Herrmann Schreiber

Der Weltraumjunge und seun Hund

Die großen Ferien verbrachte ich, als ich elf Jahre alt war, bei meinen Großeltern. Die großen Schwestern waren bei einer Tante untergebracht, so dass die Eltern ihre zwei Wochen Ferien endlich einmal in Ruhe verbringen konnten.
Opa und Oma leben auf dem Lande. Ziemlich einsam ist es da, Kinder in meinem Alter gibt es keine. Ich bin aber trotzdem gern dort, weil die Großeltern mir viel Freiheit lassen. Ich kann mit meinem Fahrrad weit durch die Gegend fahren, ohne dass mir gesagt wird, dass es da oder dort angeblich gefährlich sei, dass ich immer schön rechts fahren soll und auf die Autos aufpassen soll. Sogar, wenn ich einmal zu spät zu einer Mahlzeit komme, schimpft niemand. Deshalb helfe ich gern im Garten, wenn es nötig ist.
An jenem denkwürdigen Nachmittag war ich weit weg gefahren, an den Ententeich, um die Enten zu füttern. Auf dem Rückweg nahm ich dann, wie ich das oft tat, eine Abkürzung, die hinter dem Friedhof vorbeiführt. Ein schmaler Weg, links die hohe Friedhofsmauer, rechts schattenspendende Bäume. Und da sah ich plötzlich, auf einem Baume, etwas Schwarzes, das sich bewegte.
Ich hielt an, schaute hin. Es war offenbar ein Junge, kaum älter als ich, der ungeduldige Laute von sich gab und aufgeregt zappelte.
„Was machst du da oben? Kann ich dir helfen?“ fragte ich nach oben.
„Ich habe meinen Fuß in einem Gewirr von Ästen und Zweigen verhakt. Ich bin nicht imstande, mich loszulösen. Bitte, wenn du kletternd zu mir gelangen kannst, versuche, mich zu befreien!“
Mich über seine seltsame Ausdrucksweise wundernd, stellte ich mein Fahrrad an de Baum, kletterte darauf, um den ersten Ast zu erreichen. Dann war es nicht schwer, bis zu dem Astgewirr zu kommen, in dem der Fuß des Jungen verhakt war. Dieser Fuß steckte in einem eleganten, schwarzen Schuh. Mit einiger Mühe konnte ich ihn befreien. Dann kletterte ich hinunter, er mir nach. Als er unten war, konnte ich ihn mir genauer ansehen. Er war zwölf oder dreizehn Jahre alt, hatte schwarze Haare, dunkle Augen, ein schmales, blasses Gesicht und trug einen schwarzen Anzug, der mir sehr vornehm und fast neu vorkam. Er legte seine rechte Hand auf meine Schulter und sagte:
„Ich danke dir, edler Knabe, der du mich aus dieser misslichen Lage befreit hast. Gestatte mir, mich vorzustellen: ich heiße Konrad“.
Dass er mich einen ‚edlen Knaben’ nannte, fiel mir natürlich als höchst ungewöhnlich auf. Ich ließ mir aber nichts anmerken, sondern antwortete:
„Und ich bin der Matthias. Du bist nicht von hier?“
„Ich komme aus einer sehr weit entfernten Heimat und habe diese Erde erst vor kurzer Zeit betreten.“
Wie er so sprach, fielen mir seine ungewöhnlich langen und spitzen Eckzähne auf. Da kam mir ein Verdacht. Aber Vampire laufen doch an sich nicht am Tage herum? Und dass sie sich so vornehm ausdrücken, das habe ich noch nie gehört. Also fragte ich ihn erst einmal:
„Warum drückst du dich so vornehm und elegant aus? Spricht man bei euch so eigenartig?“
„Ich weiß nicht, wie ich Unbekannte anreden soll. Daher gebe ich mir Mühe, höflich zu sein und mich nicht einer vulgären Sprache zu bedienen. Ich kann mich jedoch in meiner Ausdrucksweise auch den mich umgebenden Personen anpassen“.
„Tu dir keinen Zwang an und sprich so wie alle Leute, wenn dir das recht ist. Jetzt sag mal, was hast du da oben gemacht, auf dem Baume?“
„Ich wollte mir nur die nähere Umgebung meines Aufenthaltsortes anschauen“.
„Wohnst du hier in der Nähe?“
„Da drüben ist meine Wohnstätte“, sagte Konrad, indem er zum Friedhof deutete. „Es gibt dort sehr geräumige Gräber, wahre Mausoleen. Ich bewohne das der Geschwister Phoniki und Pethanis Thanatopoulos. Dort stehen zwei noch leere Särge, offenbar auf das Dahinscheiden weiterer Mitglieder der Familie wartend. Ich pflege in einem zu ruhen, der gepolstert ist und mit violetter Seide ausgeschlagen ist. Er ist sehr bequem“.
Nun glaubte ich zwar, dass Vampire in ihren eigenen Särgen schlafen und sich nicht welche einfach so ausborgen, aber ich musste doch einmal fragen:
„Bist du ein Vampir?“
„Matthias, sage mir bitte was das ist, ein Vampir?“
Entweder weiß er das wirklich nicht, ist also keiner, oder er sagt das nur, damit ich nicht merken soll, das er einer ist. Ich bin zwar kein Vampirologe, aber das bisschen, was über diese Wesen weiß, wollte ich ihm sagen:
„Vampire sind finstere Gestalten, die sich die Leute wahrscheinlich nur ausgedacht haben. Wenn einer sehr bös war, in seinem Leben und dann gestorben ist, kann er in seinem Grabe nicht ruhen, sitzt aufrecht darin und knabbert an seinem Hemd. Nachts geht er raus, aus seinem Grab, beißt die Leute und trinkt ihr Blut“.
„Ich habe noch nie von so etwas gehört, werde aber in meinem Bericht erwähnen, was du mir erzählt hast“.
„Bericht? An wen musst du denn einen Bericht erstatten?“
„An meinen Heimatplaneten. Wie ich bereits angedeutet habe, ist hier, auf der Erde, nicht meine Heimat. Ich komme aus weiter Ferne. Kennst du die Milchstraße?“
„Gesehen hab’ ich sie noch nicht, weil es hier zu viel Straßenlampen und Leuchtreklame gibt. Nur ein Photo kenne ich: ein heller Streifen mit ein paar dunklen Stellen“.
„Ja, das Helle, das sind die Sterne unserer Galaxie, und die dunklen Stellen, das sind Staubwolken. Hinter einer solchen Staubwolke befindet sich der Planet, von dem ich komme. Ist dieser Erde sehr ähnlich, aber viel älter. Deshalb unser Interesse für eure Erde. Wir möchten gern mehr über sie erfahren und über die, die da leben“.
„Unsinn. Selbst wenn du mit Lichtgeschwindigkeit gereist wärst, dürfte es einige Tausend Jahre gedauert haben, bis du hier angekommen bist!“
„Ich sehe, ihr glaubt immer noch, die lahme Lichtgeschwindigkeit sei das Schnellste. Bei dem Urknall, oder Big Bang, vor 13,8 Milliarden Jahren, hat sich das Universum viel schneller als mit Lichtgeschwindigkeit ausgebreitet. Diese Bedingungen konnten wir mit einem so genannten Schwarzen Loch herstellen. Spezialpanzer anziehen, zu dem einen Ende in das Schwarze Loch hineinkriechen, zum anderen Ende heraus, und schon ist man da“.
Ich war zwar noch weit davon, dem Konrad zu glauben, aber ich wollte doch noch hören, was er mir noch für Märchen zu erzählen hatte. Also fragte ich weiter:
„Wenn ich dich so ansehe, habe ich den Eindruck, dass bei euch die Leute genau so aussehen wie bei uns“.
„Nicht ganz, Matthias. Eigentlich überhaupt nicht. Aber da wir die gleichen 92 chemischen Elemente haben wie ihr, ist es leicht, da etwas nachzuhelfen“.
„Du bist also sozusagen verkleidet. Und warum haben sie dich als einen Jungen verkleidet, und nicht als einen Erwachsenen?“
„Wenn man sich auf einem fremden Planeten aufhält, macht man leicht Dummheiten. Gilt besonders für Männer, nicht so sehr für Frauen. Ein Erwachsener würde durch die Dummheiten auffallen. Ein Kind dagegen macht immer Dummheiten, fällt also nicht auf. Alle Abgesandten, von unserem Planeten, haben daher hier die Gestalt von Jugendlichen, Mädchen sowohl als auch Knaben“.
„Und sie unterhalten sich gern mit uns Menschen, so wie du es jetzt tust?“
„Keineswegs. Wir dürfen das nur tun, wenn wir uns in Gefahr befinden und wenn uns jemand Hilfe anbietet, so wie du es eben getan hast. Das kommt nur sehr selten vor, und wenn, dann spricht der betroffene Mensch nicht davon, weil es ihm niemand glauben wird“.
Da hat er Recht. Von denen, die dies hier lesen, glaubt mir sicher auch keiner. Aber zurück zu meinen Fragen an Konrad.
„Woher hast du diesen schönen Anzug und die so vornehm glänzenden Schuhe?“
„Von Planet-Service, unser bester Lieferart irdischer Ware“.
„Unsinn. Planet-Service! Keine Firma würde sich so nennen“.
„Da, Ungläubiger, betrachte dieses!“
Mit diesen Worten hob Konrad den Saum seiner Jacke. Da war tatsächlich ein Schild „Planet-Service, Paris“. Konrad erklärte mir noch, dass diese Firma ihm auch seine Nahrung lieferte, seine Toilettenartikel und was er sonst noch brauche. Aber eine Frage hatte ich doch noch:
„Und wie hast du so ein vorzügliches deutsch gelernt?“
„Mit einer Sprachenpille. Ganz neue Erfindung. Gibt es erst seit tausend Jahren. Wird laufend verbessert. Was du mir über meine Ausdrucksweise gesagt hast, werde ich der zuständigen Behörde melden. Die  Sprachenpille gibt es für fast alle Sprachen. Ist rezeptpflichtig. Schluckst so eine Pille, und binnen einem Monat beherrschst du die Sprache fließend. Mit Beschreibung der Objekte. Bei ‚Straßenbahn’, zum Beispiel, lernst du mit welcher Art von Energie sie fährt, was sie für Bremsen hat, aus was die Räder sind, und so weiter“.
Etwas tausend Jahre Altes war auf Konrads uraltem Planeten also noch ganz neu. Wie alt musste dann etwas Altes sein, damit es dort als alt angesehen wurde? Aber das wollte ich gar nicht wissen, denn mir kam ein anderer Gedanke:
„Konrad, bitte, kannst du mir so eine Pille für englisch verschaffen?“
„Geht nicht, Matthias. Dein primitives Gehirn würde platzen. Auch für uns kann die Pille gefährlich sein. Da hat einmal jemand zwei Pillen gleichzeitig genommen, weil er schneller lernen wollte. Resultat: hat gestottert, jedes Wort zweimal gesagt. Oder, wenn einer, innerhalb eines Monats, Pillen für zwei verschiedene Sprachen schluckt. Dann spricht er die zwei Sprachen durcheinander!“
„So wie ‚I glaube you nicht what du me erzählst’? Du hast eine bemerkenswerte Phantasie! Spielst ihn recht gut, den Außerirdischen!“
„Wenn du mir nicht glaubst, dann heb mich mal hoch!“
Nach einigem Zögern tat ich das. Zu meinem größten Erstaunen stellte ich fest, er war ganz leicht! Und eine seiner Hände war eiskalt, die andere fiebernd warm! Eigenschaften eines Vampirs waren das wohl nicht, also war er doch eher ein Außerirdischer? Oder gar ein außerirdischer Vampir? Auf anderen Planeten können die Vampire ja anders aussehen als bei uns. Das alles wollte ich mir erst einmal durch den Kopf gehen lassen. Aber auf jeden Fall wollte ich diesen Konrad wieder sehen, mich weiterhin mit ihm unterhalten. War er doch der einzige, hier in der Gegend, der zumindest aussah, wie etwa in meinem Alter. Also sagte ich ihm, nach langem Überlegen:
„Du hast Recht. Du wirst verstehen, dass ich dich näher kennen lernen möchte. Ich möchte dir auch weiterhin helfen, für deinen Bericht über unsere Erde und unsere Sprache. Jetzt muss ich aber bald gehen, meine Großmutter wartet mit dem Abendessen“.
„Du bist sehr freundlich, Matthias. Ich habe dich sicher noch viel zu fragen. Was gibt es hier in der Umgebung zu sehen?“
„Nicht viel. Da ist der alte Steinbruch, aus dem die Steine kommen, mit denen die Häuser gebaut wurden. Da ist auch die Ruine der alten Windmühle, da wurde früher das Getreide zu Mehl gemahlen. Und dann wäre noch der Ententeich. In dem Teich schwimmen Fische und auf dem Teich schwimmen Enten und Wasserhühner“.
„In der Tat, der Enterteich würde mich interessieren. Kannst du mich morgen dorthin geleiten?“
„Gern, morgen Nachmittag, denn am Morgen will ich den Großeltern im Gemüsegarten helfen. Aber bis zum Ententeich ist es ziemlich weit, fast eine Stunde mit dem Fahrrad, und zu Fuß…“
„Kannst du mich nicht auf dem Hinterteil deines Fahrrads transportieren, auf dem Gestell, das zum Befördern von Gepäck dient? Du weißt, ich bin sehr leicht“.
„Ja, das wird gehen. Ich bringe ein kleines Kissen mit“.
„Recht so, lieber Matthias. Morgen, zu Beginn des Nachmittags, hier an dieser Stelle. Pfeife, und ich komme. Und erzähle niemandem, dass du mir begegnet bist“.
Ich versprach es ihm, obwohl – was er gesagt hat, würde doch keiner glauben, dem ich es erzähle. Dann  verabschiedete mich von Konrad und fuhr los. Die Großeltern merkten sicher, dass ich mit meinen Gedanken oft woanders war, sagten aber nichts.
 
Am nächsten Tag, nach dem Mittagessen, fuhr ich zu dem denkwürdigen Baum hinter dem Friedhof. Ich pfiff (ich kann das schön laut), und sogleich kam Konrad mit elegantem Schwung über die Mauer gehüpft. Ich hatte eins der kleinen Kissen mitgebracht, die bei Oma überall herumliegen. Legte es auf den Gepäckträger, Konrad setzte sich drauf, und los ging’s. Viel treten brauchte ich nicht, auch bergauf ging es recht leicht.
Am Ententeich fragte mit Konrad Löcher in den Bauch. Über die Füße der Enten, ihre Federn, ihren Schnabel. Warum sie sich so schwerfällig bewegen und trotzdem fliegen können. Ich habe sicher nicht sehr gescheit geantwortet. Konrad hatte das wohl bemerkt und fragte dann nicht mehr. Da bin ich losgegangen, um zu schauen, wie weit die Holunderbeeren gereift waren. Oma macht daraus nämlich ausgezeichnete Konfitüre. Als dann zu Konrad hinschaute, sah ich, dass einige Enten ganz nahe an ihn herangekommen waren und ihn neugierig beklotzen. Dann kamen auch zwei Ratten und stellten sich zu den Enten. Als ich mich wieder Konrad näherte, liefen sie weg.
Ich brachte dann Konrad wieder zum Friedhof. Ich sagte ihm, dass Oma mich am nächsten Morgen zum Einkaufen mitnehmen wollte. Da hatte ich die Waren in das Auto zu laden und dann, zu Hause, wieder auszuladen und in den Keller, die Speisekammer und den Kühlschrank zu tragen.
Dann verabschiedete ich mich von Konrad, versprach ihn am nächsten Nachmittag zu Steinbruch zu begleiten und fuhr heim. Als ich das kleine Kissen vom Gepäckträger losklemmte, stellte ich etwas sehr Eigenartiges fest: das Kissen war kalt, eiskalt. Da hatte Konrad wohl etwas von der Weltraumkälte hineingesteckt.
Als ich, am nächsten Tag, Konrad wieder am Friedhof traf, war er ganz aufgeregt.
„Matthias, es ist etwas Außerordentliches geschehen. Ich habe mir einen Hund beschafft! Er ist hier herrenlos herumgelaufen, ich habe ihn gerufen, er ist gekommen. Er ist sehr klug. Ich habe ihn Einiges gelehrt, er hat das sehr schnell begriffen. Du wirst sehen, wenn ich pfeife, wird er kommen“.
Konrad pfiff (er kann mindestens so laut pfeifen, wie ich) und da kam ein Tier angelaufen… ein Hund war das aber nicht. Vielleicht sehen auf Konrads Planeten die Hunde so aus – hier jedenfalls nicht. Als das Tier bei uns angekommen war, sprach Konrad zu ihm:
„Das ist mein treuer Geselle Matthias, sei freundlich zu ihm“.
Da bewegte das Tier sich auf mich zu, sah mich freundlich an und rieb sich an meiner Hüfte, so wie sich Katzen an der Wade von jemandem reiben, den sie gern mögen. Ich musste mich richtig dagegen stemmen, um nicht umzufallen. Aber ein Hund war das wohl nicht, eher eine ganz große Katze. Ich stellte also dem Konrad die entscheidende Frage:
„Konrad, bist du sicher, dass das ein Hund ist?“
„Aber gewiss, vier Beine, an jeder Ecke eins, vorn die Schnauze, hinten der Schwanz“.
„Diese deine Beschreibung trifft aber auch auf andere Tiere zu“.
„Aber Matthias, was soll es denn anderes sein, als ein Hund?“
Ich zögerte einen Augenblick mit meiner Antwort.
„Meiner Ansicht nach ist das eine Löwin“.
„Unsinn, Matthias, Löwen haben Mähnen!“
„Nur die männlichen Tiere, glaube ich“.
„Bildest du dir ein. Pferde haben auch Mähnen, die männlichen wie die weiblichen“.
Ich hätte ihm sagen können, dass es bei den Menschen auch so einen Unterschied gibt: Männer haben Bart, Frauen nicht. Aber daran habe ich nicht gedacht, ich habe ja noch keinen Bart. Und da der Konrad immer so überzeugend spricht, war ich mir nicht mehr so sicher, mit der Mähne von den Löwen. Trotzdem habe ich ihn weiter gefragt:
„Und wie heißt er, dein Hund?“
„Ich habe ihm noch keinen Namen gegeben, denn ich kenne mich mit den hier üblichen Hundenamen nicht aus“.
Mir fiel nur ‚Simba’ ein. Ist zwar ein Name für einen männlichen Löwen, aber etwas Anderes wusste ich nicht. Konrad schien der Name zu gefallen. Dann dachte ich noch an etwas, was ich Konrad fragen musste.
„Hast du ihn schon einmal bellen gehört, deinen Hund?“
„Nein, wohl erzogene Hunde bellen nicht“.
„Und wenn er Hunger hat, was gibst du ihm zu fressen?“
„Er hat sicher noch keinen Hunger. Denn vorhin, als ich ihn zu mir rief, kam Simba von der Wiese da oben, und dort liegen die Überreste eines Schafes, an dem er wohl seinen Hunger gestillt hat“.
„Und ein wohl erzogener Hund tut so etwas?“
„Ja, weil er weiß, dass er sterben muss, wenn er nichts isst“.
„Und wenn er wieder Hunger hat, wie willst du ihm geeignetes Futter beschaffen?“
„Ich bereits Hundefutter bestellt, bei Planet-Service, der hiesigen Filiale unseres Lieferdienstes. Aber es ist dort nicht vorrätig, noch hat jemand von uns so etwas bestellt.  Daher kann es erst in zwei Tagen geliefert werden.  Matthias, kannst du mir helfen, diese Zeitspanne mit für Simba geeigneter Nahrung zu überbrücken? Du kennst dich mit den Gegebenheiten und Gewohnheiten dieses Landes besser aus als ich“.
Da verlangte er ja viel von mir, der Konrad. Ich dachte nach. Einige Bahnstationen vom Dorfe der Großeltern entfernt gibt es, im Park eines alten Schlosses, einen Freilandzoo. Von dort war der Simba offenbar ausgerissen. Ich war zwar noch nie in dem Zoo gewesen (viel zu teuer), aber ich wusste, woher er sein Löwenfutter bekam.
Vor zwei Jahren, als der Zoo eröffnet wurde, hatte die Betreiberfirma eine großartige Werbekampagne gestartet. Diese Firma hatte, als Attraktion für Touristen, die Schmalspurbahn wieder eingerichtet, die von der Stadt zum Zoo und dann weiter zum Dorf meiner Großeltern fährt, wo die Endstation ist. Die Wagen dieses Zuges waren innen und außen vollgeklebt mit Werbeplakaten für alles, was die Firma verkaufte. Und das war viel: Kühltruhen, Schlafzimmermöbel, Haustiere, Obst und Gemüse, Werkzeug, Fleisch, Zahnpasta, Lederhosen und so weiter. Aus Anlass der Werbekampagne konnte man Verschiedenes gratis besichtigen, nur nicht den Zoo. Opa entschied sich für den Schlachthof. Der war hier in der Nähe, in einem Gebäude, in dem Opa früher gearbeitet hatte. Er nahm mich mit, um mir das zu zeigen. Dort wurde uns gesagt, dass das nicht als menschliche Nahrung verwertbare Fleisch an den Zoo geliefert würde, für die Raubtiere. Ich wusste also, wo man Nahrung für Simba stibitzen konnte.
Das sollte in der nächsten Nacht geschehen. Zuerst zeigte ich Konrad den Steinbruch. Simba folgte und schnüffelte dort überall herum. Dann ging ich heim und legte mich zeitig schlafen. Nach vier Stunden stand ich auf, zog mich an, nahm mein Fahrrad und schlich mich heimlich fort.
Konrad nebst Simba traf ich an einer verabredeten Stelle. Wir gingen zum Schlachthof. Konrad erklärte mir, dass die Kühlanlagen auch warme Luft abgeben (wusste  ich gar nicht), die durch Lüftungsöffnungen über dem Dach austreten. Da wollte er einsteigen. Er konnte nicht – wie das die Vampire angeblich tun – die Außenmauer einfach hochlaufen. Aber es war ihm möglich am Abflussrohr der Dachrinne hochzuklettern – er war ja leicht. Ich wartete mit Simba vor der Eingangstür, die er dann von innen öffnete. In dem Augenblick, als er auf die Türklinke drückte, heulte die Alarmsirene los. Konrad zog schnell den Sack aus der Tür, den er mit kleinen Stücken verschiedener Fleischsorten gefüllt hatte. Simba sollte nämlich eine abwechslungsreiche Ernährung erhalten.
Die Sirene hatte den Mann herbeigerufen, der das Gebäude bewachen sollte. Ich sah ihn, als ich die Tür schließen wollte. Sofort trat Konrad dazu, mit weit geöffnetem Mund seine langen, spitzen Eckzähne zeigend. Auch Simba hatte begriffen, worum es ging. Sie fauchte den Nachtwächter giftig an. Der schloss hastig die Tür und zog sich zurück. Er hatte uns ja nur vor der Tür gesehen, musste demnach glauben, dass wir das Gebäude erst betreten wollten. Er nahm also an, dass der Alarm uns verscheucht hätte.
Als wir uns etwas von dem Gebäude entfernt hatten, zog Konrad ein Stück Fleisch aus seinem Sack und legte es Simba vor. Diese sah ihn an, als wollte sie sagen: ¨So etwas Feines, soll das etwa für mich sein?“ Erst nachdem Konrad sie dazu aufgefordert hatte, ließ sie sich’s schmecken. Wie ein Raubtier verhielt sie sich demnach nicht. Wenn sie in Konrads Heimat Sprachenpillen hatten, dann gab es da vielleicht auch Hundepillen, mit denen man einem anderen Tier hundeähnliche Eigenschaften geben kann? Wenn Konrad Simba so eine Pille gegeben hatte, und da sie offenbar sofort wirkte, bleibt sie vielleicht nicht lange wirksam?
Eine Stunde vor Sonnenaufgang lag ich wieder in meinem Bett, stand aber rechtzeitig wieder auf, denn die Großeltern sollten von meinem nächtlichen Ausflug nichts merken. Auf dem Frühstückstisch lag die Lokalzeitung. Darin las ich, dass tatsächlich eine Löwin aus dem Zoo ausgebüchst war. Wenn die Großeltern das gesehen hätten, wäre ich sicher belehrt worden, dass solche Tiere gefährlich sind und hätte nicht fort gedurft. Aber Oma liest in der Zeitung nur den Fortsetzungsroman „Die sieben Sinne der Liebe“ und Opa schimpft nur, weil die Zeitungsleute angeblich ihre Zeitung mit immer kleineren Buchstaben drucken.
Nach dem Frühstück fuhr ich wieder zu Konrad. Der merkte natürlich, dass ich noch sehr müde war und sagte mir, ich solle noch etwas in seinem Grabe in seinem Sarge schlafen – nein, in dem Grabe der Geschwister Thanatopoulos und in dem von ihm benutzten, freien Sarge. Das wollte ich nun doch nicht ganz, denn in dem Sarg, in dem Konrad geschlafen hatte, war sicher etwas Weltraumkälte hängen geblieben. Ich nahm also den anderen leeren, obwohl der nicht so gut gepolstert war.
 
Nach drei Stunden weckte mich Konrad. Er sah mich mit sorgenvoller Miene an.
„Es ist etwas sehr Unangenehmes geschehen. Mir wird vorgeworfen, durch unlautere Maßnamen mit dir in Verbindung getreten zu sein. Ich hatte in meinem Bericht erwähnt, dass ich, am Tage unseres ersten Zusammentreffens, mich in dem Ästegewirr eines Baumes festgehakt zu haben. Nun wird von unserer Kontrollbehörde behauptet, ich könne das absichtlich getan haben. Und dann hätte ich durch Rufe und Bewegungen deine Aufmerksamkeit erregt. Das alles soll in einem Disziplinarverfahren untersucht werden, das nun gegen mich eingeleitet wird“.
„So ein Quatsch“, antwortete ich Konrad. „Aber so etwas kommt bei uns auch vor. Wenn ich dir durch meine Zeugenaussage helfen kann, dann will ich das gern tun“.
„Geht leider nicht. Irdische Wesen dürfen das nicht“.
„Ah, das bereits erwähnte primitive Gehirn?“
„Nicht nur. Die Verhandlungen finden an einer Stelle statt, und die die nicht zugänglich ist“.
„Verstehe. Du musst also von hier fort. Und was wird aus Simba?“
„Ich kann dich nur bitten, dich um sie zu kümmern. Wenn du sie nicht zu dir oder mit dir nehmen kannst, dann suche bitte jemanden, der sie betreuen kann. Für den morgigen Tag habe ich sie noch vorbereiten können. Sie wird dir treu zu Diensten stehen. Leider ist sie nicht in der Lage, alles aufzunehmen, was ich ihr geben möchte“.
„Ich verstehe. Ihr Gehirn ist noch primitiver als meins. Aber ich weiß, wo ich sie unterbringen kann, wo sie gut gepflegt werden wird. Ich verspreche dir, dass ich sie dort hinbringen werde“.
Ich dachte an den Zoo, aus dem sie ausgerissen war. Ehe ich aber nachdenken konnte, wie das geschehen konnte, teilte mir Konrad mit, er würde jetzt abgeholt werden. Er sagte mir noch viele nette Worte, unter anderem:
„Edler Knabe Matthias, ich bedanke mich für die Hilfe, die du mir geleistet hast“.
 Ich sagte ihm, dass ich gern noch länger mit ihm zusammen geblieben wäre und dass ich mich immer an ihn erinnern würde.
Dann ging er. Erst sah ich ihn noch deutlich, dann wie in einer Art Nebel, und gleich darauf war er verschwunden. Wie er abgeholt wurde oder wer ihn abgeholt hat, kann ich nicht sagen.
 
Ich überlegte mir nun, was ich mit Simba anfangen sollte. Im Zoo anrufen und sagen sie wäre hier? Das einzige Telefon, weit und breit, war bei den Großeltern. Die würden alles mithören und meinen Eltern später erzählen, in welche Gefahr ich mich begeben hätte, mit dem wilden Tier. Unmöglich. Außerdem würde der Zoo dann jede Menge Häscher schicken, Simba würde vor denen ausreißen, wohlmöglich ins Dorf laufen, und dann für die Dorfbewohner eine Gefahr darstellen. Dann müsste sie erschossen werden. Also auf keinen Fall im Zoo anrufen.
Aber ich könnte vielleicht selbst Simba zum Zoo bringen. Mit dem Zug. Der erste, morgens, fuhr zeitig hier ab. Fast leer, es stiegen nur einige Angestellte des Zoos ein, hier und an den folgenden Haltestellen, bis zum Zoo. Dann fuhr der Zug weiter, in die Stadt, um die Zoobesucher und andere Touristen abzuholen.
Ich würde am Zoo mit Simba aussteigen, warten, bis die Fahrgäste gegangen sind, dann bis zum Eingang des Tierparks gehen, es war sicher nicht weit. Der war wahrscheinlich noch geschlossen, aber da war vielleicht eine Klingel oder ich könnte jemanden rufen. „Ich bringe Ihnen Ihre ausgerissene Löwin wieder“, würde ich dann sagen. Im Laufe des folgenden Gesprächs hoffte ich, dass ich einflechten könne, dass ich gern, als Finderlohn für Simba, drei Eintrittskarten für die Großeltern und mich haben würde.
 
Am nächsten Morgen ging es los. Ich sagte den Großeltern, dass ich gern den Sonnenaufgang vom Krähenhügel aus beobachten wollte. Opa lobte meine gute Absicht, Oma bereitete mir ein Frühstück vor.
Es war noch dunkel, als ich zum Friedhof ging, um Simba abzuholen. Ich gab ihr noch den Rest unseres geklauten Fleisches zum Frühstück. Dann folgte sie mir brav zum Bahnhof. Der Zug stand schon da. Am Automaten löste ich eine Rückfahrkarte. Simba versteckte sich inzwischen hinter dem letzten Wagen des Zuges. Der stammte noch vom Anfang des vorigen Jahrhunderts – oder war so hergerichtet worden. Denn an einem Abteil des letzten Wagens stand ein Schild „Für Reisende mit Traglasten“. Dort stiegen wir ein. Ich staunte über die Einrichtung des Abteils: Die Reisenden konnten ihre Traglasten dort wirklich leicht abstellen. Es waren meist große Körbe mit Waren, die die Marktfrauen auf dem Rücken trugen.
Der Zug fuhr pünktlich ab. Simba gefiel es offenbar, gefahren zu werden. An den ersten drei Haltestellen stiegen ein paar Leute zu. An der vierten hielt der Zug erst ungewöhnlich lange. Dann kam eine Ansage, eine ruhige Damenstimme ertönte im Lautsprecher: „Auf Grund einer bedauernswerten Störung muss der Zugverkehr hier unterbrochen werden. Die Reisenden werden gebeten, den Zug zu verlassen. In wenigen Minuten wird ein Autobus zu Ihrem Weitertransport zur Verfügung stehen“.
So ein Pech! Ausgerechnet an dem Tage, an dem ich Simba in ihren Zoo bringen will, fährt der Zug nicht weiter. Und ich soll mit meinem wilden Tier in einen Autobus steigen! Unmöglich! Also zu Fuß weiter. War zwar noch ziemlich weit, aber ging eben nicht anders.
Wir stiegen an der vom Bahnhof abgewandten Seite aus, überquerten ungesehen eine Straße. Dann immer den Schienen nach. Die führten durch einen Hügel, in einem Einschnitt. Simba lief unten, neben den Schienen, ich oben, auf der Böschung. Auf dem Gipfel des Hügels sah ich, in einiger Entfernung, eine Straße, die zu einem Bahnübergang führte. Auf der Straße standen mehrere große Fahrzeuge. Beim Näherkommen glaubte ich, Polizeifahrzeuge zu erkennen. Da waren offenbar auf dem Bahnübergang zwei Autos zusammengerammelt, und nun wurde die Sache von einem hohen Polizeiaufgebot untersucht.
Wie sollte ich denn mit Simba über diese Straße kommen? Ich überlegte schon, ob ich da nicht hingehen soll, eine Polizisten rufen, und ihm sagen: „Sehen Sie, dieses Tier läuft mir dauernd nach. Es sieht aber so aus, als ob es in de Zoo gehört. Können Sie da nicht etwas machen, bitte…“
Aber ich ging erst mal weiter. Beim Näherkommen konnte ich die „bedauernswerten Störung“ erkennen, von der die Dame im Lautsprecher vorhin gesprochen hatte. Auf dem Bahnübergang war etwas los.
Die Schranken waren geschlossen. Vor der einen stand ein Auto, noch davor ein Mann, der einem anderen Mann einen Revolver an den Kopf hielt. Auf beiden Seiten des Bahnübergangs standen, in respektvollem Abstand, mehrere Polizisten. Ich ging noch einige Schritte näher. Da ertönte, aus einem Lautsprecher, eine hässliche, drohende Männerstimme: „Werfen Sie Ihre Waffe weg und kommen Sie mit erhobenen Armen hierher!“ Der Mann mit dem Revolver rührte sich nicht.
Was da los war, habe ich natürlich erst später erfahren. Ich will es aber gleich erzählen, damit das Folgende leichter verständlich wird. Die Straße, die über den Bahnübergang führt, geht in ein großes Dorf. In dem gibt es eine kleine Filiale einer Bank. Der Bankdirektor war allein zu Hause, seine Frau und Kinder waren in den Ferien. Der Mann mit dem Revolver, auf dem Bahnübergang, war ein Bankräuber. Früh am Morgen hatte er den Bankdirektor mit vorgehaltenem Revolver aus dem Bett geholt, ihn dann mit vorgehaltenem Revolver gezwungen die Bank aufzuschließen und den Alarm auszuschalten.
Die Bank hatte aber zwei Alarmanlagen. Nur die eine, die mit der laut heulenden Sirene, hatte der Bankdirektor ausgeschaltet. Die andere war angelegt worden, weil man nur über den Bahnübergang schnell aus dem Dorf wegkommen kann. Sie schloss, bei Alarm, die Bahnschranken und alarmierte die Polizei.
Als der Bankräuber nun sich vom Bankdirektor – mit vorgehaltenem Revolver – alles vorhandene Geld hatte geben lassen, nahm er ihn als Geisel mit. Er zwang den Bankdirektor in dessen Auto zu steigen und mit ihm fortzufahren. Das ging gut, bis das Auto vor der geschlossenen Bahnschranke stand. Da wollte der Bankräuber warten, bis ein Zug kam. Es kam aber die Polizei. Erst die von Käsedorf auf der einen Seite, dann die von Entenhausen auf der anderen. Da ließ der Bankräuber den Bankdirektor mit vorgehaltenem Revolver aussteigen und er sagte den Polizisten, dass ihn erschießen würde, wenn sie nicht die Schranke öffnen und ihn durchlassen würden, ohne ihn zu verfolgen.
Dies Alles wusste ich noch nicht, als ich, in einiger Entfernung von den beiden Männern stand. Ich erriet aber, dass der mit dem Revolver nichts Gutes vorhatte. Da kam mir eine Idee, wie ich die Sache beenden konnte und Simba ohne große körperliche Anstrengung in ihren Zoo bringen konnte. Simba war in meine Nähe gekommen. Offenbar hatte sie Konrad gut vorbereitet. Sie schien den gleichen Gedanken zu haben, wie ich, denn sie schaute mich an, als wolle sie sagen „soll ich?“ Ich sagte:
„Ja, der mit dem Revolver!“
Der schaute zu den Polizisten hin, der von ihm bedrohte aber hatte sein Gesicht mir zugewandt. Ich machte ihm ein Zeichen, indem ich mir den Zeigefinger vor den geschlossenen Mund hielt. Zu den Polizisten machte ich dieselbe Geste, obwohl sie wahrscheinlich zu weit standen, um das genau zu erkennen.
Ich gab Simba einen leichten Klaps auf ihr Hinterteil. Sie brauste los, in gewaltigen Sprüngen. Der Revolvermann bemerkte sie.
Um zu verstehen, was nun kam, muss man sich in die Lage des Bankräubers versetzen. Er stand unter Stress, unter enormem Stress. Die Sache war überhaupt nicht so gelaufen, wie er gedacht hatte. Außerdem war in der Bank nur sehr wenig Geld gewesen. Heute läuft alles über bargeldlosen Verkehr. Da lohnt es sich gar nicht mehr, eine Bank auszurauben. Und wer erwartet schon, wenn er, mit seinem Geisel vor der Polizei steht, dass da ein wild schnaubendes Raubtier, mit offenem Maul und funkelnden Augen, auf ihn zu springt?
Der Bankräuber erschrak. Er erschrak so sehr, dass er den Geisel losließ und seinen Revolver fallen ließ. Im selben Augenblick drückten ihm schon Simbas Vordertatzen unsanft auf die Brust. Er fiel um, und Simba stelle sich neben ihn, mit weit geöffnetem Rachen über seinem Kopf. Der befreite Bankdirektor kam auf mich zu:
„Das war ja großartig, mein Junge. Wie soll ich dir nur danken?“
„Indem Sie nichts Journalisten erzählen. Wenn nämlich meine Eltern erfahren, dass ich hier mit diesem wilden Tier durch die Gegend gelaufen bin, da bekomme ich was zu hören…
Ich sprach nicht weiter, denn ich bemerkte, dass ein Polizist sein Gewehr hob. Wenn nämlich die Gefahr besteht, dass ein – selbst gutartiges – Tier einen Verbrecher beißt, dann muss das Tier erschossen werden. Ich rief:
„Nicht schießen, sie beißt nicht!“ und lief mich vor Simba stellen. Nach der anderen Seite gab das Auto Deckung.
Ich beobachte den Bankräuber, der wie gebannt Simba ins Maul starrte. Erst zappelte er noch etwas, dann wurde er bewusstlos. Nicht aus Angst, glaube ich. Sondern, weil Raubtiere sich nie die Zähne putzen, haben sie einen Mundgeruch… Außerdem sabberte Simba ein klein wenig.
Ich hob den Revolver auf. Solche Dinge sind gefährlich, man soll sie nicht auf der Straße liegen lassen. Bei den Hütern der Ordnung rührte sich nichts. Sie fürchteten sich offenbar vor Simba. Außerdem war in ihrer Dienstvorschrift nichts für den Fall vorgesehen, dass ein Elfjähriger mit einer Löwin in eine Geiselname eingreift.
Simba wurde es offenbar langweilig. Sie machte das Maul zu und kam zu mir. Bei den Polizisten regte sich nichts. Ich rief ihnen zu:
„Sie können ihn jetzt abholen!“
Aber bei den Polizisten regte sich immer noch nichts. Offenbar mussten die von Entenhausen und die von Käsedorf erst sich über ein gemeinsames Vorgehen abstimmen.
Der Bankräuber erwachte aus seiner Ohnmacht. Ich sah, wie er sich ein wenig bewegte. Das erinnerte ich mich an einen Film, den ich im Fernsehen gesehen hatte. Da hatte einer, dem sie seinen Revolver schon abgenommen hatte, noch einen zweiten in seiner Tasche. Und als keiner an so etwas dachte, zog er ihn heraus und ballerte damit um sich herum. Verschoss sogar mehr Kugeln, als Patronen in seinem Revolver sein konnten. Der Bankräuber hatte vielleicht auch einen zweiten Revolver? Von den Polizisten hatte sicher mindestens einer den Film auch gesehen. Aber sie rührten sich nicht.
Muss man denn hier alles alleine machen? Es sah ganz so aus. Aber ich wusste nicht, wie ich den Mann, der da auf dem Boden lag, anreden sollte. Ich wusste ja noch nicht, dass er ein Bankräuber war, sonst hätte ich „Herr Bankräuber“ sagen können.
Er blinzelte gerade zu mir und zu Simba und schielte auf seinen Revolver, den ich noch immer in der Hand hielt. Da wagte ich zu sagen:
„Sie da, der Revolverheld, Sie stehen jetzt langsam auf, heben langsam die Hände, gehen langsam zu den Polizisten. Aber ganz langsam, sonst könnte meine Löwin unruhig werden“.
Er tat dann auch, was ich ihm gesagt hatte, obwohl es sicher sehr unhöflich von mir war, ihn als Revolverhelden zu bezeichnen. Aber ich stand auch unter    Stress. So was hatte ich noch nie gemacht.
Die Polizisten legten ihm Handschellen an. Somit konnten sie sagen, sie hätten auch etwas zur Verhaftung des Bankräubers beigetragen.
„Kann bitte jemand im Zoo anrufen,“ rief ich dann den Polizisten zu, „damit jemand kommt, um Simba abzuholen?“
Ich sah, dass einer tatsächlich sein Handy nahm und ein langes Gespräch führte. Dann legte er das Handy auf die Erde und rief mir zu:
„Der Verantwortliche vom Zoo will dich sprechen. Dein treuer Begleiter scheint zwar recht friedlich zu sein und dir gut zu gehorchen, aber wir ziehen uns doch aus Sicherheitsgründen erst etwa zwanzig Meter zurück. Dann nimm bitte das Handy auf und melde dich“.
Das tat ich, meldete mich mit meinem Namen.
„Wie bist du denn an unsere Löwin gekommen?“ wollte der Mann vom Zoo wissen. Wenn ich bei der Wahrheit geblieben wäre, dann hätte ich ihm antworten müssen: „Da war so ein extraterrestrischer Junge, der hat gesagt, sie sei sein Hund und hat sie auch entsprechend behandelt und erzogen. Nun musste er aber fort, und da hat er sie mir gegeben, ich solle mich um sie kümmern“. Wenn ich das gesagt hätte, wäre ich aber glatt im Irrenhaus gelandet. So sagte ich:
„Ich bin heute morgen sehr zeitig raus, um den Sonnenaufgang zu beobachten. Da ist sie gekommen und hat mich traurig angesehen. „Du hast dich wohl verlaufen? Bist aus dem Zoo ausgerissen, “ hab’ ich sie gefragt, „und nun weißt du nicht mehr zurück? Komm, ich bring dich wieder hin“. Bin mit ihr zum Bahnhof, hab eine Rückfahrkarte gelöst, wir sind eingestiegen, in das Abteil für Reisende mit Traglasten, und sind so weit gefahren, bis es wegen der Geiselnahme nicht weiter ging“.
„Wie hat sie sich denn verhalten, als der Zug fuhr?“ fragte mich die Stimme aus dem Telefon.
„Prima!“ antwortete ich. Hat sich gefreut, dass sie gefahren wurde. Hat sich aufgerichtet, sich mit den Vordertatzen unter dem Fenster festgehalten, und hat rausgeguckt“.
„Das ist ja sonderbar! Den Transport mit dem Auto hat sie nie gemocht. Hat gebrüllt, gekratzt, wild um sich geschlagen. Wenn sie jetzt unser Auto mit dem Käfig nur sieht, ist sie nicht mehr zu bändigen, fürchte ich. Das wird ein Problem, das Abholen“.
„Na, dann lassen Sie doch den Zug kommen. Er steht noch da, wo wir ausgestiegen sind. Ich steige dann mit ihr ein, wir fahren bis zum Zoo, und ich bringe sie Ihnen. Vielleicht darf ich dann, wenn ich einmal da bin, Ihren Zoo umsonst besichtigen. Ich war nämlich noch nie dort, bei dem Eintrittspreis, den Sie verlangen…“
„Aber sicher, mein Junge, du darfst uns besuchen so oft du willst! Wenn wir sie hätten einfangen müssen, was das gekostet hätte! Und dein Vorschlag ist großartig. Ich werde gleich veranlassen, dass der Zug dort vorfährt“.
Ich legte das Handy wieder dorthin, wo ich es aufgenommen hatte und legte den Revolver dazu. Dann warteten wir auf den Zug. Ich weiß nicht, ob Simba verstanden hatte, dass sie wieder mit dem Zug fahren sollte, aber sie blickte dauernd in die Richtung, aus der er kommen musste.
Endlich war es so weit. Der Zug näherte sich majestätisch langsam. Wie der Orient-Express, wenn er in den Bahnhof Istanbul einfährt. Der Lokomotivführer winkte uns freundlich zu und hielt dann so, dass das Abteil für Reisende mit Traglasten uns genau gegenüber stand. Die Bahnschranken, die ganz unvorschriftsmäßig geschlossen waren, solange kein Zug kam, öffneten sich, genau so unvorschriftsmäßig, als der Zug da stand.
Ich öffnete die Abteilstür, Simba sprang hinein, ich kletterte ihr nach. Der Ton einer Trillerpfeife war zu hören, dann ging es los. Ohne Halt bis zum Zoo. Dort warteten Schaulustige, die den Elfjährigen mit seiner Löwin sehen wollten, und andere, die die Schaulustigen von der Löwin zurückhalten sollten.
Es war nicht weit bis zum weit offen stehenden Tor des Tierparks. Ein Wärter nahm uns in Empfang. Er führte uns zu einem Freigehege, eine Art Garten mit einem hohen Zaun. Da war ein als Schleuse dienender Käfig: da Tier ging zu der Außentür hinein, wenn die zu war, wurde die Innentür aufgemacht und das Tier lief ins Gehege.
In dem Gehege sah ich einen großen, dicken Löwen mit einer noch dickeren Mähne. Hat der mich vielleicht angefaucht, als ich mit Simba näher kam. Ich habe mich dann vor sie hingekniet um mich zu verabschieden. „Gib Pfötchen“ habe ich gesagt, und meine Hand ausgestreckt. Sie rührte sich nicht. Da habe ich mich erinnert, dass das nur die Hunde das machen, die Katzen tun so, als ob sie das nicht verstünden. Und Simba ist ja schließlich eine große Katze. Sie ist dann rein, in ihr Gehege, und der Löwe hat sie angebrüllt, aber wie! Da glaubte ich zu verstehen, warum sie aus dem Zoo ausgerissen war.
Kaum war Simba in ihrem Gehege, da stand schon ein Uniformierter hinter mir. War der Polizeihauptmann, der den Einsatz befehligt hatte. Sagte mir, er bewundere meinen Mut, bei der Polizei könnte man solche Leute wie ich gebrauchen, und wenn ich später mal…
„Ja, vielleicht“, antwortete ich ihm, „aber im Augenblick ist mir wichtig, dass Sie nichts von Simba und mir den Journalisten erzählen. Wenn meine Eltern erfahren, dass ich mit einem Raubtier auf Verbrecherjagd gegangen bin…“
„Keine Angst. Wir von der Polizei können die Zeitungsleute ohnehin nicht leiden. Wir möchten nicht, dass eine sensationsgierige Berichterstattung unsere unermüdlichen Anstrengungen in den Schatten stellt“.
So konnte ich, am nächsten Tage, in der Zeitung von dem unerschrockenen Einsatz der Spezialkräfte lesen, von ihrem raschen gut geplanten und erfolgreichen Handeln, das zur sofortigen Befreiung des Geisels und der unmittelbar darauf folgenden Verhaftung des Verbrechers führte.
Als der Polizeihauptmann fort war, kam der Zoodirektor. Sagte mir, er bewundere meinen Mut, im Zoo könnte man solche Leute wie ich gebrauchen, und wenn ich später mal…
„Ja, vielleicht“, antwortete ich ihm, „aber im Augenblick möchte nur bitte Freikarten für meine Großeltern und mich, wir sind ja noch nie in Ihrem Zoo gewesen, der Eintritt ist ja so teuer…“
„Aber gewiss! Ich werde sogleich Freikarten anfertigen lassen. Bei uns war nämlich so etwas bisher nicht üblich. Da das eine Weile dauern wird, darf ich dich vielleicht noch zum Mittagessen in unserem Restaurant „Zum hungrigen Tiger“ einladen?“
„Ja gern, aber meine Großeltern…“
„Werde sie gleich telefonisch benachrichtigen. Werde ihm von unserem Preisausschreiben berichten, das du gewonnen hättest, so etwas hat sich schon einmal ereignet. Gib mir bitte ihre Telefonnummer“.
Den Großeltern kam die Sache zwar sonderbar vor, wie sie mir später sagten, aber da der Zoodirektor ihnen die Freikarten ankündigte, ließen sie mich im „Hungrigen Tiger“ essen. Was es da gab, war übrigens recht gut, und die Tochter des Direktors – bedeutend älter als ich – aß mit und zeigte mir, wie man sich in einem so feinen Restaurant zu benehmen hat.
Kurz nach dem Essen kam der Bankdirektor mit seiner Frau und seinen Kindern, ein Bub von acht Jahren und ein Mädchen von sechs. Sie waren nicht weit von hier in Ferien gewesen und sofort gekommen, als sie erfuhren, was geschehen war.
Der Direktor sagte mir „Worte seines aufrichtigen Dankes“, seine Frau gab mir einen feucht-schleimischen, klebrigen Kuss, der Junge sagte mir, dass er mal so werden möchte wie ich, und das Mädchen – von ihr hätte ich einen Kuss vertragen, bekam aber keinen – meinte:
„Ich hätte gern, dass alle Jungen so wären, wie du!“
Da sie ihren Bruder dabei nicht ansah, nehme ich an, sie hatte anderweit schlechte Erfahrungen mit dem männlichen Geschlecht gemacht.
Der Zoodirektor brachte mir dann die angekündigten Freikarten.
„Ich gebe dir fünf Eintrittskarten, für deine Großeltern und für den Fall, dass du Freundinnen oder Freunde mitbringen willst, und für dich, eine Jahreskarte“.
Ich bedankte mich höflich, wunderte mich aber etwas, dass der großzügige Spender mir nicht mehr als drei Freundinnen und Freunde zutraute.
Dann boten beide Direktoren – der vom Zoo und der von der Bank – mir an, mich im Auto zurückzubringen. Ich lehnte das dankend ab, fürchtend, die Großeltern würden mir unangenehme Fragen stellen, wenn ich in einem Auto ankäme. Außerdem hatte ich ja noch meine Rückfahrkarte, und so etwas soll man ja nicht verfallen lassen.
Die Großeltern waren recht stolz auf mich, als ihnen die Freikarten für den Zoo zeigte. Ich hatte eine lange Geschichte zu erfinden, um zu erklären, wie ich sie im Preisausschreiben gewonnen hatte.
Am nächsten Sonntag besuchten wir dann den Zoo. Über das Freigehege mit den Löwen ging eine Brücke, von der aus man die Tiere betrachten konnte. Ich erkannte Simba sofort und rief sie. Sie drehte sich nach mir, schaute mich an und schüttelte traurig den Kopf. Sie sah es wohl ein, dass sie nicht jemandes Hund sein durfte.
Die restlichen Ferientage verliefen in angenehmer Ruhe. Ich ging noch einmal zum Grabe der Geschwister Thanatopoulos um zu schauen, ob da nichts verriet, dass es von Konrad als Schlafzimmer benutzt worden war. Und tatsächlich, er hatte seinen Sarg offen gelassen. Er tat das immer zum Auslüften, aber bevor seinem Weggehen hätte er ihn schließen können. Als ich das tun wollte, bemerkte ich, dass da ein grünes Kopfkissen lag. Es passte überhaupt nicht zu der lila Bespannung. Ich nahm es heraus. Es war sehr kalt. Und in der einen Ecke ragte aus der Naht ein kleines Schild hervor: „Planet-Service, Paris“.
Ich habe es mitgenommen, das Kissen, als Erinnerung an Konrad. Es hat immer noch etwas Weltraumkälte in sich. Jedes Mal, wenn ich es sehe, denke ich an Konrad. Aber wenn ich ihn noch mal treffe, will ich ihm sein Kissen gern wiedergeben.
 
Ende
 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 22.05.2018. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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