Heinz-Walter Hoetter

Held aus Stein

Einsam und allein stehe ich abseits einer alten, aber verkehrsreichen Landstraße und beobachte stumm die vorbeifahrenden Autos.

Achtlos rasen sie alle an mir vorbei.

Die Zeiten haben sich in der Tat gewaltig verändert.

Plötzlich frage ich mich wieder, wie schon so oft in der Vergangenheit, warum ich an diesem stark verwilderten Ort überhaupt noch stehe? Doch irgendwie bin ich unfähig dazu, mir auf diese verzweifelte Frage selbst eine Antwort zu geben.

Ich werde von den Menschen schon lange nicht mehr beachtet.

Sie nehmen einfach keine Notiz mehr von meiner Gegenwart.

Warum sollten sie auch?

Ich betrachte weiterhin stumm meine Umgebung.

Die einst so schöne Parkanlage, mit ihren gepflegten Wiesen, den herrlich bunten Blumen und breit angelegten Spazierwegen, ist schon seit einer kleinen Ewigkeit verschwunden. Ja, alles ist weg, auch die Bänke, auf denen einst die Leute saßen. Dafür wuchert jetzt überall das Unkraut. Wilde Sträucher und sogar Bäume machen sich breit und sind dabei, mich gnadenlos zu verschlucken.

Ich werde langsam unsichtbar.

Was für eine Schande.

Ich kann es nicht fassen.

Der Schmerz ist groß. Mir wird damit deutlich vor Augen geführt, dass ich schon lange ausgedient habe. Das ist die Wahrheit. Ich muss sie einfach zur Kenntnis nehmen.

Ich bin nur noch ein nutzloses Überbleibsel aus längst vergangenen Zeiten.

Ich möchte am liebsten meinen Kopf hängen lassen, was aber nicht geht. Mein Nacken ist steif, weil er aus festem Stein ist.

Ach, wie viele Generationen von Menschen habe ich schon kommen und gehen sehen?

Ganz früher waren sogar fast jede Woche große Schulklassen bei mir gewesen.

Die Kinder und Jugendlichen bestaunten damals meine immense Größe, während ihnen die Erwachsenen von meinen einzigartigen Heldentaten erzählten.

Sie sahen zu mir auf, manche berührten sogar liebevoll meinen wuchtigen Sockel und legten selbst gebastelte Blumenkränze davor ab. Ich war so stolz darauf, dass mich die Menschen wie einen heldenhaften Gott bewunderten.

Doch das war einmal und ist schon sehr, sehr lange her. Ich kann mich heute schon gar nicht mehr daran erinnern, wie damals alles angefangen hat.

Aber was soll ich dazu sagen? In dieser modernen Zeit bin ich für die allermeisten Menschen einfach nur noch eine Manifestation ehemaliger politischer Fehler.

Sie mögen mich deshalb nicht mehr, weil ich sie an ihre leichte Verführbarkeit, und die daraus resultierende unerträgliche Schuld, erinnere. Ja, sie sehen in mir tatsächlich nur noch eine große historische Peinlichkeit, die es gilt, schnell wieder zu vergessen.

Ich bin für sie nur noch ein einziger, widerlicher Schandfleck. Das Schlimme daran ist, dass ich mir diese Tatsache ehrlicherweise sogar selbst eingestehen muss. Die Wahrheit ist eben grausam.

Eines Tages wird man mich wahrscheinlich genau aus diesem Grund abreißen und als klein gehauener Bauschutt achtlos in eine tiefe Grube werfen. Die Menschen wollen eben ihre alten Fehler rigoros ausmerzen und bemerken dabei nicht, dass sie dennoch immer wieder die gleichen neu begehen, weil der jeweils herrschende Zeitgeist einfach von ihrer fatalen Geschichtsvergessenheit weiß. Deshalb fällt es ihm ja auch nicht schwer, die Masse der Menschen stets aufs Neue zu verführen. Keine Generation ist davor gefeit.

Mich macht das alles sehr nachdenklich.

Nun, viele meiner Kollegen sind sowieso bereits verschwunden. Man hat sie komplett beseitigt, sozusagen dem Erdboden gleich gemacht, weil sich die Menschen von heute nicht mehr an ihre einstigen politischen Schandtaten erinnern wollen. Sie schämen sich dafür und lassen uns das spüren.

So ist das eben.

Ich habe in den zurück liegenden Jahrzehnten viel Zeit gehabt, über mich und die absurde Welt des Menschen nachzudenken.

Die Herrscher und ihre Machtsysteme kommen und gehen und mit ihnen auch ihre Helden. Aber die Geschichte ist unerbittlich und was noch schlimmer ist, sie wiederholt sich. Eine ziemlich üble Sache, wie ich meine, denn genau daraus generieren sich Kriege, Elend und Leid immer wieder neu.

Ich will aber nicht länger darüber nachdenken, weil mich diese Erkenntnis traurig macht.

Auf einmal höre ich ein Geräusch.

War da nicht was?

Da! Eine junge Mutter und ein Kind stehen plötzlich vor mir. Ich habe sie vor lauter Grübeln gar nicht bemerkt.

Mir fallen sofort die großen blauen Augen des kleinen blondhaarigen Mädchens auf, die mich voller Ehrfurcht anschauen. Oder ist das nur ihre kindliche Ahnungslosigkeit, die da zum Ausdruck kommt?

Mein steinernes Herz blüht trotzdem auf, als sie spontan ihre viel zu kurzen Ärmchen nach mir ausstreckt. Sie will mich offenbar berühren. Kurzzeitig vergesse ich meine trüben Gedanken und die schwere Last, die auf meinen starken Beinen ruht.

Leider stehe ich für die Mutter und ihr Kind viel zu hoch auf dem Granitsockel. Es ist mir auch nicht möglich, mich dem kleinen Mädchen entgegen zu strecken. Ich kann mich ja nicht bewegen, denn ich bin ein Held aus Stein.

Kurz darauf nimmt die junge Mutter ihre kleine Tochter spontan auf den Arm, gibt dem quengeligen Mädchen etwas zum Lutschen in die Hand, dreht sich um und geht. Dabei schimpft sie über den völlig verwahrlosten Weg, der mit Unkraut aller Art überall zugewachsen ist.

Vielleicht war ich ihr auch nur zu unbedeutend gewesen. Mag aber auch sein, dass ihr mein völlig verschmutzter Zustand nicht gefallen hat, denn mein ganzer Körper ist von Kopf bis Fuß mit einer dicken Schicht Moos überzogen. Ich muss anscheinend einen abstoßenden Eindruck auf sie gemacht haben. So wird es wohl gewesen sein.

Kein Wunder also, dass mich keiner mehr mag.

Außerdem kriechen eine Menge Insekten auf mich herum.

Sicherlich kein schöner Anblick, denke ich so für mich. Das kommt allerdings auch daher, weil die Menschen mich schon seit sehr vielen Jahren nicht mehr gereinigt haben. Sie lassen mich einfach schlichtweg verkommen.

Ich habe keinen Wert mehr für sie.

So stehe ich bald wieder einsam und allein ganz verlassen in der öden Gegend herum.

Ich bin nur noch ein stummer Zeuge aus einer Zeit, als man Helden meiner Art und Größe abgöttisch verehrte, die man liebevoll in Stein meißelte und gut sichtbar an ausgewählten Orten überall im Land aufstellte, damit sich ein jeder an ihren rühmlichen Taten ein Beispiel nehmen konnte.

Alles vorbei.

Alles vergessen.

Wie immer rauschen wieder die Blätter der Bäume um mich herum im aufkommenden Wind, als würden sie über mich tuscheln.

Ein kleiner Vogel setzt sich plötzlich auf meinen wuchtigen Schädel. Dann kackt er mir frech auf meine festen Steinschultern und fliegt kurz darauf wieder laut zwitschernd davon.

Seit ich hier an diesem mit Efeu umwucherten Ort stehe, passiert mir das ständig. Ich kann nichts dagegen tun und nehme alles klaglos hin.

Nun ja, was soll's?

Ich bin eben nur noch ein altes Heldendenkmal, das man irgendwann schonungslos beseitigen wird. Ich passe einfach nicht mehr in diese Zeit. Die Menschen verehren jetzt ganz andere Dinge und Idole, die ihnen wohl wichtiger erscheinen. Mich dagegen betrachten sie als Störenfried, der hier nichts mehr zu suchen hat.

Ich kann das verstehen.

Egal, wie auch immer.

Zur Erinnerung an ihre großen Helden bauen sich die Menschen imposante Denkmäler, obwohl die meisten davon innen hohl sind.

Aber auch wir, die zu Stein gewordenen Helden, werden einmal nicht mehr da sein, denn nichts kann die Ewigkeit überdauern.

Alles geht einmal vorbei und alles wird vergehen.


 

Das sollten sich die Menschen gut merken.


ENDE


 

(c)Heinz-Walter Hoetter

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.05.2018. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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