Heinz-Walter Hoetter

Die Geschichte von Freddy Jordan

„Das Böse ist real und mitten unter uns.“


***
 

Schwarze, tief hängende, dicke Wolken waren am Himmel aufgezogen. Ein plötzlicher Sturm setzte ein und dann regnete es in Strömen.

Mr. Freddy Jordan fuhr mit einem geliehenen Aston Martin Virage über eine abgelegene Landstraße im Norden Englands und dachte während der Fahrt bereits an seinen nächsten tödlichen Auftrag, der ihm bestimmt wieder ein stattliches Sümmchen einbringen würde.

Freddy war ein sogenannter Auftragskiller, der gegen Geld tötete und dabei keine einzigen Spuren hinterließ. Das war seine Spezialität. Sein mörderisches Geschäft lief zurzeit besonders gut, weil er international tätig war. Deshalb kam er auch viel herum. Mal war er hier, mal war er dort. Und so war sein nächstes Ziel ein abtrünniger Drogenlieferant, der eine bekannte italienische Verbrecherorganisation um viel Geld gebracht hatte. Der Kerl lebte jetzt in Spanien, genauer gesagt in Madrid und hielt sich irgendwo im Untergrund der Großstadt versteckt. Aber ich werde ihn finden und dann kurzen Prozess mit ihm machen, sinnierte Freddy so vor sich hin und verzog dabei seinen schmalen Mund zu einem bösartigen, überlegenen Grinsen.

Rasse und Hautfarbe spielten bei ihm in diesem Geschäft mit dem Tod überhaupt keine Rolle. Freddy liquidierte jeden, wenn nur das Geld stimmte. Seine geheimen Auftraggeber kannte er nicht, er bekam sie auch nie zu Gesicht. Aber wenn er seine „Arbeit“ jedes Mal erfolgreich abgeschlossen hatte, floss danach immer reichlich Geld auf sein geheimes Konto in der Schweiz, wo mittlerweile mehr als eine Million Schweizer Franken deponiert waren, einen Teil davon in sicherem Gold. Das angehäufte Vermögen war sozusagen sein Altersruhegeld, denn irgendwann würde auch er, Freddy Jordan, in diesem gnadenlosen Geschäft altersbedingt nicht mehr mitmischen können. Das war für ihn jetzt schon absehbar. Irgendein anderer würde dann seinen Platz einnehmen und, genauso wie er, kaltblütig töten und gut daran verdienen.

Noch aber war Freddy fit wie ein Turnschuh und ein erstklassiger Killer, der sein Handwerk verstand. Wie ein einsamer Wolf schlich er herum, immer auf der Jagd nach einem neuen Opfer.

Noch vor weniger als einer Stunden musste ein britischer Geschäftsmann dran glauben, der bei einem äußerst lukrativen Waffengeschäft in Lateinamerika heimlich für sich mehr als zwei Millionen Dollar abgezweigt hatte und wohl der irrigen Annahme verfallen war, dass das die Bosse der internationalen Kriegswaffenmafia einfach so durchgehen lassen würden, für die er den lukrativen Deal erledigt hatte. Fehlanzeige! Der Betrug flog auf. Der Typ wusste genau, was ihm nun blühte, trat schließlich die Flucht an und setzte sich mit dem unterschlagenen Geld nach Nordengland ab, wo er in einer einsamen Gegend untergetaucht war. Hier glaubte er sich in Sicherheit. Wahrscheinlich lebten dort entweder Mitglieder seiner Familie oder irgendwelche alten Freunde, die ihm Unterschlupf gewährten. Doch Freddy machte ihn schnell ausfindig, weil er eben über den Jagdinstinkt eines einsamen Wolfes verfügte, der sein Opfer so lange verfolgte, bis er es schließlich zur Strecke gebracht hatte. Außerdem ging er akribisch jeder noch so kleinen Spur nach. Seine sprichwörtliche Geduld schien dabei grenzenlos zu sein. Manchmal verfolgte er die anvisierte Zielperson heimlich mehrere Wochen und Monate lang, um dann bei einer günstigen Gelegenheit tödlich zuzuschlagen. Freddy kannte keine Gnade, auch dann nicht, wenn einige seiner Delinquenten flehentlich um ihr Leben bettelten. Menschliche Gefühle konnte er sich in solchen Momenten der Hinrichtung nicht leisten, also konzentrierte er sich auf einen gnadenvollen, schnellen Tod und schoss seine Opfer meistens in den Kopf. Das war die sicherste Methode.

Wie gesagt, für jeden seiner „Kunden“ kam mal der Tag der Abrechnung – auch für diesen vornehmen britischen Geschäftsmann, der offensichtlich ein Doppelleben geführt hatte. Nach außen hin trat er stets unscheinbar und bescheiden auf, doch in Wirklichkeit gehörte er einer global agierenden Kriegswaffenmafia an, die besonders zu diktatorisch regierten Ländern überall auf der Welt gute Kontakte unterhielt, mit denen sie ihre dunklen Geschäfte machten.

Freddy hatte den Kerl von hinten in den Kopf geschossen, als dieser Bastard gerade entspannt in der Badewanne lag und ein obszönes Lied vor sich hin sang. Natürlich benutzte er als Killer dazu eine Schall gedämpfte Schusswaffe, eine Beretta M9, die er stets bei sich trug. Alles ging dann sehr schnell. Freddy war eben ein abgebrühter Profi, der zielstrebig und rücksichtslos vorging. Dann verstaute er den Toten fein säuberlich in einen strapazierfähigen Leichensack mit Reißverschluss, beschwerte ihn mit einem mehreren Kilo schweren Felsbrocken und entsorgte alles in einem alten, stillgelegten Tiefbrunnen, der sich auf dem total verwilderten Gelände eines verfallenen Sägewerkes befand, das weit draußen vor der Stadt innerhalb eines abgelegenen Waldgebietes lag. Kein normaler Mensch würde sich hierhin verirren und ausgerechnet an diesem Ort nach irgendwelchen Leichen suchen.

Zwei seiner Opfer verwesten bereits seit mehreren Jahren schon dort unten in der schaurigen Dunkelheit des nasskalten Brunnens. Mit dieser Leiche waren es mittlerweile drei. Ich werde mir wohl bald ein neues Plätzchen für meine heimgegangenen Freunde suchen müssen, dachte Freddy so für sich und schaute dabei angestrengt nach vorne auf die Fahrbahn, denn der Regen prasselte immer heftiger auf die Windschutzscheibe des Aston Martins, sodass er die Taktrate der unermüdlich arbeitenden Scheibenwischer noch höher einstellen musste, um überhaupt etwas sehen zu können.

Wegen des immer stärker werdenden Unwetters fuhr Freddy Jordan schon eine ganze Weile mit verminderter Geschwindigkeit auf dieser einsamen Landstraße dahin. Tatsächlich wurde die Sicht nach vorne von Minute zu Minute schlechter. Dabei wollte er so schnell wie möglich zurück in die Stadt, wo er sich in einem schäbigen Hotel ein kleines Zimmer gemietet hatte. Am nächsten Tag beabsichtigte er planmäßig wieder zurück nach London zu fahren, um von dort aus nach Madrid zu fliegen.

Draußen wurde es allerdings immer düsterer. Der schwarzgraue, Wolken behangene Himmel sah aus, als wolle die Welt jeden Moment untergehen. Auch der Regen nahm noch einmal etwas an Heftigkeit zu. Die Scheibenwischer des Aston Martins liefen auf Hochtouren. Wieder und wieder zuckten hier und da grelle Blitze aus der brodelnden Wolkendecke hervor, gefolgt von dumpf grollenden Donnerschlägen, die sich irgendwo am fernen Horizont grummelnd verloren.

Zufällig schaute Mr. Freddy Jordan in den Rückspiegel, weil er einen diffusen Lichtschein bemerkt hatte.

Da! Ganz unerwartet tauchten hinter seinem Aston Martin auf einmal die Scheinwerfer eines anderen Fahrzeuges auf, das rasend schnell näher kam.

Trotz des pausenlosen Starkregens und der gefährlich nassen Straße schoss wenige Augenblicke später ein völlig abgedunkelter, unheimlich aussehender, schwarzer Wagen mit hoher Geschwindigkeit an ihm vorbei. Das Wasser der großen Pfützen auf der alten Landstraße spritzte nach allen Seiten und ergoss sich Fontänen artig über die Front- und Seitenscheiben seines noblen Leihwagens.

Freddy fluchte wie ein Besenbinder, konnte aber gerade noch erkennen, dass es sich um einen schwarzen Leichenwagen handelte, auf dessen abgedunkelter Heckscheibe ein großes weißes Kreuz prangte. Nur wenige Augenblicke später schluckte eine dichte Regenwand das davon brausende Fahrzeug. Bald konnte er auch die grellen, rot leuchtenden Rücklichter nicht mehr zu sehen.

Keine zehn Minuten später stand der gleiche, unheimlich aussehende Leichenwagen jedoch plötzlich und unerwartet vor ihm mitten auf der Landstraße und schien wohl irgendeinen Defekt zu haben. Mr. Jordan trat schlagartig auf die Bremse, ließ den Aston Martin noch ein paar Meter ausrollen und stoppte ihn schließlich ganz. Etwas angespannt und mit leicht zugekniffenen Augen blickte Freddy angestrengt nach vorne durch den prasselnden Dauerregen. Offenbar hatte der Fahrer des liegengebliebenen Fahrzeuges schon auf ihn gewartet, denn als er den Aston Martin sah, rannte er trotz des Unwetters ohne zu zögern auf ihn zu und klopfte nur wenige Sekunden später mit dem Handrücken ziemlich hart an das geschlossene Seitenfenster der Fahrerseite und fing an zu reden.

Freddy ließ vorsichtshalber seine rechte Hand unauffällig vom Steuer gleiten und griff nach seiner Beretta M9, die links an seinem Körper in einem rötlich-braunen Halfter steckte. Er wartete ein paar Sekunden, ließ dann aber doch die Fensterscheibe elektrisch herunter. In der nächsten Sekunde erschrak er leicht, als er das Gesicht des Mannes sah. Die dunklen Augenhöhlen lagen tief, die Haut war aschgrau und von tiefen, markanten Falten durchzogen. Sein Gebiss war voller hässlicher Zahnlücken und die kräftigen Backenknochen standen auffällig weit hervor. Der stechende Blick seiner schwarzen Augen fixierten Freddy wie die eines Beute jagenden Adlers. Er konnte sich des komischen Eindrucks nicht erwehren, dass sie nach einen möglichen Weg ins Innere seines Bewusstseins suchten, um es ausforschen zu können. Für einen kurzen Augenblick schaute Freddy deshalb woanders hin. Doch dann riss er sich schließlich zusammen und sprach den Fremden mit kaltblütiger Gelassenheit an.

„Entschuldigen Sie bitte, aber ich habe nicht verstanden, was Sie gerade zu mir gesagt haben. Ich musste erst die Scheibe ganz runter lassen, um Sie richtig verstehen zu können. Was ist mit Ihrem Wagen? Warum steht er mitten auf der Straße? Ich hätte ihn fast übersehen. Die Sicht ist im Augenblick auch nicht besonders gut. Der starke Regen wirkt wie eine einzige Wasserwand. Sie sollten das Fahrzeug lieber an den sicheren Straßenrand schieben und vorschriftsmäßig absichern. Wenn Sie nicht alleine zurecht kommen sollten, helfe ich Ihnen gerne“, sagte Freddy mit lauter, deutlicher Stimme.

„Es freut mich sehr, dass Sie mir helfen wollen. Das ist wirklich überaus nett von Ihnen. Ihre Hilfe nehme ich gerne in Anspruch. Nun ja, der Motor ist ganz plötzlich ausgegangen und springt jetzt nicht mehr an. Ich habe schon mehrere Startversuche hintereinander unternommen. Beim letzten Versuch gab es dann plötzlich irgendwo einen Kurzschluss unter der Motorhaube und seitdem geht überhaupt nichts mehr. Ich glaube, der Zündverteiler ist durchgeschmort. Jetzt steht die Karre mitten auf der Landstraße, und ich im strömenden Regen. Eine unangenehme Situation für mich, und eine gefährliche noch dazu. Deshalb möchte ich Sie ja auch gerne darum bitten, ob Sie mich eventuell mit Ihrem Wagen bis zum nah gelegenen Friedhof abschleppen können. Würden Sie das machen? Er liegt vielleicht fünfhundert Meter von hier entfernt – mehr nicht. Ich muss dort nämlich dringend einen Verstorbenen abliefern und ihn in der hiesigen Aussegnungshalle aufbahren. Morgen findet die Beerdigung bereits um acht Uhr in aller Herrgottsfrühe statt. Sobald ich den Verstorbenen versorgt habe, wäre es außerdem natürlich eine großzügige Geste von Ihnen, wenn Sie mich mit in die Stadt nehmen könnten. Ich bezahlte Sie auch dafür. Den Leichenwagen lasse ich einfach auf dem Friedhofsparkplatz stehen. Ich werde ihn zu einem späteren Zeitpunkt abholen, wenn das Wetter wieder besser geworden ist. Ach ja, da wäre noch etwas, worum ich sie bitten müsste. Ich weiß nicht, ob ich Sie das überhaupt fragen soll. Aber ich tue es trotzdem mal. Würde es Ihnen vielleicht etwas ausmachen, wenn wir den Sarg zusammen bis in die Aussegnungshalle tragen? Wissen Sie, vier Hände tun sich leichter als zwei. Außerdem geht es schneller“, erklärte der Bestatter mit freundlicher Stimme, der sich plötzlich an die Stirn fasste. „Du meine Güte, ich habe mich ja noch nicht einmal bei Ihnen vorgestellt. Das kommt davon, wenn man viel redet. Bitte entschuldigen Sie! Mein Name ist übrigens Toni Blake. Ich bin der örtliche Bestattungsunternehmer. Es gibt sonst keinen außer mir hier in der ganzen Gegend. Ich arbeite sozusagen konkurrenzlos. So, ich hoffe, dass Sie jetzt keine Angst mehr vor mir haben werden. Leider mögen mich die meisten Leute nicht allzu sehr, weil ich eben mit toten Menschen zu tun habe. Mein Äußeres sieht auch nicht gerade überzeugend aus. Passt gut zu meinem Beruf, wie manche behaupten. Einige fürchten sich sogar vor mir, obwohl sie sich meiner Dienste stets gerne bedienen. Ist das nicht ein Widerspruch? Ich werde einfach nicht schlau daraus. Aber was soll man machen? Die Lebenden und die Toten gehören eben zwei verschiedene Welten an, und ich bewege mich zwischen diesen beiden Welten hin und her“, fuhr der Bestatter mit leicht resignierendem Ton in der Stimme fort, blickte dabei sein Gegenüber im Auto irgendwie ratlos an und machte schließlich eine Redepause.

Freddy nutzte die Gelegenheit, um sich auch bei Toni Blake vorzustellen.

„Ich heiße übrigens Freddy Jordan und arbeite für eine internationale Organisation. Ich bin hier eigentlich nur auf der Durchreise. Mein Arbeitsplatz ist sozusagen die ganze Welt. – Aber kommen wir zur Sache, Mr. Blake. Nun, wieso sollte ich vor Ihnen Angst haben? Das ist ja geradezu lächerlich. Wissen Sie, vor Leichen habe ich grundsätzlich keine Angst. Die können einem ja sowie nichts mehr tun – oder? Da sind die Lebenden oft viel gefährlicher als die Toten“, sagte Freddy zu dem Bestatter und setzte dabei ein breites Grinsen auf. Dann sprach er weiter. „Natürlich werde ich Ihnen helfen. Das ist doch klar, Mr. Blake. Wir tragen den Sarg zusammen in die Aussegnungshalle, und damit ist die Sache erledigt. Sie müssen mich dafür auch nicht bezahlen. Anschließend fahren wir zusammen in die Stadt und ich bringe Sie kostenlos bis nach Hause. – Aber zuerst muss ihr Leichenwagen etwa einen Meter zur Seite geschoben werden, damit ich besser vorbei komme. Dann setze ich den Aston Martin soweit zurück, dass das Abschleppseil ohne Schwierigkeiten hinten angebracht werden kann. Schaffen Sie das alleine oder soll ich Ihnen dabei helfen? Eigentlich möchte ich nämlich nicht aussteigen und unbedingt so nass werden wie Sie.“

„Ehrlich gesagt, Mr. Jordan, ich freue mich wirklich riesig darüber, dass Sie meinen defekten Wagen abschleppen wollen. Da habe ich ja noch mal wirklich richtiges Glück gehabt. Wären Sie mir nicht begegnet, hätte ich in der Tat ein echtes Problem, weil ich dummerweise mein Handy im Büro liegen gelassen habe. – Das Abschleppseil mache ich natürlich selbst dran. Das ist überhaupt kein Problem für mich. Bleiben Sie nur in Ihrem Fahrzeug sitzen. Ich bin ja sowieso schon bis auf die Knochen durchnässt. Wenn ich fertig bin, gebe ich Ihnen ein Zeichen. Vorsichtshalber sollten wir die Warnblinkanlagen an beiden Fahrzeugen einschalten“, erklärte Toni Blake, ging zum Leichenwagen hinüber und kramte unterm Beifahrersitz ein dickes Abschleppseil hervor. Keine zehn Minuten später war alles erledigt und für den bevorstehenden Abschleppvorgang vorbereitet. Als Mr. Blake hinterm Steuer saß, gab er seinem Vordermann ein klares Handzeichen um sich in Bewegung zu setzen. Langsam und vorsichtig fuhr der Aston Martin an. Das Abschleppseil straffte sich, und die Fahrt konnte losgehen.

Etwas später erreichten sie endlich den kleinen Friedhof, der am Dorfeingang gleich neben der Straße lag. Der Parkplatz vor der hohen Friedhofsmauer war relativ großzügig angelegt. Ein schmiedeeisernes Tor bildete den Eingang zum Friedhof. Direkt dahinter führte ein breiter Plattenweg geradewegs bis zur Aussegnungshalle.

Der Regen ließ einfach nicht nach. Wieder fuhr ein greller Blitz vom tobenden Himmel herab, erhellte für den Bruchteil einer Sekunde das einsam daliegende Friedhofsgelände, wobei die gespenstisch aussehenden Steindenkmäler kurzzeitig aus ihrer beklemmenden Dunkelheit gerissen wurden und wie erstarrte Gestalten aussahen.

Langsam steuerte Freddy den Aston Martin auf den breiten Friedhofsparkplatz und machte erst Halt, als Mr. Blake ihn per Handzeichen dazu aufforderte, den Wagen zu stoppen. Der Leichenwagen stand jetzt genau richtig. Das Heck befand sich in etwa auf Höhe des schmiedeeisernen Tores, wo gleich dahinter der breite Plattenweg begann.

Freddy sah im Rückspiegel schemenhaft, wie der Bestatter aus dem Leichenwagen stieg und mit einem schweren Schlüsselbund hinüber zum Eingang des Friedhofes lief, um das Tor aufzusperren. Ein paar Minuten später ging das Licht in der kleinen Aussegnungshalle an. Kurz danach tauchte Mr. Blake wieder bei Freddy auf, der die ganze Zeit in seinem Auto sitzen geblieben war.

„Hallo Mr. Jordan! Ich habe alles vorbereitet. Wir müssen nur noch den Sarg rüber tragen. Steht er erst einmal in der Aussegnungshalle, dann dauert es nicht mehr lange und wir können endlich die Fahrt in die Stadt fortsetzen. Ich habe Ihnen sicherheitshalber mal ein paar feste Arbeitshandschuhe mitgebracht, die Sie besser anziehen sollten. Sie könnten sich wohlmöglich beim Tragen noch am scharfkantigen Holz des Sarges verletzen, was ich natürlich vermeiden möchte. Außerdem habe ich einen alten Regenponcho gefunden. Er sieht zwar nicht schön aus, aber damit werden sie wenigstens nicht nass“, erklärte Mr. Blake und reichte Freddy das ganze Zeug durch das geöffnete Seitenfenster des Aston Martins. Der nahm alles dankend entgegen, stieg aus und streifte sich den gummierten Poncho über. Dann zog er sich die Handschuhe an und eine Weile später trugen die beiden Männer den wuchtigen Eichensarg durch den strömenden Regen hinüber zur hell erleuchteten Aussegnungshalle des kleinen Dorffriedhofes.

***

Die beiden Männer betraten mit dem schweren Sarg die kalte Aussegnungshalle und setzten ihn auf einen bereit gestellten Sargwagen ab. Freddy befand sich oben am Kopf des Sarges mit dem Rücken zur Wand. Seine nassen Haare hingen ihm bis in die Stirn runter und trotz seiner guten Kondition war er ein bisschen aus der Puste gekommen. Dann geschah etwas, womit er nie gerechnet hätte.

Plötzlich ging hinter ihm knarrend die Tür einer kleinen Abstellkammer auf, wo offenbar das Werkzeug des Grabmachers untergebracht war. Freddy drehte sich etwas verdutzt um und erschrak sogleich. Vor ihm stand auf einmal, wie aus dem Nichts kommend, ein Hüne von Mann mit einer doppelläufigen Schrotflinte, die er direkt auf seinen Kopf gerichtet hatte.

Instinktiv griff er nach seiner Beretta, was offensichtlich jedoch in dieser Situation keinen Sinn mehr machte. Der Riese vor ihm drückte nämlich drohend den Doppellauf der Schrotflinte noch im gleichen Augenblick an Freddys nasse Stirn und schüttelte vielsagend den Kopf.

„Das würde ich an Ihrer Stelle nicht tun, Mr. Jordan. Mein Bruder hat einen überaus lockeren Finger. Sie sollten sich deshalb lieber nicht bewegen, sonst drückt er ab“, warnte ihn eine scharfe Stimme, die von Mr. Blake kam.

„Ist das der Dank für meine Hilfsbereitschaft, Mr. Blake? Was soll eigentlich das ganze Spielchen hier? Was haben Sie vor? Klären Sie mich auf! Ich bin gespannt darauf, was Sie mir zu erzählen haben“, presste Freddy zynisch aus sich heraus. Seine Stimme klang dabei etwas gereizt.

„Das wollen Sie wirklich wissen, Mr. Jordan?“ fragte Mr. Blake, der plötzlich eine dicke Spritze mit einer langen Nadel in der Hand hielt und damit demonstrativ herumfuchtelte. – „Na gut, ich fange mal an und werde mit der Geschichte genau da beginnen, nachdem mein Bruder Rudolf von Ihnen hinterrücks erschossen worden ist, noch dazu im Badezimmer meiner eigenen Wohnung. Und ich dachte die ganze Zeit, dass er in diesem abgelegenen Haus, weit außerhalb der Stadt, sicher sei. Na ja, wie auch immer. – Ich war gerade auf dem Weg zu ihm, weil ich mir Sorgen um ihn gemacht habe. Wir sprachen vor seinem schrecklich Tod noch am Telefon miteinander. Er sagte mir, dass er so ein komisches Gefühl habe und wohl von jemanden seit einiger Zeit beobachtet werde. Ich wollte ihm zuerst nicht glauben, doch dann entschloss ich mich dazu, die Sache zu überprüfen. Leider kam ich zu spät. Ich konnte gerade noch beobachten, wie Sie mit der Leiche meines Bruders aus dem Haus kamen, sie in den Kofferraum warfen und damit zum verlassenen Sägewerk fuhren. Alles andere kennen sie ja selbst, Mr. Jordan. Als das Unwetter kurz darauf aufzog und es heftig zu regnen begann, kam mir plötzlich eine Idee. Ich raste mit dem Leichenwagen hinter Ihnen her und überholte Sie auf der regennassen Landstraße absichtlich damit, obwohl es bei diesem Wetter sehr riskant war. Aber ich bin ein guter Autofahrer. Als ich weit genug von Ihnen entfernt war, blieb ich kurz vor dem Dorf stehen und tat so, als sei mein Fahrzeug durch einen Defekt liegen geblieben. Alles nur fingiert, Mr. Jordan. Ich wusste genau, dass Sie kommen würden und wartete geduldig ab. Keine zehn Minuten später waren Sie da. Mein Plan ging vollends auf, als ich Sie dazu überreden konnte, mein Fahrzeug abzuschleppen und Sie sich dazu bereit erklärten, mit mir zusammen den Sarg in die Aussegnungshalle zu tragen. Wissen Sie, Mr. Jordan, wir sind, ach was, wir waren drei Brüder und derjenige, der jetzt hinter Ihnen steht heißt Georg, wohnt in diesem Dorf und ist der Totengräber hier. Ich schilderte ihm per Handy kurz was geschehen war, und wir verabredeten uns schließlich in der Aussegnungshalle, um dort unseren Plan zum Abschluss zu bringen. Er wartete auf mich im Abstellraum, wo sein Grabmacherwerkzeug untergebracht ist und schaute heimlich von der Seite aus durchs Fenster. Sie konnten ihn nicht sehen, weil sie rückwärts die Aussegnungshalle betreten mussten. Auch das war von mir so beabsichtigt. Auf ein unauffälliges Zeichen hin von mir kam er raus. Ich muss schon sagen: Mein Plan hat echt gut geklappt, Mr. Jordan. Und jetzt kommt das Finale, sozusagen das Schlussstück, das besonders für Sie wohl sehr aufregend sein wird. Wir werden Sie nämlich lebendig begraben, Mr. Jordan. Das Grab ist übrigens schon offen und so tief ausgehoben, dass locker zwei Särge da rein passen. Sie kommen zuerst runter, dann schüttet mein Bruder Georg Erde oben drauf, bis ihr Sarg nicht mehr zu sehen ist. Morgen früh findet dann ganz normal, wie geplant, die richtige Beerdigung statt. Keiner wird vermuten, dass in dem Grab noch eine zweite Leiche liegt. Niemand weiß etwas davon. Es wird auch nie einer etwas davon erfahren, weil Georg sprichwörtlich schweigen kann wie ein Grab. Er will nur seinen Bruder rächen, den Sie so brutal erschossen haben, Mr. Jordan. Mehr nicht. Dafür tut er alles.“

Während Mr. Blake noch redete, trat er plötzlich an Freddy heran, stach blitzartig mit der Spritze zu und trieb die Nadel tief in seinen Hals. Der Auftragskiller wollte sich noch verzweifelt dagegen wehren, sackte aber Sekunden später kraftlos zu Boden und konnte sich schon bald keinen Zentimeter mehr rühren.

„Ach Mr. Jordan! Das hat jetzt auch keinen Zweck mehr. Die Muskulatur Ihres gesamten Körpers reagiert nicht mehr auf Ihren freien Willen. Sie können sich weder bewegen noch können Sie schreien, aber das Hören und Sehen bleibt Ihnen erhalten. Sie kriegen alles klar und deutlich mit. Ich habe Ihnen ein Serum verabreicht, das zu einer vorüber gehenden Lähmung führt, bis endlich am Ende der erlösende Tod eintritt, weil Sie da unten, 2,50 Meter unter der Erde, im Sarg ersticken werden. Das kann übrigens drei oder vier Stunden dauern, bis es schließlich soweit ist. Ein langsamer Tod steht Ihnen bevor, und das bei vollem Bewusstsein. Währenddessen können Sie sich ja in Ihrem Grab da unten Gedanken darüber machen, wie viele Menschen Sie schon gegen Geld getötet haben und wie viel Leid das bei den Hinterbliebenen verursacht hat. Bestimmt werden Sie für Ihre schrecklichen Taten in der Hölle schmoren, was ich persönlich nur als überaus gerecht empfinde. – So, und nun wünsche ich Ihnen noch eine angenehme Verwesung, Mr. Jordan!“

Mr. Blake gab seinem Bruder ein Handzeichen, dass er den auf dem Boden liegenden Mr. Jordan in einen bereit gestellten Sarg legen sollte, der geöffnet im Nebenraum stand. Der Hüne packte mit beiden Händen zu und schleifte den schlaffen Körper wie eine leichte Gummipuppe hinüber in den Nebenraum, wo er ihn rücklings in den Sarg fallen ließ. Dann trat Mr. Blake noch einmal an den im Sarg liegenden Mr. Jordan heran, dessen Augen weit aufgerissen waren und wie zwei kleine Tennisbälle aus den Augenhöhlen herausquollen.

„Ich weiß, dass Sie mich noch hören können, Mr. Jordan. Wissen Sie, Rudolf war mein jüngster Bruder, und ich habe ihn über alles geliebt. Leider ist er in die falschen Kreise geraten. Aber er wollte ein neues Leben hier bei uns anfangen, und wir hätten ihm dabei geholfen, ich meine Georg und ich. Die zwei Millionen Dollar liegen immer noch auf seinem Konto. Vorsichtshalber hat er mir als ältesten Bruder eine Vollmacht darüber gegeben. Ich kann jederzeit soviel Geld vom Konto abheben wie ich will. Sehen sie, Mr. Jordan, das nenne ich ausgleichende Gerechtigkeit. Mit einem Teil des Geldes werde ich das stillgelegte Sägewerk kaufen und dann meinen kleinen Bruder wieder aus dem Brunnen holen. Wir werden ihn später in unserem Familiengrab in aller Stille beisetzen, so wie es sich gehört. Wir sind anständige Menschen und wissen noch, was Sitte und Moral bedeuten. Komisch ist das schon, nicht wahr? Sie werden zusammen mit ihm auf dem gleichen Friedhof liegen, Mr. Jordan. Das lässt sich jetzt leider nicht mehr ändern. Nun, den Rest des Geldes werden Georg und ich unter unseren Familien aufteilen. Das wird noch eine ganze Menge sein und für den Rest unseres Lebens reichen. – So, jetzt sind aber genug der Worte gesprochen worden. Machen wir endlich den Sarg zu, Georg! Mr. Jordan möchte wohl seiner verdienten Ruhe haben.“

Etwa zehn Minuten später standen Mr. Blake und sein Bruder Georg vor dem offenen Grab gleich hinter der Friedhofskapelle und ließen den Sarg mit Freddy Jordan darin verschwinden. Nachdem sie die Sarggurte geborgen hatten, füllte der Hüne das Grab mit lehmiger Erde soweit auf, bis der Sarg nicht mehr bemerkt werden konnte. Als er mit seiner Arbeit fertig war, schob er nur noch die Laufbretter ordentlich über dem Grab zusammen, räumte sein Werkzeug auf und verabschiedete sich von seinem Bruder Toni. Dann verließ er wortlos den Friedhof ohne sich umzudrehen.

Der Bestattungsunternehmer Toni Blake stand noch ein Weile tief in Gedanken versunken am Grab von Freddy Jordan, der da unten in seinem dunklen, nassen Gefängnis langsam sterben würde. "Du Hurensohn hast es verdient", murmelte er leise vor sich hin, drehte sich um und ging mit schleppenden Schritten zum Ausgang des Friedhofes. Dann sperrte er das schmiedeeiserne Tor ab, ging hinüber zu seinem Leichenwagen und setzte sich hinter das Lenkrad. Dann startete er den Dieselmotor und fuhr los. Wenige Augenblicke später steuerte er den schweren Leichenwagen vom Friedhofsparkplatz direkt auf die einsam vor ihm liegende Landstraße.

Der Regen hatte etwa nachgelassen und das Gewitter war abgezogen. Nur die schwarzen, tief hängenden dicken Wolken waren geblieben. Am fernen Horizont zuckten hin und wieder ein paar Blitze vom nächtlichen Himmel.

Mr. Blake war noch keine fünfhundert Meter weit gefahren, als er plötzlich diesen einsamen Mann im Regenponcho mitten auf der nassen Landstraße stehen sah. Er bewegte sich nicht von der Stelle. Schon wollte Mr. Blake hart auf die Bremse treten, da war die Gestalt auch schon wieder verschwunden.

Dafür glaubte der Bestatter eine bekannte Stimme gehört zu haben, die ihm voller Hass hinterher rief:
„Ich werde dich kriegen, egal wo du bist, Blake!“
 

ENDE


©Heinz-Walter Hoetter

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.06.2018. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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