F.M.D. Dzaack

Ein Geschenk Gottes

Wie ein kleiner unschuldiger Engel lag er auf ihrer Brust. Er fühlte sich sichtlich wohl und geborgen in diesem Nest der Fürsorge und Liebe. Sie streichelte ihm sanft über seinen Kopf. Glück, ihr größtes Glück war wahr geworden. Sie war Mutter. Endlich, ja endlich war sie Mutter. Sie und ihr Mann hatten es jahrelang versucht, ohne Erfolg. Es schien aussichtslos, die Trennung nur eine Frage der Zeit zu sein. Doch dann als sie es schon aufgegeben hatten, spürte sie etwas. Etwas veränderte sich. Und der monatliche Besuch blieb auch aus. Freilich, sie blieb nach den vielen, vielen Enttäuschungen zunächst skeptisch, wollte ihr Glück gar nicht glauben. Als sie jedoch die zwei vertikalen Balken sah und ihr Sohn neun Monate später gesund auf die Welt kam, fielen jene Enttäuschungen und Ängste von ihr ab. »Er ist ein Geschenk Gottes« , sagte sie als sie ihn zum ersten mal in ihren Armen hielt »ein Geschenk Gottes.«

Indessen manifestierten sich neben der Freude und dem Glück des Mutterseins, Zweifel und beunruhigende Gedanken in ihren Alltag. »Leben und Tod«, dachte sie, » Leben und Tod. Sie gehören zusammen. Sie leben Seite an Seite und doch sind sie von Grund auf verschieden.« - »Aber warum?«, dachte sie weiter, »warum muss ich an den Tod denken, wenn ich meinen lebensfrohen Jungen ansehe? Warum? Was stimmt denn nicht mit mir? Kann ich nicht darüber glücklich sein, dass es ihn gibt? Dass er gesund und fröhlich ist, dass er sich tagtäglich weiterentwickelt. Warum? Warum kann ich mein Glück nicht genießen?!« Dabei genoss sie es mehr als alles andere auf dieser Welt Zeit mit ihrem Sohn zu verbringen. Sie trennte sich nur äußerst ungern von ihm. Sie konnte ihren schutzlosen Engel doch nicht ohne Aufsicht, gar in fremden Händen zurücklassen. Schuldgefühle hatte sie ohnehin schon. Obwohl sie den täglichen Aufgaben einer Mutter mehr als gerecht wurde, verfestigte sich diese Unsicherheit, ja die Angst als Mutter zu versagen. Ihr Mann, der unterdessen versucht hatte sie in ihrer Aufgabe als Mutter zu bestärken, wurde Zeuge ihrer Befangenheit, ihrer Demut vor der eigenen Unfähigkeit an sich selbst zu glauben.

Nichtsdestoweniger kümmerte sie sich rührend um ihren Sohn. Demnach probierte sie vieles mit ihm aus. Sie bauten mit Legosteinen architektonische Meisterwerke. Sie spielten mit Autos, Treckern und anderen Fahrzeugen. Aus Papier und Pappe bastelten sie Blumen, Tiere, Menschen und Fantasiewesen. Sie gingen nach draußen und spielten mit Bällen, mit Wasser, im Sand. Auch Ausflüge in den Zoo, zur Sportveranstaltungen und ins Museum unternahmen sie gemeinsam. Alles, wirklich alles vergnügte ihn. Nichts schien besser oder schlechter als das andere zu sein. Er war ein fröhliches Kind, ein facettenreiches Kind. Sein Lächeln glich einem nicht endenden Sonnenuntergang. Seine Stimme klang wie ein gebündelter Knabenchor. Und sie war stolz auf ihn, so stolz, dass er so war wie er war.

Man konnte mit Recht behaupten, dass sie nur noch für ihren Sohn lebte. Ihre Bemutterung wurde allmählich zwanghaft, ja Besessenheit nahm Besitz von ihr an. Alles andere verlor an Bedeutung; ihre Rückkehr in die Berufswelt oder ins Ehebett entsprachen nur noch den Wunschvorstellungen ihres Mannes, der offensichtlich am meisten unter ihrem Fanatismus litt. Denn sie hatte sich tatsächlich ein Bett ins Kinderzimmer gestellt, ein Einzelbett, für sich, nur für sich und ihren Sohn, in dem sie oft gemeinsam einschliefen. Die Intimität zu ihrem Sohn nahm so seltsame Züge an, dass ihr Mann, man mag es kaum glauben, »neidisch und eifersüchtig auf … « ,er konnte diesen Gedankengang nicht zu Ende führen. Es war besorgniserregend und lächerlich zugleich, aber ihr zu Liebe spielte er die Scharade noch eine Weile mit, bis er dem Voyeurismus nichts Gutes mehr abgewinnen konnte.

Eines trüben regnerischen Abends war es dann soweit, sie sollte mit der Wahrheit konfrontiert, das absurde Vater-Mutter- Kind- Spiel beendet werden. Ihr Mann kam an diesem Abend ein bisschen früher als üblich von der Arbeit nach Hause, trat mit einem verwunderten Blick in den ungewohnten dunklen Eingangsflur und zog seinen durchnässten Mantel aus, den er anschließend an die Garderobe hing. Kein Licht; im Flur oder in der Küche, im Ess- oder Wohnzimmer, nirgendwo auch nur die geringste Lichtquelle. Wo waren sie? Wo war seine Frau und das Kind? Jedes Zimmer durchsuchte er, fand aber nichts als Staub. Die Uhr schlug zum achten Mal, normalerweise schaute sie zu dieser Uhrzeit Fernsehen oder ging nochmal ins Kinderzimmer, um ihrem Sohn eine Gutenachtgeschichte vorzulesen. Wo steckte sie nur? Er machte sich große Sorgen. In ihrem labilen Zustand war alles möglich. Er spürte die plötzlich eingetretene Gefahr. Hastig rannte er aus dem Haus zum Auto. Er fuhr zunächst den Weg ab, den seine Frau jeden Tag zum Spielplatz ging. Fehlanzeige. Auch hier keine Spur von ihr oder dem Kind. Danach fuhr er in die Innenstadt, anschließend zur Kirche und zum Büro, wo seine Frau zuletzt gearbeitet hatte. Keine Spur, keine Spur von ihr oder dem Kind. Er stand kurz vor der Resignation, als nächstes hätte er die Polizei kontaktiert, wenn er nicht den Umweg über die städtische Brücke gefahren wäre, wo er seine Frau und das Kind trotz des starken Regenfalls lokalisieren konnte. Er trat aufs Gaspedal, bremste wenige Meter vor ihnen ab und stieg aus dem Auto. Bevor er sich allerdings ihnen nähern konnte, ging seine Frau mit ihrem Sohn auf dem Arm gefährlich nah an die Brüstung der Brücke.

»Verschwinde«, sagte sie »du ruinierst alles.« Sie hielt dabei ihren Sohn über die Brüstung. Das Kind gab weder Laute von sich, noch geriert es in Panik. Ihr Mann trat näher und sagte:»Sei doch vernünftig. Hör auf mit dem Spiel. Ich bitte dich, komm zur mir, bevor noch etwas Schlimmes passiert.« Sie ignorierte ihren Mann und sagte zu ihrem Sohn:»Ein Geschenk Gottes, du bist ein Geschenk Gottes, dass du das nie vergisst!« Geschmeichelt wendete er sich von seiner Mutter ab, spannte seine Flügel und flog davon. Sie sprang hinter her, erreichte ihn aber nicht, denn sie hatte keine Flügel.

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 11.06.2018. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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