war eine völlig andere Art des Lebens, das sie in vollen Zügen genoss, wenn sie die Zeit hier an diesem abseits gelegenen Strand, voller Leidenschaft und Sehnsucht nach ihrem verborgenen Liebesglück, wartend verbrachte.

 

Obwohl sie die Augen immer noch geschlossen hielt, hätte sie jetzt trotzdem genau sagen können, wie das Land um sie herum aussah.

 

Vor ihr lag das weite, unendliche Meer, hinter ihr die hohen, mit grünem Gras bewachsenen Sanddünen, neben ihr erstreckte sich zu beiden Seiten der goldgelbe Strand, wo eine hohe Welle nach der anderen tosend anbrandete und das flache Ufer mit schäumendem Wasser gurgelnd und spritzend überschwemmte.

 

Dieses Geräusch schien sie schon seit Ewigkeiten zu kennen. Es erweckte in ihr vertrauensvolle Erinnerungen und manchmal spielte sie mit dem lockenden Gedanken, vom glatten Felsen jetzt wieder hinab zu gleiten, um sich von den hin und her wiegenden Wassermassen hinaus auf die offene See treiben zu lassen.

 

Sie öffnete langsam die Augen, die ihr einen Moment lang in der ungehinderten Lichtflut der hellen Nachmittagssonne schmerzten. Ein paar dichte Wolken waren vorher, wie weiße Segelschiffchen, dunkle Schatten werfend an ihr vorbei gezogen.

 

Bald würde das Leben spendende, feurig brodelnde Gestirn nach und nach wieder im Meer versinken, dachte sie traurig in sich gekehrt und breitete jetzt spielerisch ihre beiden schlanken Arme aus, als wollte sie sich, den weiten Flügeln einer Möwe gleich, von heftigen Windböen gestützt in die stürmischen Lüfte erheben.

 

Sie konnte es förmlich spüren als flöge sie auf einmal hoch hinauf in den blauen, wolkenlosen Himmel.

Doch der Wind schwächte plötzlich ab. Unsanft wurde sie aus ihren sehnsuchtsvollen Träumen zurückholt. Sie ließ abrupt ihre ausgestreckten Arme herabsinken und warf einen letzten Blick hinüber zur untergehenden Sonne.

Es war schon spät geworden.

Dann ließ sie sich von dem kleinen Felsen vorsichtig hinuntergleiten, auf dem sie die ganze Zeit gesessen hatte, um sich von der weichenden Wasserflut einer hohen Welle zurück ins Meer treiben zu lassen.


Schließlich bewegte sie ihren waagerechten, mit perlmutglänzenden Schuppen bedeckten Fischschwanz ein paar Mal kräftig hin und her, bevor sie mit leicht schlängelndem Körper zurück in die unergründlichen Tiefen des Meeres hinabtauchte, dorthin, wo sich ihr Muschelpalast befand.

 

Aber sie wusste auch, dass sie schon bald wieder den gleichen Platz auf dem kleinen Wellen umspülten Felsen hier am Strand einnehmen würde, um dort oben verträumt sitzend abermals leise ihr schönes Lied zu singen, bis eines Tages vielleicht einmal ein ebenso einsamer Menschenmann wie sie suchend zu ihr findet, dem sie dann ihre ganze, betörende Liebe hingebungsvoll schenken würde.

 

 

ENDE


(c)Heinz-Walter Hoetter

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