Heinz-Walter Hoetter

Das magische Buch

Der junge Mann saß traurig auf einem kleinen Felsvorsprung in der Sonne und las in einem uralten magischen Buch, dessen Umschlag aus brüchigem Leder bestand. Er vermisste jemanden, den er sehr liebte.


 

Sein konzentrierter Blick wanderte langsam über die goldfarbenen Symbole, die er mit seinen Lippen halblaut nachformte. Der Himmel über ihm war wolkenlos und obwohl die Sonne schien war es recht kühl hier oben bei den alten Steinen. Deshalb hatte sich Daiton Vennedey vorsorglich in eine lange, dicke Felljacke gehüllt, die er aber vorne aus Gründen der Bewegungsfreiheit nicht zugeknöpft hatte.


 

Daiton liebte die Einsamkeit hier oben in den hohen Bergen, das mystische Wispern des Windes und das ferne, dumpfe Rauschen des mächtigen Wasserfalles, der so namenlos wie das zerklüftete Gebirge war, das sich zu seiner Rechten bis zum Horizont erstreckte. Direkt unterhalb des leicht überhängenden Felsens dehnte sich eine weite, karge Geröllebene aus, in der nur sporadisch verteilt einige verkrüppelte Bäume und strohig aussehende Büsche wuchsen, die, zumindest rein äußerlich gesehen, denen auf der Erde sehr ähnlich waren.


 

Die bizarr anmutende Bergwelt dieses fremden Planeten kam Daiton außerdem irgendwie irreal vor, was vielleicht auch daran lag, dass er sich einfach nicht an die unheimlich anmutende Stille gewöhnen konnte, die hin und wieder nur durch das Heulen des Bergwindes unterbrochen wurde.


 

Der junge Mann blätterte zur nächsten Seite um und überflog mit suchendem Kennerblick die mystischen Symbole, die ihm Gold glänzend entgegen leuchteten. Dann wusste er, dass diese Zeilen keine magischen Zauberkräfte enthielten oder diese möglicherweise von selbst entwickeln konnten, sondern nur einige philosophische Erkenntnisse zum Ausdruck brachten, dessen Verfasser ein gewisser Mann namens „Ruairidh“ war, der weit vor Daiton Vennedeys Zeit im Mittelalter gelebt hatte und ein hochangesehener keltischer Druide und Magier gewesen war. Auch er hielt dieses uralte magische Buch einmal in seinen Händen, denn was da stand, das konnte damals noch kein Mensch wissen, es sei denn, er hat die Zukunft besucht.


 

Daiton las, was Ruairidh dem uralten magischen Buch an persönlicher Lebenserfahrung und Weisheit hinzugefügt hatte.


***

Der Mensch ist ein Gefangener in Raum und Zeit. Nur der Tod kann ihn daraus erlösen. Nichts von dem, was der Mensch je erschaffen hat, ist von Dauer gewesen. Selbst seine steinernen Denkmäler nicht. Sie werden vom Wind der Zeit geschliffen, abgetragen und hinweg gefegt, als hätte es sie nie gegeben. Sie zerfallen zu Staub. Auch all sein Wissen, seine zivilisatorischen Errungenschaften und seine technischen Großtaten haben keinen Bestand vor den immer gültigen Gesetzen der Ewigkeit. Des Menschen Werke sind wie Schall und Rauch. Sein verweslicher Körper besteht aus Elementen und Stoffen, die aus dem Tod der Sterne hervor gegangen sind. Er ist wie ein verlorener Gedanke, der aus dem Nichts kam und in dieses Nichts wieder zurückkehren wird.


 

Wer wird sich seiner erinnern?


 

Niemand!


 

Das ist des Menschen Schicksal.


 

Doch der wahre Ursprung allen Seins liegt in den schier unerschöpflichen magischen Kräften des Universums, die überall verborgen sind und heimlich walten.


 

Der Sucher aber wird sie finden. Und wenn er sie gefunden hat, muss er sie beherrschen lernen. Wenn er sie beherrscht, dann werden sich ihm die Geheimnisse der Ewigkeit von Raum und Zeit offenbaren. Er wird früher oder später erkennen, dass die magischen Kräfte die Erschaffer und Bewahrer dessen sind, was der Mensch Realität oder Wirklichkeit nennt. Seine irdisch angepassten Sinne halten ihn in dieser Wirklichkeit, die er als Gegenwart wahrnimmt, gefangen.


 

Die magischen Kräfte jedoch werden ihn daraus befreien und ihm ein ewiges Bewusstsein schenken, das keine Schranken kennt, sondern nur grenzenlose Ewigkeit.“


 


 

Grausam ist die Gegenwart.

Gefangen bin ich in ihr.

Deshalb bring mich in die Vergangenheit

oder in die Zukunft!

Ganz nach meinem Wunsch.
So hilf mir, mein Schicksal zu besiegen, mächtiges magisches Buch!

Aber ich gehe ganz ohne dich durchs Sternentor. Ja, ich kehre niemals mehr daraus zurück. Das ist mein letzter Wille.

Dadurch bereite ich vor, was andere nach meiner Zeit nutzen können. Vielleicht wird der eine oder andere mir folgen.


Diese Zeilen schrieb ich in dunkler Zeit vor Beginn meiner Reise zu den Sternen.


 

Ich, der Druide und Magier „Ruairidh“.


***


Der junge Mann hob seinen Blick und schaute zu den seltsam geformten Riesensteinen hinüber, die unverkennbar einen großen Kreisrund bildeten. Dann lehnte er sich etwas zurück. Die kryptischen Symbole auf den bearbeiteten Steinen waren schon stark verwittert, sodass die meisten davon unleserlich waren. Sie standen hier bereits seit undenklichen Zeiten und niemand wusste, wer sie dort aufgestellt hatte. Nicht einmal die alten Sagen und Legenden oder das uralte magische Buch gaben darüber Auskunft.


 

Die unbekannte Sonne wanderte langsam über den blauen Himmel weiter, aber ihre Strahlen brachten nur wenig Wärme. Daiton zog deshalb die offene Felljacke vorne zusammen und knöpfte sie bis oben hin zu. Die Schatten der Steine wurden länger und länger.


 

Den uralten Schriften und Überlieferungen zufolge gehörte dieser Kreis aus Monolithen zu jenen Stellen, an der ein „magisches Sternentor“ entstehen konnte, das die Möglichkeit bot, durch Zeit und Raum reisen zu können. Reisen durch Raum und Zeit: diese Erzählungen faszinierten den jungen Mann immer wieder, der sich fragte, wer wohl die Erbauer dieser „magischen Sternentore“ waren. Es gab sie allerdings nur auf Planeten im Universum, auf denen sich eine für Menschen atembare Sauerstoffatmosphäre befand, in der sie ohne Schwierigkeiten überleben konnten, jedenfalls für eine gewisse Zeit, wie in dem uralten magischen Zauberbuch ausführlich erklärt wurde.


 

Daitons Aufmerksamkeit wurde schlagartig von einem großen, schwarz gefiederten Adler abgelenkt, der plötzlich aufgetaucht war, sich auf einem der aufrecht stehenden Riesensteine niederließ und ihn eine zeitlang von dort aus mit starrem Blick fixierte, der aber irgendwie böse aussah. Seine scharfen Krallen kratzten unruhig am verwitterten Felsen herum, der an einigen Stellen zu bröckeln begann.


 

Daiton Vennedey hielt für einige Sekunden den Atem an. Der schwarze Greifvogel kam ihm irgendwie vertraut vor, doch konnte er im Augenblick nicht sagen, warum das so war.


 

Dann, als folgte der Adler einem geheimnisvollen Ruf, erhob er sich mit weit ausholenden Flügelschwingen schreiend in die Lüfte, kreiste ein paar Mal über Daitons Kopf hinweg und flog schließlich hinaus in die weite Geröllebene, die abseits der hohen Berge lag. Etwas später verschwand er am fernen Horizont hinter einer sich auftürmenden Wolke. Der junge Mann blickte dem schwarzen Adler noch lange nach, bis er ihn schließlich aus den Augen verlor.


 

Daiton war etwas durcheinander. Er ahnte, dass ihm offenbar ein schwerwiegender Fehler beim Vorlesen der magischen Zeichen unterlaufen war. Seit der letzten Reise durch die Zeit konnte er sich an nichts mehr erinnern. Er empfand das schlichtweg für beängstigend, denn die Situation war irgendwie außer Kontrolle geraten. Nichtsdestotrotz wandte er sich schnell wieder dem uralten magischen Buch in seinen Händen zu, um darin nach einer magischen Zauberformel zu suchen, die wieder alles ins Lot bringen sollte. Daiton wusste nur zu gut, dass es jetzt gefährlich werden konnte. Aber er hatte keine andere Wahl. Nach einer Weile fand er die richtige Zauberformel und las sie sofort laut und deutlich vor.


 

Kaum hatte er das letzte magische Zeichen ausgesprochen, als sich wie aus heiterem Himmel ein heftiger Blitz über dem magischen Steinkreis entlud, der die felsige Umgebung trotz Tageslicht in eine gleißende Helligkeit tauchte.


 

Daiton ließ vor Schreck über die heftige Auswirkung des angewandten Zaubers das Buch fallen und rollte sich instinktiv zur Seite. Er kam in einer kleinen Bodensenke zu liegen, aus der er vorsichtig seinen Kopf herausstreckte, um die gefährlich aussehende Lichterscheinung aus sicherer Entfernung beobachten zu können. Die Steine wirkten jetzt viel dunkler als vorher. Bläulich-weißes Licht strahlte aus ihnen hervor und eine Unzahl von kleineren Blitzen bildeten ein zuckendes Netz aus reiner Energie, das sich dumpf brummend nach und nach um die verwitterten Steine spann.


 

In der Mitte des Kreises nahm gleichzeitig die Intensität des anhaltenden Blitzgewitters zu. Schließlich verdichteten sich die verästelten Blitze zu einer gleißend hellen Kugel, die sich schrittweise zu einer mehr als zwei Meter hohen Energiewand aufbaute, die im Innern mit einem scharfen Zischgeräusch aufriss und die Sicht auf ein wunderschönes, von funkelnden Sternen übersätes Universum freigab. Der junge Mann wusste jetzt, dass sein Zauberspruch das magische Sternentor aktiviert hatte. Endlich konnte er zurück zur Erde. Ein zufriedenes Lächeln huschte über sein blasses Gesicht.


 

Ein heftiger Wind heulte auf einmal über das steinige Plateau. Die Sonne verdunkelte sich ein wenig, als einige dichte Wolken an ihr vorbeizogen.


 

Daiton war sprachlos vor Staunen. Die konzentrierte Helligkeit verursachte Schmerzen in seinen Augen, als er zu dem pulsierenden Energieportal hinüber sah, aus dem plötzlich ein weiterer Blitz hervorschoss, der suchend nach ihm fingerte, bis er ihn schließlich in der Bodensenke fand und sich wie eine zweite Haut um seinen gesamten Körper legte. Dann wurde er abrupt nach oben gerissen. Sekundenlang schwebte der junge Mann, wie von Geisterhand angehoben, frei in der Luft. Schließlich zog ihn der zuckende Energiestrahl mit wachsender Geschwindigkeit in den offen Lichtkranz hinein, ohne das Daiton etwas dagegen tun konnte. Eine fremde Macht nahm offenbar Besitz von seinem Körper, und er fühlte sich wie in eine Zwangsjacke gesteckt, weil er weder Arme noch Beine bewegen konnte.


 

Wieder zuckten überall heftige Blitze aus den verwitterten Steinsymbolen nach allen Seiten, als der junge Mann mit einem lauten Aufschrei im magischen Sternentor verschwand. Gleich darauf fiel auch das spinnenartige Netz aus zuckenden und knisternden Blitzen in sich zusammen, bis es in der Mitte des Steinkreises zu einem winzigen Lichtpunkt geschrumpft war, der noch ein letztes Mal, wie eine verglühende Sternschnuppe, kurz aufleuchtete und nichts weiter hinterließ, als ein qualmendes, dünnes Rauchfähnchen, das sich schnell verflüchtigte.


 

Über der weiten Ebene des felsigen Plateaus brauste wieder ein heftiger Wind, der wie mit unsichtbaren Händen spielerisch in den Seiten des offenen Zauberbuches blätterte. Es lag immer noch am gleichen Platz, wo Daiton einmal gesessen hatte. Doch dann klappte es urplötzlich zu, als wolle es das dreiste Spielchen des Windes nicht mehr mitmachen. Dann, wie von Geisterhand angehoben, bewegte es sich langsam über den felsigen Boden schwebend auf die Mitte des Steinkreises zu, senkte sich wieder herab und blieb in einer kleinen Vertiefung liegen. Es schien fast so, als würde es auf jemanden warten, der, wie Daiton, auch noch durch das magische Sternentor seine Reise zur Erde antreten musste.


 

Und in der Tat, es war so.


 

Ganz plötzlich war der schwarze Adler wieder da, der auf einem der verwitterten Steine im magischen Kreisrund Platz genommen hatte. Seine messerscharfen Krallen umklammerten den brüchigen Felsen, als wolle er ihn nie wieder loslassen. Das uralte Buch öffnete sich von selbst, blätterte mehrmals hin und her und blieb dann bei einer ganz bestimmten Seite stehen. Sofort schwang der Adler herab, hielt das offene Buch mit seinen starken Krallen fest und krächzte solange herum, bis seine Stimme unverkennbar in eine menschliche Sprache überging. Dann las er den Zauberspruch vor.


 

Sekunden später fingerten erneut helle Blitze durch die Luft, die sich in der Mitte des magischen Sternentores zu einem mannshohen Energieportal zusammenschlossen. Auch diesmal fuhr laut zischend ein gleißend heller Lichtstrahl daraus hervor, der den bewegungslos da sitzenden Adler und das uralte Buch erfassten und zusammen in das magische Sternentor hineinzogen. Dann fiel das knisternde Energieportal unter lautem Getöse wieder in sich zusammen. Es verschwand so schnell, wie es gekommen war. Mittlerweile hatte sich das Brausen des Windes gelegt. Eine unheimlich anmutende Totenstille legte sich jetzt über den einsam da liegenden Steinkreis hoch droben auf dem weiten Felsplateau, als wäre es noch nie anders gewesen.


 

***


 

Das Erste, was Daiton Vennedey wahrnahm, als er langsam sein Bewusstsein wiedererlangte, war der durchdringende Geruch nach Desinfektionsmittel und Plastik. Im nächsten Moment spürte er einen glühend heißen Schmerz in der unteren Körperhälfte, und er hatte das Gefühl, seine Eingeweide würden durch einen Fleischwolf gedreht und Stück für Stück in Fetzen gerissen, sobald er sich nur ein wenig bewegte.


 

Ich bin nicht tot. Ich lebe. Daiton dachte eine Weile darüber nach und fand, das er sich darüber glücklich schätzen durfte. Vorsichtig bewegt er seinen Kopf zur Seite und versuchte, sich das transparente Plastikding irgendwie vom Gesicht zu schieben. Aber es gelang ihm nicht. Plötzlich tauchte an seinem Bett das verschwommene Gesicht einer Krankenschwester auf. Sie griff nach seinem Kopf, hielt ihn ruhig und entfernte es für ihn.


 

Wie fühlen Sie sich, Mr. Vennedey? Geht es Ihnen schon besser? Wenn Sie sprechen können, dann reden Sie mit mir. Tun Sie sich aber keinen Zwang an und überanstrengen Sie sich nicht?“ sagte die Frau mit mahnender Stimme.


 

Mister Vennedey? Woher kennt sie meinen Namen? Und sie hat mich mit ‚Mister’ angeredet. Irgendwie hörte sich das fremd an, dachte Daiton so für sich und versuchte seinen Kopf zu wenden, um die Krankenschwester in sein Blickfeld zu bekommen. Der trübe Schleier vor seinen Augen war mittlerweile verschwunden. Die Schwester an seinem Bett war schon ein älteres Semester, hatte leicht angegrautes Haar und trug einen hellgrünen Kittel mit kurzen Ärmeln. Doch ihre Gesichtszüge waren gutmütig.


 

Mr. Vennedey?


 

Die Krankenschwester ließ nicht locker und wartete immer noch auf eine Antwort.


 

Wollen Sie von mir wissen, dass ich nicht tot bin?“ fragte Daiton mit krächzender Stimme und sprach nicht weiter, weil ihm der Hals schmerzte.


 

Ach was, Mr. Vennedey. Sie sind nicht tot. Wir mussten Sie allerdings wieder zusammenflicken. Sie hatten einige tiefe Fleischwunden, die sie fast umgebracht hätten. Aber Sie werden wieder gesund werden. Das ist doch die Hauptsache, nicht wahr? Sie werden nicht einmal Folgeschäden davon tragen. So, ich gebe Ihnen jetzt eine Spritze gegen die Schmerzen. Danach verlegen wir Sie auf ein anderes Zimmer. Die Zeit auf der Intensivstation ist vorbei. Und bleiben Sie mir inzwischen hier schön liegen. Übrigens hat ein junges Mädchen nach ihnen gefragt. Sie nannte sich Shirley Sutherland. Wenn wir Sie verlegt haben, werde ich das Mädchen rufen und euch beide eine Weile allein lassen.“


 

Die Schwester gab Daiton eine Injektion in die Hüfte, verließ den Raum mit erhobenem Zeigefinger und lachte dabei.


 

Kaum war sie draußen, versuchte er sich aufzurichten. Aber es gelang ihm nicht. Die Schmerzen waren einfach zu groß. Daiton legte sich deshalb zurück und wartete geduldig darauf, dass er verlegt wurde. Nach einer Weile kam ein Krankenhelfer und rollte ihn in ein freies Krankenzimmer. Während er das Bett an die Wand schob und diverse Kabel und Schläuche anschloss, fragte sich Daiton, wie lange er wohl weg gewesen war. Ein Jahr, zwei Jahre oder länger? Verwirrt blickte er sich um und suchte nach einem Kalender an der Wand. Leider ohne Erfolg.


 

Als der Krankenhelfer mit seiner Arbeit fertig war verließ er den Raum, wünschte dem jungen Mann aber vorher noch eine gute Genesung.


 

Plötzlich ging die Tür wieder auf. Ein junges Mädchen steckte ihren schwarz behaarten Kopf durch den sich langsam öffnenden Türspalt.


 

Shirley!“ krächzte Daiton aufgeregt. Sein Gesicht hellte sich urplötzlich auf.


 

Als das Mädchen näher kam, konnte man es ihr deutlich ansehen, welche Angst sie um ihren Freund ausgestanden haben musste. Ihre Gesichtszüge waren etwas eingefallen, ihre Augen gerötet. Sie war sichtlich erleichtert, dass es ihm gut ging und er noch lebte. Daiton Vennedey dagegen war froh, sie endlich wieder zu sehen. Er liebte seine bildhübsche Freundin über alles, die jetzt mit großen Schritten auf ihn zueilte und ihn freudig begrüßte.


 

Dann ergriff Shirley seine Hand, setzte sich auf die Bettkante und erklärte ihrem Freund, dass er bald wieder gesund werden würde. Doch irgendwie hörte Daiton nicht hin, was sie zu ihm sagte. Er freute sich über ihre Gegenwart, denn er hatte sie die ganze Zeit sehr vermisst.


 

Dann unterbrach er ihren Redefluss. Sie hatte sich nämlich gerade darüber beklagt, dass er viel zu dünn für seine Größe sei und besser essen solle. Aber junge Männer in seinem Alter seien wohl einfach zu faul, etwas Vernünftiges zu sich zu nehmen.


 

Daiton musste tief Luft holen. Seine Stimme klang ehr wie ein altes Reibeisen. Das junge Mädchen war mittlerweile verstummt und wartete auf seine Frage.


 

Shirley, welches Jahr haben wir?“


 

Welches Jahr? Warum fragst du mich das ausgerechnet jetzt? Spielt das überhaupt im Moment eine Rolle? Du hast vielleicht Nerven.“


 

Das junge Mädchen kicherte nervös.


 

Nun sag’ es schon, Shirley!“ bat der junge Mann mit gepresster Stimme.


 

Den 26. August 2008.“


 

Sie blickte dabei auf ihre Uhr und sah dann zu Daiton hinüber. Mit ruhiger Stimme sprach sie weiter.


 

Wir waren fast zwei Jahre ohne großen Zeitverlust unterwegs, haben eine ganze Menge Planeten im Universum besucht und sind dabei kaum gealtert. Hättest du das letzte Mal nicht den falschen magischen Zauberspruch vorgelesen, wärst du auch nicht hier im Krankenhaus gelandet. Die scharfkantigen Felsen des zuletzt besuchten Planeten haben dich fast umgebracht. Der Trägerstrahl nimmt keine Rücksicht auf dich, wenn du zu weit weg bist. Stell’ dich also in Zukunft bitte immer direkt vor eines dieser magischen Sternentore, ganz egal auf welchem Planeten du bist. Das ist ganz wichtig, Daiton! Außerdem hast du mich in einen schwarzen Adler verwandelt. Das nächste Mal werde ich den magischen Spruch selbst vorlesen. Ich will sicher gehen, dass unsere weitere Reise ohne Zwischenfälle verläuft.“


 

Daiton runzelte verlegen die Stirn, hob seinen Kopf etwas an und blickte suchend im Krankenzimmer herum.


 

Wo sind unsere Sachen geblieben?“ fragte er das junge Mädchen mit den schwarzen Haaren.


 

Wenn du das magische Zauberbuch meinst, dann kann ich dich beruhigen, mein Liebster. Ich habe es natürlich mitgebracht.“


 

Erleichtert atmete Daiton auf.


 

Noch während Shirley mit ihm redete, deutete sie mit der rechten Hand auf eine große Stofftasche hin, die neben ihr auf dem Holztisch lag. Mit flinken Griffen holte sie das uralte magische Buch mit dem brüchigen Leder daraus hervor, legte es behutsam aufs Bett und blätterte solange darin herum, bis sie die Seite mit einem ganz bestimmten Zauberspruch gefunden hatte. Mit leiser, aber deutlicher Stimme wiederholte sie jedes magische Zeichen, das dort geschrieben stand.


 

Es war ein Zauber der Heilung und der schnellen Genesung.


 

Kurze Zeit später verschwanden die tiefen Fleischwunden eine nach der anderen an Daitons Körper auf wundersame Weise, bis er zum Schluss wieder dazu in der Lage war, aus dem Bett aufzustehen. Er holte seine Kleidung aus dem Schrank und zog sich in aller Ruhe an. Er spürte dabei, wie er von Sekunde zu Sekunde kräftiger wurde. Auch die Haut fing zu prickeln an. Das Leben kehrte in ihm zurück und bald hatte der magische Zauber seine Gesundheit wieder völlig hergestellt.


 

Shirley beobachtete Daiton zufrieden. Dann blickte sie ihn tief in die Augen.


 

Gerade, als sie was sagen wollte, legte Daiton den Zeigefinger seiner rechten Hand auf ihren Mund und wies auf die Tür.


 

Beeilen wir uns, bevor jemand vom Krankenhauspersonal kommt. Ich will nicht, dass man uns dabei ertappt, dass wir ein magisches Zauberbuch bei uns haben. Allerdings würde ich gerne etwas essen und trinken wollen, bevor wir den nächsten Planeten besuchen. Wir müssen übrigens diesmal nach Stonehenge, dem magischen Steinkreis in England. Da fällt mir etwas ein. Was hältst du davon, wenn wir mal wieder ein gutes Speiserestaurant besuchen würden, sagen wir mal im alten London um 1800 oder so, Shirley?“


 

Das junge Mädchen schaute ihren Freund verblüfft an.


 

Kannst du Gedanken lesen? Ehrlich gesagt ist mir auch nach Essen und Trinken zumute. Ich werde gleich nach der Zauberformel suchen.“


 

Shirley blätterte zügig in dem uralten magischen Buch herum. Es schien ihr diesmal dabei zu helfen, die richtige Seite zu finden. Schon nach kurzer Zeit stieß sie auf einen Text, der sich mit Reisen in die Vergangenheit befasste und dazu auch gleich den entsprechenden Zauberspruch dafür bereit hielt. Man musste nur den jeweiligen Ort und das gewünschte Datum hinzufügen.


 

Wie wäre es mit London des Jahres 1875? Sicherlich gab es auch damals schon vorzügliche Restaurants, in denen man gut speisen konnte. Die passende Kleidung dafür werden wir uns mit einem Kleiderzauber besorgen. Einverstanden damit, Daiton? Vielleicht treffen wir bei dieser Gelegenheit auf Vincent van Gogh, der damals in London gewohnt hat. Du weist doch, dass ich seine Bilder liebe und ein großer Fan von ihm bin.“


 

Deine Ideen sind wie immer einfach umwerfend, Shirley. Lies den Zauberspruch am besten gleich vor. Ich glaube Schritte draußen auf dem Flur gehört zu haben.“


 

Das hübsche Mädchen las die Zauberformel laut und deutlich vor. Wenige Augenblicke später verschwanden die beiden jungen Leute von der Bildfläche, als hätte sie der Boden verschluckt.


 

Kurz darauf wurde die Tür geöffnet. Ein Arzt und eine Krankenschwester betraten gemeinsam den Raum und sahen sich verwundert nach allen Seiten um. Das Krankenbett war leer, ihr Patient war nicht mehr auf seinem Zimmer.


 

Ich schwöre, dass dieser Mr. Vennedey vorhin noch da war. Der Krankenpfleger kann das bestätigen, Herr Stationsarzt. Er muss mit diesem Mädchen ausgebüchst sein. Wir müssen die beiden finden, bevor sie das Krankenhaus verlassen können.“


 

Dann informieren sie sofort das Sicherheitspersonal. Sie sollen überall nach ihnen suchen und alle Ein- und Ausgänge sofort sperren lassen.“


 

Ich werde alles in die Wege leiten, Herr Doktor. Ich bin mir ganz sicher, dass wir unseren Patienten bald wiederfinden werden.“


 

Wortlos nickte der Doktor und verließ verärgert das Zimmer.


 

Daiton Vennedey und Shirley Sutherland befanden sich zu dieser Zeit aber schon längst im London des Jahres 1875 und waren trotz des regnerischen Wetters gut gelaunt auf der Suche nach einem geeigneten Restaurant. Schnell wurden sie fündig.


 

Unter dem weiten Regenmantel, in einer Wasser geschützten Tasche des jungen Mannes, befand sich das uralte magische Buch. Es sollte die beiden noch am gleichen Tag nach Stonehenge bringen, dem magischen Steinkreis in der Nähe von Amesbury in Wiltshire, der in Wirklichkeit ein altes Sternentor war.


 

Natürlich mit einem entsprechenden Zauberspruch, und nur im Schutze der Nacht, versteht sich.


 

Und wer weiß. Vielleicht werden die beiden auf ihrer Reise durch Raum und Zeit sogar auf den keltischen Druiden und Magier Ruairidh treffen, denn der hatte Stonehenge im Mittelalter auch schon als Tor zu den Sternen benutzt, das uralte magische Zauberbuch aber auf der Erde zurück gelassen.


 


 

ENDE


 

© Heinz-Walter Hoetter

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.06.2018. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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