Angie Pfeiffer

Illegaler Grenzübertritt

Vorsichtig hebt Paul den Kopf, beobachtet die Umgebung. Für ihn ist es kein Problem an den Grenzpatrouillen vorbeizukommen, schon gar nicht im Schutz des dichten Waldes. Aber er hat für seine Frau und das Baby zu sorgen.
Er dreht sich vorsichtig um, schaut zu ihnen hin. Lena hockt erschöpft auf dem weichen Waldboden. Sanft wiegt sie die Kleine in ihren Armen.
Er betrachtet ihre ausgemergelte Gestalt. ‚Unmöglich’, denkt er. ‚Das können wir nicht schaffen.’
Aber es war auch nicht zu schaffen gewesen, im total überfüllten Zug in den Westen zu kommen. Zwischen all den panischen Menschen hatte es keinen Platz mehr im Zug gegeben. Einige Männer waren in ihrer Verzweiflung auf die Wagondächer geklettert. Ihre Schreie würde er niemals vergessen, denn die russischen Soldaten hatten von der Eisenbahnbrücke auf diese Menschen geschossen.
Er seufzt. Er wird so vieles aus diesem verdammten Krieg niemals vergessen können.

Lena hebt müde den Kopf. „Geht es los?“
„Ja, wir werden es schaffen“, sagt er leise, bemüht sich um einen aufmunternden Tonfall, obwohl ihm zum Heulen zumute ist. „Es ist nicht mehr weit. Die Briten, sie werden uns weiterhelfen.“
Sie nickt mechanisch, rappelt sich auf. An ihren Blicken erkennt er, dass auch sie an einem guten Ausgang des Unternehmens zweifelt.

Weiter geht es durch den Wald. Schließlich ein Stück Heide, flach, gut einsehbar.
„Wir müssen schnell sein“, flüstert er. „Siehst du den Hang drüben? Dichtes Buschwerk, gut zum Verstecken.“ Er nimmt das Kind, rennt los. Lena folgt ihm blind.
Plötzlich Stimmen, noch etwas weiter entfernt.
„Runter!“
Sie werfen sich lang in das Heidekraut, krallen sich in den Boden. ‚Die Kleine’, denkt Paul panisch. Als er sich hinwarf, ist er auf das Kind gefallen. ‚Um Himmels Willen, die Kleine ist tot, ich habe sie erdrückt!’ Paul ist versucht sich aufzurichten, nachzuschauen ob seine Tochter atmet. Doch er bleibt liegen, jede Bewegung kann sie verraten.
Schritte, jemand sagt etwas. Dann entfernen sich die Soldaten. Paul zwingt sich liegen zu bleiben, obwohl sein Herz rast. Vorsichtig sieht er nach der Kleinen. Große blaue Augen schauen ihn an, blicken wissend, so als würde das Kind verstehen. Ein Kuss auf die Stirn, dann steht Paul vorsichtig auf.
Auch Lena erhebt sich zögernd. Vorwärts geht es, immer schneller. Bald ist es geschafft. Der Hang ist zu Greifen nah.
„Stoj, nec!“ ertönt es laut und voller Jagdlust hinter ihnen.
„Rennen“, schreit Paul, läuft zusammen mit Lena im Zickzack. Schüsse peitschen an ihnen vorbei. Der Hang vor ihnen, sicheres Unterholz. Paul mobilisiert die letzten Kraftreserven. Er ist schon ein Stück weit den Hang hinauf, da hört er den Schrei. Lena ist abgerutscht, liegt nun wieder fast unten.
‚Bitte, Gott, lass sie nicht getroffen sein!’, fleht Paul in Gedanken, hastet zurück, beugt sich vor, hält seiner Frau die Hand hin.
„Verdammte Scheiße“, schreit sie so wütend, dass der Kraftausdruck sie fast wie von allein den Hang hinauf katapultiert. Paul zieht sie hinter sich her, in die Deckung. Endlich überqueren sie die Kuppe des Hanges.
„Wir haben es geschafft“, ruft Paul freudestrahlend, doch er drängt zum Weitermarsch. Jeder weitere Meter bedeutet mehr Sicherheit.

Schließlich kommen sie an einen Bauernhof, betreten ihn vorsichtig. Sie haben auch allen Grund dazu.
Der Bauer kommt ihnen entgegen, die Mistgabel in den knorrigen Händen. „Ihr verdammten Flüchtlinge klaut doch alles, was nicht niet- und nagelfest ist“, knurrt er. „Schert euch dahin zurück, wo ihr hergekommen seid.“
Schließlich lässt er sich erweichen, vielleicht wegen der großen Augen des Kindes, vielleicht auch, weil er spürt, dass sie nicht mehr weiter können.
„Nur für heute Nacht“, mit diesen Worten öffnet er ihnen die Scheunentür, bringt später tatsächlich eine Kanne mit Milch. „Für die Kleine.“
Mit zitternden Händen nimmt Paul diese Kostbarkeit entgegen.

Das erste Morgengrauen sickert durch die Ritzen der Scheune, lässt Paul erwachen. Er liegt für einen Moment still da. ‚Wir haben es wirklich geschafft’, denkt er. Plötzlich ist er voller Pläne. Er will ins Ruhrgebiet, dort leben seine Eltern, seine restliche Familie und die Familie seiner Frau. So hat er mehrere Adressen, die er bei den Militärkontrollen nennen kann.
Neben ihm bewegt sich das Stroh. Lena blinzelt ihn an. „Du bist schon wach?“
Er legt für einen Augenblick beschützend den Arm um sie. „Ich gehe mal den Bauern suchen. Vielleicht bekomme ich ein Frühstück für uns drei."
„Nimm die Kleine mit, das hilft bestimmt“, lächelt sie.
Paul steht auf, schaut seine Frau liebevoll an. ‚Sie kann noch lächeln’, denkt er und ihn überkommt ein unglaubliches Glücksgefühl, denn er weiß, dass sie endlich Frieden gefunden haben.

© by Angie

 

 

 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.05.2018. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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